Nebelmaschinen der Kreativität

Gerald Raunig über creative industries und den kreativen Imperativ.

Als Horkheimer und Adorno Anfang der 1940er Jahre ihren Essay »Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug« als Teil der Dialektik der Aufklärung verfassten, richteten sie sich gegen den wachsenden Einfluss der Unterhaltungsindustrie, gegen die Kommerzialisierung der Kunst und gegen die totalisierende Vereinheitlichung »der Kultur«, vor allem im Land ihrer Emigration, den USA. Ihre skeptische Haltung zu den neuen Medien Rundfunk und Film veranlasste die beiden Autoren dazu, in wortgewaltigem Stil mit kulturpessimistischen Untertönen ein breites Spektrum des kulturellen Feldes mit einem Konzept zu fassen, das in kulturellen Sphären kaum fremder scheinen konnte: Sie bezeichneten die Kultur als Industrie.
Die Thesen Horkheimers und Adornos blieben fast zwei Jahrzehnte lang, auch nach der Übersiedlung nach Europa, ein eher nur im Umkreis des Instituts für Sozialforschung verhandelter Geheimtipp. Im Laufe der 1960er Jahre begann die Wirkungsgeschichte sich jedoch langsam zu entfalten, um sich in der Aktualisierung der Medienkritik in den 1970er Jahren vollends durchzusetzen: Die Dialektik der Aufklärung wurde ein Eckpfeiler der Literatur nicht nur zur Ambivalenz der Aufklärung, sondern auch und vor allem zur rigorosen Zurückweisung einer »Ökonomisierung der Kultur«. Und im kulturellen Feld, in dem nach wie vor die Mythen des Genies, der Originalität und der Autonomie nicht unwesentliche Anknüpfungspunkte darstellen, ist »Industrie« auch heute, 60 Jahre nach der späten Veröffentlichung der Dialektik der Aufklärung nicht viel mehr als ein Schimpfwort. Es fragt sich daher umso mehr, wie es passieren konnte, dass mit einer einfachen Verschiebung vom Singular zum Plural, von Kulturindustrie zu Creative und Cultural Industries, gerade diese Begriffsmarke heute zu so etwas wie einem universellen Heilsversprechen umgedeutet werden konnte – und zwar nicht nur für ein paar PolitikerInnen, sondern auch für viele AkteurInnen des Feldes selbst.
Im kulturpolitischen Zusammenhang liegt die Deutung nahe, dass im Zuge der europaweiten Etablierung des Begriffs Creative Industries in kulturpolitischen Programmen Mittel staatlicher Kunstfinanzierung von der Förderung kritischer Positionen zunehmend zur Förderung von kommerziellen Unternehmen umgewidmet werden sollen. Diese Entwicklung fungiert als Teil eines europaweiten kulturpolitischen Verschiebungs-prozess, der – beginnend mit Tony Blairs Politik schon der 1990er – die staatlich geförderte Kunstproduktion entpolitisieren soll: weg mit den Überresten der kulturellen Produktion als Dissens, als Widerstreit und als Schaffung von Öffentlichkeiten, her mit Kreativindustrie als möglichst reiner Funktion von Ökonomie und Staatsapparaten; von daher auch die begriffliche Bewegung kulturpolitischer Programme von demokratiepolitischen Elementen hin zu Fragen der sozialen Integration und der kreativen Industrie.
Im österreichischen Kontext dürfen wir diesbezüglich auf den Kulturteil des nächsten Regierungsprogramms gespannt sein. Schon in das letzte, gar hastig formulierte Programm der SP-VP-Koalition war nämlich der Begriff der Kreativwirtschaft hineingerutscht, der im letzten Jahrzehnt hauptsächlich durch ÖVP-Kultursprecher und Ex-Kunststaatssekretär Franz Morak geprägt worden war: Die Kreativwirtschaft, fester Bestandteil der Reden und programmatischen Papiere Moraks, sei an der »Schnittstelle von Wirtschaft und Kultur« von besonderer Bedeutung. Vermutlich überhaupt das einzige, was von Moraks Kulturpolitik bleiben wird, verdankt seine Kontinuität also der Aufnahme durch die SPÖ, übrigens nicht nur auf Bundesebene. Bei Morak ging es allerdings jahrelang einfach um den weitgehend misslungenen Versuch, Kunst und Wirtschaft zu verbinden. Und zwar mit dem kaum verhohlenen Ziel, dass Kunst ihrer politischen, kritischen und institutionskritischen Aspekte verlustig gehen und zu einem ökonomischen Instrument umfunktioniert werden sollte. Die Nebelmaschinen der Kreativität _ neben der Kreativwirtschaft die »kreative Klasse«, die »kulturellen Entrepeneurs« und die »Kreativindustrien« _ waren und sind in diesem Prozess maßgebliche Propaganda-Werkzeuge.

Hier lässt sich allerdings trefflich fragen, was die damit angerufenen Subjekte dazu bringt, sich zu kreativen Klassen oder Industrien zugehörig zu fühlen. Man könnte ja meinen, dass sich zumindest im kulturellen Feld niemand findet, der oder die sich diese Labels umhängen würde. Offenbar ist dem allerdings nicht ganz so. Für die Erklärung dieser Paradoxie sind gewisse programmatische Linien der Sozialdemo-kratie jedoch wesentlich einflussreicher als die platt-neoliberalen Versuche von Morak und Konsorten. Emanzipatorische sozialdemokratische Programme der 1970er, die eigentlich auf revolutionäre Konzepte aus den 1920ern zurückgehen, schrieben sich Slogans wie »Kultur für alle« und »Kultur von allen« auf die Fahnen. Diese groß angelegten Ansätze einer »Demokratisierung der Kultur« sollten nicht nur den Zugang der ArbeiterInnen zum bürgerlichen Kulturkonsum ermöglichen, sondern dem Götzendienst hehrer Kunst eine säkularisierte Kulturproduktion entgegenstellen _ so zumindest die Zielvorstellungen mehrerer Generationen sozialistischer und sozialdemokratischer Kulturpolitik des 20. Jahrhunderts. Ihre Konzepte erscheinen nun, nach einem jahrzehntelangen Prozess der Entwicklung von gouvernementalen Kontrollgesellschaften, völlig gewendet. »Kultur für alle«, nicht zuletzt Werbeslogan für ein Wiener Tourismus- und Kulturverwertungsgelände namens Museumsquartier, heißt heute Zwang zur populistisch-spektakulären Forcierung von Quantität und Marketing, und »Kultur von allen« weist in seiner pervertierten Form hin auf eine allumfassende (Selbst-)Verpflichtung zur Kreativität.
Allumfassend meint hier vor allem auch, dass Kreativität nicht mehr nur das kulturelle Feld umfasst, sondern zunehmend auch in alle Teile des biopolitischen Dispositivs ausufert. Denn der »kreative Imperativ« wird nicht nur von Regierungsmitgliedern ausgerufen, sondern auch in Stellenanzeigen und Personalseminaren, im täglichen Arbeitsalltag nicht nur von Intellektuellen, Chefs und jenen Agenturmenschen, die man früher mal »Kreative« hieß. Jobs für alle möglichen Dienstleistungen verlangen heute ebenso nach Kreativität wie solche auf jeglicher Managementebene. Und: im kreativen Imperativ regieren sich die Subjekte einfacher Weise auch noch selbst. Staatsapparate bedürfen nicht mehr der Repression, um Kreativität und Kooperation, Sozialität und Kommunikation grenzenlos produktiv und nutzbar zu machen. Es reicht die bloße Anrufung: Seid kreativ! – und die kreativen Schafe freuen sich, sofern sie nicht gerade vor lauter Druck, Angst und Existenzsorgen kreativitätsunfähig sind. Jeder Mensch ein Künstler, dementsprechend flexibel, spontan und mobil oder selbstausbeuterisch, unabgesichert und vogelfrei soll er/sie auch arbeiten und leben.

Was wäre aber dieser zunehmend allgegenwärtig werdenden Nebelwand der Kreativität entgegenzusetzen? Vielleicht bedarf es einer Kunst, die gerade die Unterbrechung der viel zu gut geölten Flüsse der Kreativität forciert. Eine solche Kunst würde ihre Spielräume nicht nur im kulturellen Feld eröffnen, sondern gegen die Instrumentalisierung der Kreativität und die Prekarisierung in allen Arbeits- und Lebensbereichen mit allen möglichen Mitteln ankämpfen: mit kleinen Akten der Verweigerung, mikropolitischen Interventionen, Sabotage der Informationsflüsse, Kommunikationsguerilla, aber auch im Rahmen von gewerkschaftlichen Erneuerungsbemühungen oder der Euromayday-Bewegung, nicht zuletzt als Bewegung zur Wiederaneignung der Kreativität. Die Ressourcen des kulturellen Felds für diese notwendigerweise neuen Formen eines konstituierenden Widerstands sind nicht gering zu schätzen, solange sie sich als transversale Ströme erweisen, die über die Thematisierung der eigenen Prekarisierung hinausweisen. Das zeigte sich im Widerstand gegen den staatlichen Übernahmeversuch der kurzzeitig politisierten Diagonale durch den glücklosen Sekretär der Kreativwirtschaft ebenso wie in jenem der französischen Intermittents, die sich seit 2003 gegen die Verschärfung des Sozialversicherungsrechts in Frankreich zur Wehr setzen oder in den gerade in Formierung befindlichen Versuchen, die Prekarisierung der KulturproduzentInnen auf der Biennale in Venedig 2009 zu problematisieren …

Gerald Raunig ist Philosoph, arbeitet am eipcp und ist u.a. mit Ulf Wuggenig gemeinsam Herausgeber des 2007 bei Turia + Kant erschienenen Buchs Kritik der Kreativität.