Über das Legalisieren von Geschichte und das Reisen als politische Idee

Didi Neidhart empfiehlt den Besuch von »Speicher« von Michaela Melián im Lentos.

Michaela Melián, seit knapp 30 Jahren als Musikerin bei F.S.K. tätig und mit den Alben »Baden-Baden« (2004) und »Los Angeles« (2007) auch solo erfolgreich, gehört zu jenen Bildenden Künstlerinnen, für die das Thema Kunst und Politik eine permanente Baustelle darstellt. So auch bei der aktuellen Rauminstallation »Speicher«, einem »erlebbaren Erinnerungsraum aus Zeichnungen, Fotografien, Projektionen und Klängen«. Nach dem mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden und dem ARD Online Award 2005 ausgezeichnetem Hörspiel »Föhrenwald« wurde »Speicher« von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste zum »Hörspiel des Jahres 2008« ausgezeichnet.
Zu sehen ab 6. März im Lentos, als Kooperation mit dem Ulmer Museum. Aber Ulm und deren legendäre Hochschule für Gestaltung ist dabei nur eine Fährte.

Sounds & Visions

Die Hochschule für Gestaltung in Ulm wurde 1953 gegründet und war als »Alchemistenküche« (Alexander Kluge) nicht nur ein Brennpunkt ästhetischer Avantgarden. Die Trägerschaft durch die Geschwister-Scholl-Stiftung stand auch für einen explizit politischen, demokratischen Neuanfang im Nachkriegsdeutschland. Neben Design, Architektur, Film, Fotografie wurden auch Kybernetik und elektronische Musik unterrichtet. Das 1959 gegründete und heute im Deutschen Museum München ausgestellte Siemens-Studio für elektronische Musik war zudem eines der ersten rein elektronischen Klang-Studios in der BRD (und das erste überhaupt, dass mit Vocodern experimentierte). Zu den Nutzern gehörten John Cage oder Maurizio Kagel, aber auch die Space-Sounds der »Raumpatrouille Orion« wurden dort generiert. Selbst die Warner Studios kauften Klänge, die bis zum heutigen Tag verwendet werden.
Ironischerweise bedeutete ausgerechnet das Jahr 1968 das Aus für die Ulmer Avantgard-Experimente. Konservativen Politikern war die Hoch-schule schon lange ein Dorn im Auge, aber auch die linke Studentenschaft sah wenig gesellschaftspolitischen Sinn in elektronischer Experimental-kunst. Auch das ein (Sub-)Thema von »Speicher«.
Das primäre Referenztool von »Speicher«, »Varia Vision – Unendliche Fahrt« wurde 1965 von den auf der Hochschule in Ulm unterrichtenden Alexander Kluge (Texte), Edgar Reitz (Filme) und Josef Anton Riedl (Musik) für die im selben Jahr stattfindende Verkehrsausstellung München im Siemens-Studio realisiert. Ausgehend von der Idee ein »Kino für Menschen in Bewegung« (Edgar Reitz) zu generieren, wurde das Thema Reise als begehbare Rauminstallation aus Filmen, mehrkanaliger elektronischer Musik und Sprache dargestellt.

Unterwegs

Sounds aus diesem Studio und dem lange Zeit als verschollen geglaubten »Varia-Vision«-Projekt bilden nun die Grundlage für die zusammen mit F.S.K.-Kollegen Carl Oesterhelt (Tied & Tickled Trio, Carlofashion) entwickelten Klang- und Text-Kompositionen.
Das »Speicher«-Video beginnt und endet mit beinahe mikroskopischen Nahaufnahmen von Nähmaschinenzeichnungen, von Knäuel, Knoten, losen Enden und Linien, die alles mögliche sein können: Teppichmuster, topografisches Relief, Soundwellen. Später abgelöst von einer hypnotischen Fahrt durch eine nächtliche Landschaft mit Schneegestöber. Auch hier verändert sich die Wahrnehmung ständig. Schneeflocken werden zum Funkenflug, dieser wird zum Weltraum-Trip.
Das Motiv des Reisens, Wanderns, des Gefühls des Fremdseins, der Ent-fremdung, der Suche und Sehnsucht nach dem Fremden, dieses »doppelte Leben« (zwischen Wirklichkeit und Einbildung) entfaltete sich entlang von sich permanent durchkreuzenden Diskursen als Mehr- und Vielstimmigkeit unendlicher Potentiale. Schuberts »Winterreise« (»Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus«) und Alexander Kluges Motto »Mit dem Stadtplan von London den Harz durchwandern« (aus »Varia Vision«) treffen auf Texte über Migration, Schleppertum, »Transitwanderer«, Deportation (aber auch auf ornithologische Passagen über die Dismigration von Zugvögeln). Und werden ihrerseits immer wieder durch GPS-Ansagen durchschnitten, die ein gänzlich anderes Reisen (ein kontrolliertes, vorgegebenes) ins Spiel bringen.
Auch das macht »Speicher« klar. Das romantisch Geheimnisvolle, die Lust sich auf etwas Unsicheres einzulassen, kippt immer wieder ins Unheim-liche, verwandelt die winterliche Nachtlandschaften in verwunschene Orte, führt ins Nichts und kommt immer wieder beinahe zum Stillstand (wo dann auch die Musik verschwindet/abbricht).

Politik der Erinnerung

Meliáns »Politik der Erinnerung« ist eine popkulturell wie diskursanalytisch geschulte Bearbeitung von Geschichte und Geographie. Gerade das von ihr immer wieder bearbeitete »Zeitloch BRD« (Jan Verwoert), grob situiert zwischen dem Nationalsozialismus, der RAF und immer wieder um Bernward Vespers 1977 erschienenen Roman »Die Reise« kreisend, das sich in Arbeiten wie »Triangel« (2002), »Straße« (2003), »Föhrenwald« (2005) auftut, ist seit dem Mauerfall immer mehr einem Vergessen qua institutionalisierter Erinnerungskultur ausgesetzt. Meliáns Arbeiten setzen dem das Wiederentdecken von non-konformen Potentialen entgegen, von aus der Geschichte gefallenen Menschen und Utopien (sozialen, politischen, öko-nomischen, technischen, ästhetischen, sexuellen, ethnischen, medialen).
Der ganze, meist mehrjährige Rechercheaufwand dient dabei auch immer einem Nachkorrigieren, Nachjustieren und Neupositionieren der Herangehensweisen zur Herstellung einer Diskurs-Maschine, die ihrerseits Mikro-Diskurse antreibt, eigene Feldforschungen anregt, die ausfranst, überquellt, sich verkompliziert.
Kurz: Kunst als Diskursintensivierung, als permanente Kartografie mit immer neuen Orten, Personen, Begebenheiten, Geschichten, Zeichen, Wegen, Linien und Kreuzungen. Man muss nur den Fäden, Linien, oder Melodien folgen. Vielleicht meint Pop in diesem Zusammenhang ja auch, dass den Fährten hin zu den intendierten Diskursen auch ohne kontextuellem Vorwissen gefolgt werden kann.

Michaela Melián: »Speicher«, 6. März – 2. Juni 2009
Vernissage: 5. März 2009, 19.00 Uhr, Lentos Kunstmuseum Linz
Zur Ausstellung ist ein zweisprachiger Katalog erschienen.