Wo Dörfer keinen Namen haben

Christian Wellmann hat den neuen Band mit Groll-Geschichten von Erwin Riess gelesen.

Was kommt raus, wenn in Kärnten Gemeinderäte in drei Dörfern beschließen, sich über den Artikel Sieben des Staatsvertrags hinwegzusetzen und überhaupt keine Ortstafeln mehr aufstellen, da die Bevölkerung zu mehr als zehn Prozent slowenischsprachig ist? Richtig: eine bissige Story von Herrn Groll, dem unermüdlichen Beobachter und Historiker aus Leidenschaft von Erwin Riess, zu finden in seiner neuesten Erzählung »Herr Groll auf Reisen«, erschienen im Otto Müller Verlag, Salzburg-Wien, 2008. Oblast an der Schmurgel ist ein solcher Ort, der des weiteren weder Straßennamen noch Hausnummern kennt. Diese Tatsache dürfte einen gewissen Herrn Bono Vox freuen. Wird ihm doch von vielen Seiten vorgeworfen, sein Song »Where the Streets have no name« sei Nonsens, denn ohne Namen seien Straßen ja keine solchen. Diese weißen Flecken auf der Landkarte können demnach auch als »Anti-Potemkinsche Dörfer« des verschiedenen Landesvaters gesehen werden: Jörgsche Dörfer, sozusagen. Man verzichtet auf Kulissen und geografische Verankerung und lässt die Orte gekonnt verschwinden.
Bei der Buchpräsentation am 5. 11. in der Stadtwerkstatt bereitete Erwin Riess mit Witz und Ironie ein äußerst kurzweiliges Vergnügen, das jedoch immer den Mittelfinger auf die Wunden der Zeit drückt und der Ignoranz von Leuten, die den schmeichelnden Zeigefinger auf Menschen mit Handikaps legen, selbigen genüsslich Richtung Handrücken umbiegt. Dieser Herr Groll kurvt mit seinem treuen Begleiter Joseph, dem Rollstuhl – als Rosinante, zwar mit anderer Aufgabenverteilung als Don Quijotes Gaul, doch gleichfalls unerlässlicher Begleiter – mit einem ruhigen, feinsinnigen Blick durch die Weltkulisse. Geschäfte führen die beiden an unterschiedlichste Orte wie Krems an der Donau, Piestany, Lissabon, Guggenheim-Museum, Piräus, Latchi und überall dort hin, wo Geschichten auf der Straße rumliegen und darauf warten erzählt zu werden. Er durchquert die Kontinente mit einem beweglichen Geist, wobei dann immer in österreichischen Gefilden die schaurigsten und obskursten Geschichten ans Tageslicht kommen.
Durch den Blickwinkel, den Groll von Joseph auf das Treiben um ihn wirft, bleibt mehr Zeit für sezierende Beobachtungen, die sozusagen mit Makromodus arbeiten – Hektik vermeidend und mit dunkelstem Humor ausgestattet: »Tatsächlich reist Groll gemächlich, und sein Blick auf die Dinge, die er dabei sieht (»Wer im Rollstuhl sitzt, schaut der Wirklichkeit unter den Rock«), ist präzis und unerschrocken«, so Erwin Riess zur Versorgerin. Alltagsbetrachtungen, bei denen es scheint, dass die Zeit stehen bleibt und die Masse an einem gemächlich vorbeizieht – im Rollstuhl durch gelähmte Zeiten, wie der Untertitel eines Groll-Romans nahe legt. Groll zieht nun zumeist gar nicht zornig, also weniger seinem Nachnamen entsprechend, durch zerklüftete Menschenabgründe und lässt seine LeserInnenschaft an unzähligen Geschichten und Spurensuchen teilnehmen. Zornig wird er jedoch, wenn sich die ersten Worte des unbekannten Gegenübers um sein Handikap drehen und wie ihm dies passiert sei. Er bekommt es daher oft mit Leuten zu tun, die ihm gerade deswegen ihre Leidensgeschichten um den Hals wickeln, da er ja ein offenes Ohr dafür haben müsse. Absolution suchend und ihr eigenes Leid dann sozusagen auf ihm abladend. Leute nehmen sich Zeit, ihm Geschichten zu erzählen, ob er nun will oder nicht. Manchmal platzt ihm dann der Kragen: »Viele Jahre hindurch war er bei Sigi Maron in die Schule gegangen, und nun rief er die Juwelen aus dessen Schimpfwortfundus ab.«

Neben den abenteuerlichen Reiseimpressionen berichtet er auch von den vielen Schwierigkeiten, die das Leben mit Joseph so mit sich bringen: Von Irrfahrten im Großstadtlabyrinth, auf der Suche nach einer rollstuhlgerechten Toilette, dem Luftfüllen der Reifen als Tour de Force (7 Bar Luft) oder von einem Soldaten, der ihm in Zypern gleich zweimal das Leben gerettet hat, da sein Rollstuhl nicht zu bremsen war. Aber auch vom Studieren der Fahrtechniken der Kollegen, den Blicken von nicht behinderten Menschen, die ihn schon längst nicht mehr stören oder von palastähnlichen Toiletten bei den Zeugen Jehovas, wo er via Lautsprecher den Gottesdienst verfolgen kann und einem Liebesspiel zweier bedürftiger Seelen beiwohnen darf. Wo andere längst den Hut der Verzweiflung drauf geworfen hätten, wagt der Schifffahrtsexperte erst recht einen genaueren Blick. »Groll würde wahrscheinlich sagen: Es reicht, wenn man hinschaut und vor dem Geschauten nicht davonläuft«, so Erwin Riess. Irgendwie ist dieser Groll auch ein Herr Rossi, der das Glück sucht – nur ohne Tagträume, jedoch über Widrigkeiten der modernen Welt aufklärend. Wenn die Klassen miteinander kämpfen, weiß der autonome Rollstuhlfahrer oft Trost zu spenden. »Es ist gut, wenn die Menschen Fehler machen. So und nicht anders kommt der Fortschritt unter die Menschheit. ... Bringen Sie mir jetzt doch ein Glas Medoc. Diese Erkenntnis muß gefeiert werden.« (Royan, Frankreich – aus: »Herr Groll auf Reisen«)

Der in Wien lebende Autor und politische Essayist (»Publizistische und literarische Versuche«, so die Selbstbeschreibung von Riess) schrieb neben einem Erzählband, zwei Groll-Romanen (»Giordanos Auftrag« und »Der letzte Wunsch des Don Pasquale«), noch Theater- und Prosastücke, wie »Heimatkunde Österreich«. Die Texte von Herrn Groll erscheinen seit 1993 u. a. regelmäßig in mehreren deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften (Konkret, Junge Welt/Berlin, Stimme von und für Minderheiten, Monat/Behindertendachverband ÖAR, Augustin, Versorgerin etc.). Der ORF beauftragte ihn 2007 mit Treatments für zwei Groll-Filme, ein Drehbuch ist angenommen und bezahlt worden. »Ob bei der gegebenen Finanzlage des ORF je ein Film daraus wird, kann derzeit niemand abschätzen. Es gibt Auffassungsunterschiede bezüglich einiger Teile des Drehbuchs, aber das ist bei derartigen Projekten nichts Ungewöhnliches. Einige erfahrene Regisseure und -innen lesen derzeit das Buch. Wir werden sehen... Grundsätzlich ist es so, dass man sich als Autor mit eigenen Stoff einem Großtanker gegenübersieht, dessen Kurs man nicht kennt und auch nicht beeinflussen kann. Ich arbeite derzeit am dritten Groll-Roman und habe Herrn Groll das Versprechen geben müssen, zügig damit fortzufahren und keine Ablenkungen zuzulassen«, so Riess zur Versorgerin.