Vom völkischen Konsens in Ungarn

Ein Interview mit Magdalena Marsovszky von Ljiljana Radonic.

Viktor Orbán, Vize-Präsident der Europäischen Volkspartei, wird von seinen konservativen Kollegen um seine Erfolge beneidet; die Abschaffung der Gewaltenteilung, der aggressive Antiziganismus und Antisemitismus werden mehr oder minder stillschweigend hingenommen. Ljiljana Radonic sprach darüber im März 2013 mit Magdalena Marsovszky, die an der Hochschule Fulda über Antizi-ganismus, Ethno-Nationalismus und Antisemitismus lehrt und sich im Villigster Forschungsforum zu Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus e.V. engagiert.

Wie hat sich Ungarn seit dem Zusammenbruch des Ostblocks in Bezug auf die Demokratisierung und den Umgang mit der Vergangenheit entwickelt?

Die Wende war in Ungarn weniger eine demokratische als eine ethno-nationale Wende. Man hat sich sehr darauf gefreut, die ethno-nationale Identität verwirklichen zu können. Auch für die damalige demokratische Opposition ging es im Großen und Ganzen um die nationale Wende, nicht so sehr um Demokratie. Bereits bei den ersten Wahlen ist eine national-konservative Regierung an die Macht gekommen und seitdem konnten die demokratischeren Kräfte diese sich zuspitzende ethno-nationale Entwicklung nicht durchbrechen.
Ein zentraler Punkt der Vergangenheits»bewältigung« war die Eröffnung des Museums Haus des Terrors in Budapest, das eindeutig die nationale Opferrolle in den Vordergrund stellt. Es wurde am Ende der ersten Orbán-Regierung (1998–2002) eröffnet und stellt den Höhepunkt einer vierjährigen völkischen Kulturpolitik dar. Seit der ersten Fidesz-Regie-rung steht die nationale Opferrolle eindeutig im Vordergrund. Nach der Wahlniederlage gegen die Sozialisten 2002 gründete Viktor Orbán die sogenannten Polgári körök – ein loses Netz vermeintlich ziviler Kreise – vermeintlich, weil ihre Strukturen nicht unmittelbar in der Bevölkerung entstanden sind und über die Jahre bis zum Wahlsieg 2010 bewusst vom oppositionellen Fidesz angeführt wurden, aber zum Teil wirklich auf Wunsch der Bevölkerung. Diese »Bürgerkreise« betonen seit 2002 die nationale Opferrolle, argumentieren verschwörungstheoretisch und antisemitisch. Seit 2010 wurden die Bürgerkreise allmählich vom Forum Ziviler Zusammenhalt (CÖF) abgelöst, das im letzten Jahr die riesigen »Friedensmärsche«, also die Sympathiekundgebungen für die Orbán-Regierung organisierte.

Welche einschneidenden Veränderungen hat die Regierung Orbán II gebracht?

Anfang 2012 wurde eine neue Verfassung – Grundgesetz genannt – verabschiedet, in der Ungarn im Grunde nicht mehr als Republik verstanden wird, sondern im völkischen Sinne als Magyarenland. Es wird zwar in einem einzigen Satz erwähnt, dass Ungarn eine Republik sei, aber die Präambel zeigt deutlich, dass die republikanische Idee völlig verschwunden ist. Darin wird Ungarn als nationale Volksgemeinschaft in einem völkischen Sinne verstanden, als Teil eines Europas der Nationen unterschiedlicher Kulturen und Identitäten in einem ethno-pluralistischen, neorassistischen Sinne.
Anfang 2011 trat zuvor schon das neue Mediengesetz in Kraft. Darin wird unter anderem ausgeführt, dass nicht nur Minderheiten, sondern auch die Mehrheit – im Sinne der Volksgemeinschaft – geschützt werden muss. Das ist natürlich ein sehr gefährlicher Satz, der aber kaum jemandem aufgefallen ist. Auf dieser Grundlage wurden bereits zwei oder drei Mal Roma zusätzlich zu einer begangenen Straftat auch noch wegen Volksverhetzung verurteilt, weil sie in ihrer bedrohten, panischen Lage, als die Ungarische Garde aufmarschierte, etwas Ähnliches wie »Ihr Magyaren werdet sterben!« gerufen haben.
Außerdem wurde – während der EU-Ratspräsidentschaft Ungarns – eine neue »Roma-Strategie« verabschiedet, die insinuiert, dass die Roma selbst an ihrer Ausgrenzung schuld sind. Darin steht zwar auch, dass die Sensibilität der Mehrheitsbevölkerung gegenüber Roma erhöht werden soll, aber auf jeden Fall ist das Dokument sehr weit von den Erkenntnissen der Antiziganismus-Forschung entfernt, für die der Antiziganismus eindeutig ein Problem der rassistischen Mehrheitsgesellschaft ist.

Sind Roma in Ungarn heute gefährdeter als 1990 oder 2000? Welche Funktion erfüllt das Feindbild »Zigeuner« im neuen, völkisch nationalistischen Ungarn?

Unbedingt, sie sind viel gefährdeter, da der universalistische Gedanke nicht einmal mehr auf dem Papier existiert und in der neuen Verfassung und dem neuen Mediengesetz die Vorstellung der Magyaren als Volksgemeinschaft dominiert. Der Rassismus ist nicht nur in der Regierung, sondern auch in der Gesellschaft sehr weit verbreitet. Eine Umfrage der Ungarischen Akademie der Wissenschaften kam vor drei oder vier Jahren zu dem Ergebnis, dass eine große Mehrheit der Ungarn Roma gegenüber rassistisch eingestellt ist. Es gibt viele Diskriminierungsformen im Alltag: Zum Beispiel ist die Sozialhilfe daran gekoppelt, dass man gleichzeitig arbeitet. Wenn man länger als drei Monate – etwa wegen Gebrechlichkeit – nicht arbeitet, fällt man durch das soziale Netz und das trifft vor allem Roma, weil sie wegen des starken Antiziganismus nicht angestellt werden oder auch während der Arbeit permanent schikaniert werden. In Dörfern, in denen Jobbik den Bürgermeister stellt, erlaubt man ihnen zunächst, im Wald Holz zu sammeln, doch dann kommt die Polizei und sie werden wegen Diebstahls angezeigt. Wenn Roma mit dem Fahrrad unterwegs sind, angehalten werden und irgendwas mit dem Fahrrad nicht in Ordnung ist, bekommen sie die Höchststrafe, die sie nie im Leben bezahlen können. Wenn ihnen irgendetwas passiert, kommt die Polizei, nimmt aber die Protokolle nicht auf, Beweise werden vernichtet. Der Rassismus ist täglich zu spüren. Während in den letzten beiden Jahren infolge des neuen Staatsbürgerschaftsgesetzes und im Sinne der »Blutsge-meinschaft« (ius sanguinis) über dreihunderttausend außerhalb der Landesgrenzen lebenden Magyaren die ungarische Staatsbürgerschaft erhielten, fielen in der gleichen Zeit etwa vierhundert Tausend der »inneren Feinde«, vornehmlich Roma, aus dem sozialen Netz und erhalten heute überhaupt keine finanzielle Unterstützung mehr. Diese müssen sich auf die Nächstenliebe ihrer Mitmenschen verlassen.

Gibt es vernünftige Initiativen, die die Roma unterstützen?

Es gibt ganz wenige, die universelle Menschenrechte als Motivation für ihr Handeln betrachten, z.B. die methodistische Kirchengemeinde des Pastors Gábor Iványi. Sie unterstützen Obdachlose und Roma, indem sie ein ehemaliges Fabrikgelände in eine beheizte Straße verwandelten. Doch sie mussten letztes Jahr mehrere hundert Menschen wieder auf die Straße setzen, da dieser Gemeinde von der aktuellen Regierung der Kirchenstatus aberkannt wurde, vermutlich weil sie zu viel Sozialarbeit und zu wenig Kirchenarbeit leistet. In Ungarn gibt es die Möglichkeit, ein Prozent der Einkommenssteuer einer wohltätigen Organisation zu spenden und so kamen für diese Gemeinde 40 Millionen Forint zusammen, aber der ungarische Staat hält dieses Geld jetzt wegen des aberkannten Kirchenstatus zurück. Sonst gibt es nur noch wenige kleinere Gruppen, die von diesem universalistischen Grundgedanken ausgehen, aber auch diese werden schikaniert. Es gibt natürlich auch andere Initiativen, für die auch meine Freunde spenden wollten, wie das Soziale Forum, doch das ist eine eindeutig antisemitische Einrichtung, die mit Verschwörungstheorien operiert.
Das ist auch bei Antifa-Gruppen in Ungarn ein großes Problem, die den Faschismus Dimitrovs Theorie entsprechend mit dem internationalen Großkapital in Zusammenhang bringen. Die Feindbilder sind dann Banken, das Kapital und Kapitalisten – was die Antisemitismusforschung als linken Antisemitismus bezeichnet.

Wird der für die Jobbik konstitutive Antisemitismus von Fidesz geteilt? Gibt es Unterschiede?

Die Fidesz-Rhetorik ist eine feinere, während Jobbik alles ausspricht. Fidesz spricht – auch in Bezug auf den Antiziganismus – viel codierter. Von führenden Fidesz-Kreisen hört man das Wort »verjudet« oder »Zigeunerkriminalität« nicht, bei Jobbik schon. Aber ich spreche absichtlich von führenden Fidesz-Kreisen, sonst kann man das in der Partei oder den parteinahen Medien schon hören. Zsolt Bayer, ein Starjournalist und angeblich bester Freund von Viktor Orbán, ist zum Beispiel ein ganz offener biologistischer Rassist und Antisemit und hetzt in fast jedem Artikel und jeder Fernsehsendung, wurde aber 2011 von Fidesz mit einem großen Preis ausgezeichnet. Es gibt also überhaupt keine Abgrenzung von der Jobbik, eher fließende Übergänge. Gerade in diesen Tagen wurde neben einem weiteren bekannten antisemitischen und antiziganistischen Journalisten ein Neonazi-Rocker der Band Karpatia mit einem Preis geehrt.

Wie verändert die Ungarische Garde die ungarische Gesellschaft?

Neben der Ungarischen Garde gibt es noch einige kleinere Garden. Die Ungarische Garde ist im Moment nicht so aktiv wie noch vor einem halben, dreiviertel Jahr. Sie jagt Angst ein, marschiert vor allem in Dörfer ein, in denen viele Roma leben. Die Bürgerrechtler und ‑rechtlerinnen warnen die Roma ständig, in ihrer Panik nichts Unüberlegtes zu tun oder zu sagen, da das sofort gegen sie ausgelegt wird. Anders kann man das gar nicht sagen, als dass das fürchterliche Angst einjagt.

Das gesamte, diesem gekürzten Vorabdruck zugrundeliegende Interview ist nachzulesen in der Ende Juni erscheinenden zweiten Ausgabe der sans phrase – Zeitschrift für Ideologiekritik (http://www.sansphrase.org/).

Von Magdalena Marsovszky, Andreas Koob und Holger Marcks erschien zuletzt 2013 im Unrast-Verlag »Mit Pfeil, Kreuz und Krone: Nationalismus und autoritäre Krisenbewältigung in Ungarn«.