Ernährungsreligion

Die seltsamen Glaubenssätze der Paläo-Diät im Zeitalter des »quantified self«.

Für den längsten Teil der rund zweieinhalb Millionen Jahre ihrer Existenz war das Verhältnis der Gattung Homo zum Thema Ernährung ein recht simples: Entweder man hatte etwas zu essen (gut) oder eben nicht (schlecht). Für große Teile der Weltbevölkerung gilt das bis heute; dank einem Fortschritt, der es erlaubt, an einem Ende der Welt statt Grundnahrungsmitteln Soja anzubauen, das dann einen halben Globus entfernt der Tiermast dient, vermutlich sogar noch drastischer als in historischen und prähistorischen Zeiten.
Doch auch die Bewohner der Industrienationen haben ihr Päckchen zu tragen. Beziehungsweise ihren Wohlstandsbauch. Dass dies zu sogenannten Zivilisationskrankheiten wie Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck und Herz-Kreislauf-Leiden führen kann, ist schon länger bekannt; die Weltgesundheitsorganisation WHO warnt gar vor einer regelrechten Fettleibigkeitsepidemie, die auf Europa zukomme.
Auch nicht neu ist, dass man mit ein paar naheliegenden Verhaltensweisen dazu beitragen kann, dem vorzubeugen: Viel Grünzeug essen, es mit Fett und Zucker nicht übertreiben, und nicht zuletzt, wo immer möglich aufs Auto verzichten und seine mehr oder weniger überflüssigen Pfunde stattdessen mit Muskelkraft von A nach B bewegen. Das aber ist offenbar für viele Menschen zu viel an Logik; stattdessen folgen sie lieber irgendeiner jener unzähligen Ernährungs- und Fitnessreligionen, denen gemeinsam ist, dass sie in bester protestantischer Tradition den sündigen Körper zum Feindbild erklären, der nur durch das Einhalten der jeweiligen Heilslehren zu disziplinieren sei.
Dazu tragen zum einen die herrschenden Schönheitsnormen bei, die insbesondere den weiblichen Teil der Bevölkerung unter Druck setzen, einem unerreichbaren – und alles andere als gesundem – Schlankheitsideal nachzueifern (und nicht Wenige damit in die Magersucht treiben). Aber auch das Streben nach Unsterblichkeit scheint eine weltliche Heimat gefunden zu haben, wo das Leben um Body-Mass-Index, Omega-3-Fettsäuren und Low Carb kreist und Menschen viel Geld dafür bezahlen, sich an Geräten selbst zu kasteien, die (zufällig?) eher an Folterinstrumente erinnern. Ganz so, als könne man dem Tod auf dem Laufband davonrennen.
In den vergangenen Jahren ist noch ein weiterer Aspekt hinzugekommen: Galt es bis etwa um die Jahrtausendwende immerhin noch als Privatsache, wie pfleglich jemand mit seinem Körper umgeht, ist es mittlerweile geradezu zur gesellschaftlichen Verpflichtung geworden, sich gesund und leistungsfähig zu halten. Davon zeugen nur halbherzig als »Nichtraucherschutz« deklarierte Rauchverbote ebenso wie Sportprogramme, die sich speziell an Erwerbslose richten, die damit »fit für den Arbeitsmarkt« gemacht werden sollen. Und mit den diversen Apps aus dem Quantified-Self-Repertoire demonstrieren Menschen bereitwillig, wie sehr sie den Imperativ zur Selbstzurichtung schon internalisiert haben, indem sie ihre Sozialen Netzwerke automatisiert über die Zahl ihrer zurückgelegten Schritte, verzehrten Kalorien oder abgegebenen Darmwinde informieren.
Letzteres sollte eigentlich eine Übertreibung sein – kurzes Googeln ergab jedoch, dass zumindest kurzzeitig tatsächlich einmal eine App namens »Fart Counter« auf dem Markt war. Die Anwendung konnte sich aber wohl nicht durchsetzen und verschwand sang- und (pardon …) klanglos wieder aus dem Sortiment. Immerhin aber gibt es Gerätschaften, die ihre Nutzer mehr oder minder zuverlässig über die Qualität ihres Schlafs informieren. Der Homo instrumenticus verfährt sich also offenbar nicht nur auf dem Weg zum Bäcker, wenn ihm kein Navi sagt, wie er dort hinkommt, sondern merkt ohne Hilfsmittel auch nicht mehr, wie übermüdet er sich durch den Tag schleppt.
Die Gegenbewegung lässt nicht auf sich warten: Je entfremdeter das Verhältnis zum eigenen Körper, um so größer die Sehnsucht nach einem vermeintlich natürlichen Lebensstil. Am weitesten treiben es dabei die Anhänger der sogenannten Paläo-Diät. Diese halten nicht erst Fast Food & Co., sondern bereits die neolithische Revolution, also die Erfindung von Ackerbau und Viehzucht vor etwa 10.000 Jahren, für einen Irrweg, auf den die Evolution den Menschen nicht vorbereitet habe. Erlaubt ist daher nur, was schon in einer Altsteinzeit auf dem Speisezettel stand, wie sie sich der Großstadtprimat des 21. Jahrhunderts vorstellt: Tabu sind so neumodische Dinge wie Getreide und alles, was sich von Brot bis Risotto so daraus machen lässt, Milch und Milchprodukte, raffinierter Zucker und Hülsenfrüchte. Billigung der Paläo-Jünger finden hingegen Beeren, Nüsse und Samen – und vor allem Fleisch, Fleisch und nochmals Fleisch.
Die modernen Steinzeitler streiten sich allerdings nicht in der Steppe mit Löwen und Hyänen um ein paar Brocken Aas, wie es unsere Altvorderen vermutlich taten, sondern gehen wie ihre weniger wählerischen Zeitgenossen im Supermarkt auf die Jagd. Dort erbeuten sie übrigens auch Gemüsesorten, die erst im Laufe mehrtausendjähriger Züchtung ihre heutige Form und Nährstoffgehalte erlangten. Ohnehin können Paläonto- und Anthropologen angesichts der vermeintlichen Urzeitdiät nur den Kopf schütteln, denn so ziemlich alle ihr zugrundeliegenden Annahmen sind falsch.
Das beginnt bereits mit ihrem Ursprungsdogma, alles, was seit der Jungsteinzeit neu auf den Teller beziehungsweise in den Holznapf kam, sei quasi nicht artgerecht. Wenn es aber überhaupt so etwas wie eine »Natur des Menschen« gibt, dann die der Fähigkeit zur Anpassung und Selbstdomestifizierung – auch unter dem Namen »Kultur« bekannt. Und gerade, was das Essen betrifft, hatte dies auch Auswirkungen auf unsere biologische Evolution: Überall dort, wo Menschen begannen, Milchvieh zu halten, setzten sich sehr schnell Genvarianten durch, deren Träger auch nach dem Abstillen ohne größere Probleme Milchzucker1 konsumieren konnten. Noch älter ist die Fähigkeit, die von den Zivilisationsmüden verteufelte Stärke zu verdauen: Die entwickelte sich, seit die ersten menschenähnlichen Wesen entdeckten, dass sich Stöcke zum Graben nach nahrhaften Wurzelknollen verwenden lassen; also noch weit vor jener Zeit, in die sich die Möchtegern-Primitiven gerne imaginieren.
Fantasie beweisen diese auch in ihren Vorstellungen, was denn eigentlich in der guten alten Vorzeit so verzehrt wurde. Offenbar beziehen sie ihr Wissen aus so etwa seit den 1950er Jahren nicht mehr modernisierten Museen, in denen der Urmensch als Fleischfresser dargestellt wird und der Mann als Ernährer der Familie das erlegte Mammut in die Wohnhöhle schleppt, während die Frau sich unterdessen um die Kinder und den aus Waldbeeren bestehenden Nachtisch kümmert. Es scheint jedenfalls kein Zufall zu sein, dass die Paläo-Szene eine überwiegend männliche ist. Trockene Tatsache ist hingegen, dass Fossilien naturgemäß wenig darüber verraten, wie Männlein oder Weiblein zu Lebzeiten ihre Tage verbrachten, während sowohl paläontologische Befunde wie auch seine Anatomie den Homo sapiens als geradezu prototypischen Allesfresser mit entsprechendem Gebiss und Verdauungstrakt ausweisen.
Der Fleischverzehr ist nach derzeitigem Stand der Forschung dabei selbst sowohl Produkt als auch Motor der kulturellen Evolution. Erst scharfkantige Steinwerkzeuge, so die gängige Theorie, ermöglichten unseren Vorfahren, wenigstens das abzustauben, was Raubtiere an den Knochen ihrer Beute übrigließen. Hinzu kam die Beherrschung des Feuers und damit die Erfindung der warmen Mahlzeit – was nicht nur verhinderte, dass sich die Vor- und Frühmenschen an den nicht immer ganz frischen Leckerbissen den Magen verdarben, sondern auch pflanzliche Nahrung leichter verdaulich machte.
Die Folge: Eine bessere Versorgung mit Kalorien und die daraus resultierende Entwicklung eines größeren Gehirns, mit dem man dann auf schlaue Ideen kommen konnte: Zum Beispiel, spitze Steine am Ende eines Stocks zu befestigen und sich damit vom Jagderfolg anderer Tiere unabhängig zu machen. Welch glücklicher Zufall für die Paläo-Jünger, dass sie genau diese Kulturstufe als die für den Menschen natürliche entdeckt haben und daraus eine mit den westlich-industriellen Geschmacksgewohnheiten kompatible Diät ableiten können.
Dass diese nicht viel mit der realen Ernährung unserer Urahnen gemein haben dürfte, zeigt der Blick auf heutige Jäger-und-Sammler-Kulturen, von denen anzunehmen ist, dass ihr Speisezettel dem ähnelt, was schon vor 50.000 Jahren verzehrt wurde. Dort gilt: Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt. Will heißen, was die jeweilige Umwelt halt so hergibt, und das variiert, welch Überraschung, stark von Region zu Region. Bei den Bewohnern der Kalahari im südlichen Afrika etwa sind das zu 60 bis 80 Prozent Pflanzen, gelegentlich ergänzt durch ein Stück Wildbret, vor allem aber auch Insekten, Schlangen und anderes Kleingetier – Dinge, die man auf Paläo-Rezeptseiten vergeblich sucht. Und auch die fettig-fischigen Spezialitäten traditionsbewusster Inuit von der entgegengesetzten Seite des Ernährungsspektrums wird man dort nicht finden.
Kurz gesagt: Wären die Pioniere, die einst die afrikanische Savanne verließen, so mäkelig gewesen wie die regressiv Essgestörten von heute, hätten sie und ihre Nachkommen sich wohl kaum über den gesamten Globus ausgebreitet. Dann müsste man sich zwar einerseits nicht über Zivilisationsvertreter aufregen, die mehr Gedanken für das Geschehen in ihren eigenen Eingeweiden übrighaben als für die Welternährung; andererseits wäre nie jemand in den Genuss von Errungenschaften wie Pizza oder Nudeln in Käse-Sahnesoße gekommen. Und das wäre ja auch wieder schade.

[1] Den kennen die meisten unter dem Namen Laktose, und zwar durch all jene Produkte, die damit werben, eben diese nicht zu enthalten. Auch dies ist ein Ausdruck der um sich greifenden Nahrungsphobien, denn diese Lebensmittel werden in erster Linie von weißen Europäern und US-Amerikanern gekauft - also genau jenem Teil der Weltbevölkerung, in dem Laktoseintoleranz kaum vorkommt oder sich schlimmstenfalls in Symptomen äußert, die die Betroffenen zu Kandidaten für die Furz-App machen.

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