Die Troika und die österreichische Sozialpolitik

Was er vom Vorschlag des Sozialministers halte, die Überstunden stärker zu besteuern und damit die Unternehmer für Neueinstellungen von Arbeitskräften zu motivieren, fragte der Dozent seinen Freund Groll vor der ehemaligen Tabakfabrik an der Linzer Donaulände.
Sie kamen vom neuen Musiktheater und waren auf dem Weg zur Stadtwerkstatt auf der anderen Seite der Donau. Ein bekannter Sozialphilosoph aus dem einstigen Jugoslawien sollte in dem Haus einen Vortrag über die Zukunft der Linken mit dem Titel »Revolution oder Gebet« halten.
Er halte den Vorschlag des Sozialministers für ein plumpes Ablenkungsmanöver, antwortete Groll.
Erste Regentropfen klatschten auf die Straße, die beiden suchten Schutz in der Werkseinfahrt.
»Zugegeben, der Vorschlag klingt naiv und hilflos«, sagte der Dozent. »Aber angesichts der steigenden Arbeitslosenzahlen ist es doch einen Versuch wert.«
»Viel Vergnügen«, meinte Groll und setzte eine Schifferkappe auf, während der Dozent sich mit dem Öffnungsmechanismus seines Regenschirms plagte. »Wenn Sie glauben, daß der ÖGB den Unternehmen eine Verteuerung der Überstunden abringen wird, gratuliere ich zur Verdrängungsleistung. Haben Sie schon die Kapitulation der Gewerkschaft bei den Vermögenssteuern vergessen? Der ÖGB-Chef verausgabte sich in kämpferischen Phrasen sonder Zahl, die Reichen sollten zur Kasse gebeten werden, es gehe nicht an, daß Lohnabhängige den Staat alleine erhalten, es reiche jetzt, es müsse mehr Netto vom Brutto im Börsel bleiben und als Höhepunkt des tollkühnen Kampfes wurden neunhunderttausend Unterschriften übergeben. Tatsächlich haben wir jetzt eine Steuerreform, die keinerlei Vermögens- oder Erbschaftssteuern umfasst, die dreißigtausend Stiftungen, in denen das große Geld steuerschonend geparkt ist, verschont und stattdessen die arbeitenden Mittelschichten und die Lohnabhängigen mit kleinlichen Verschärfungen im Steuervollzug plagt. Das Wenigste ist ausformuliert, Details sickern nur nach und nach durch. Die sogenannte Gegenfinanzierung der Steuerreform ist ein Taschenspielertrick der übelsten Sorte. Da wurden Phantasiezahlen eingesetzt, die nicht einmal von jenen geglaubt werden, die das Ergebnis als Fortschritt verkündeten. Soviel ist immerhin klar: Die arbeitenden Menschen zahlen sich die Steuerreform selbst. Was sie sich auf der einen Seite ersparen, wird ihnen auf der anderen genommen. Nicht einmal die Einschränkung der kalten Progression ist vom ÖGB durchgesetzt worden. In zwei Jahren werden die Effekte der »größten Steuerreform aller Zeiten« Makulatur sein und neue Sparpakete aus dem Titel Kärntner Hypo-Haftungen, Gebührenerhöhungen und noch mehr Selbstbehalte werden verabschiedet. Wenn die Unternehmer jetzt wegen diverser Details Zeter und Mordio rufen, tun sie das nur, um von dem Kniefall ihres Sozialpartners abzulenken. Hört man den vermögenden Leuten aufmerksam zu, sagen sie: Gut davongekommen!
»Sie meinen, die arbeitenden Leute haben wieder einmal das Nachsehen«, meinte der Dozent.
»So ist es«, bekräftigte Groll. »Und zur ‚Belohnung‘ werden sie mit verschärften Sozialgesetzen gequält.«
»Und die OECD wird Österreich wieder vorrechnen, daß die Lohnerhöhungen der letzten fünfzehn Jahre nicht nur den Produktivitätsfortschritt NICHT abgegolten haben, sondern nicht einmal die Realinflation ausglichen. Und daß folglich die Realeinkommen sinken und die Binnenkaufkraft infolge höherer Mieten, Gebühren und Lebensmittelpreise von Jahr zu Jahr schwächer wird. Das wollten Sie doch hinzufügen.«
Groll lächelte. »Sie kennen mich gut, verehrter Dozent. Ich mag Ihnen nicht widersprechen. Die Unternehmens- und Vermögensgewinne erklimmen neue Höhen. Kein Wunder, daß sich die Vermögenden in einem Stoßseufzer vereinen: Gott erhalte uns diesen Gewerkschaftsbund und seine Spitzenfunktionäre! Und er möge auch dem Sozialminister ein langes politisches Leben schenken. Wer mit Vorschlägen in die Öffentlichkeit geht, von denen er weiß, daß sie keine Chance auf Realisierung haben, gleichzeitig aber die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik um die Hälfte senkt und dafür sorgt, daß die Beschäftigungsaussichten behinderter Menschen immer schlechter werden, wer die Ablenkungspolitik derart gut beherrscht, dem flechten wir in unseren Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehprogrammen gern immer neue Kränze.«
Der Dozent lehnte seinen defekten Schirm an die Wand der Einfahrt. Der Regen war stärker geworden, auf den Straßen bildeten sich längliche Pfützen in den Spurrillen.
Er verstehe nicht, warum man in der Sozialpolitik gerade bei behinderten Menschen so wenig Engagement zeige, sagte der Dozent. Im »Guardian« habe er gelesen, daß im sozial harten England allein hunderttausend Menschen mit Down-Syndrom in Arbeit stünden. Österreich hinke auch in dieser Frage hinterher.
»Darf ich Ihnen ein wenig auf die Sprünge helfen?« sagte Groll und ohne die Zustimmung seines Freundes abzuwarten, fuhr er fort.
»Bei vermittelbaren behinderten Menschen stieg die ohnehin skandalös hohe Arbeitslosenrate in den letzten Jahren von dreißig auf über vierzig Prozent. Unter den sogenannten Arbeitnehmern gibt es keine Gruppe, die eine Zunahme in dieser Höhe hinnehmen mußte.«
»Vor einigen Jahren wurde doch der Kündigungsschutz für behinderte Menschen ausgesetzt«, führte der Dozent den Gedanken weiter.
»Davon, daß die Aussetzung des besonderen Kündigungsschutzes für behinderte Menschen das genaue Gegenteil vom erhofften Zweck erbrachte, ist keine Rede«, erwiderte Groll. »Die Unternehmen stellen weniger Behinderte ein denn je. Das Gejammere über den Kündigungsschutz war also nur ein Vorwand, eine dreiste soziale Lüge. Wer den Unternehmerverbänden in dieser Sache Glauben schenkte, war entweder grenzenlos naiv oder bösartig. Oder beides.«
»Eine scharfe Formulierung, aber ich widerspreche Ihnen nicht«, sagte der Dozent.
»Ich erinnere daran, daß es das Sozialministerium unter Hundstorfer, die Behindertendachorganisation ÖAR und der ÖVP–Behindertensprecher Huainigg waren, die die Aussetzung des Kündigungsschutzes propagierten und mit dem Beifall der Unternehmerverbände und der meisten Wirtschaftsjournalisten durchsetzten. Der ehemalige Sozialminister Buchinger und nahezu alle, die sich in der Behindertenpolitik auskennen, protestierten scharf gegen den gesetzlichen Unfug. Das Los einer randständigen Gruppe zu erleichtern, indem man Schutzbestimmungen abbaut – auf diesen Unsinn muß man einmal kommen. Und nun haben die Herrschaften, die den behinderten Menschen die Malaise eingebrockt haben, nicht einmal den Mumm, das Scheitern der Übung einzugestehen. In anderen Ländern würde dieser Verrat an den eigenen Leuten zu einem Rücktritt der betreffenden Funktionäre und Politiker führen, aber in Österreich tritt bekanntlich niemand zurück, die Leidenschaft fürs Sesselkleben steht im Anforderungsprofil von Sozialpolitikern ganz weit oben. Der Vollständigkeit halber erwähne ich, daß sowohl ÖGB als auch Arbeiterkammer, Sie wissen, das ist jener Verein, der aus den Zwangsbeiträgen seiner – auch behinderten Mitglieder – gespeist wird, keinen Finger gerührt hat.« Groll fuhr einen Schritt zurück, um dem Regen zu entgehen. Der Dozent blieb an seiner Seite.
»Eine Entschuldigung in den Medien wäre da wohl das Mindeste, was man verlangen kann«, meinte der Dozent. »Die Herren müssen sich entschuldigen und dann müßten sie dazusagen, daß die Aussetzung des Kündigungsschutzes natürlich beendet werden muß.«
»Noch dazu, wenn man in Rechnung stellt, daß der Kündigungsschutz ja beileibe kein absoluter war und nur bedeutete, daß behinderte Beschäftigte nicht als erste gekündigt werden durften«, assistierte Groll.
Der Dozent schüttelte erzürnt den Kopf. »Haben Sie ein Wort des Bedauerns von den famosen Herren gehört?«
»Es herrscht Schweigen im Walde«, sagte Groll bitter. »Unsere sogenannten Behindertenvertreter und Sozialpolitiker sind nicht mit Anstand und Tapferkeit gesegnet. Einen Fehler zuzugeben, wobei das Wort Fehler bei dieser Sache einer schweren Untertreibung gleichkommt, einen Fehler zuzugeben, ist für diese Herren nicht zumutbar. Das ist abstoßend und beschämend, aber dieses Verhalten gehört zum Korpsgeist der österreichischen Eliten und war also zu erwarten. Der wirkliche Skandal folgt aber erst.« Groll verschränkte die Arme vor der Brust. Der Dozent hockte sich auf die Fersen, um mit seinem Freund auf Augenhöhe zu sein.
»Sprechen Sie weiter!« bat der Dozent.
»Hören Sie gut zu«, sagte Groll. »Ich berichte nun von einem kaltblütig durchgeführten, von langer Hand geplanten Sozialputsch, einem Bubenstück erster Ordnung.«
Groll machte eine Pause, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
»Nachdem also klar war, daß die Unternehmer mit ihrem Geseiere über die Hürden des Kündigungsschutzes für die Einstellung behinderter Menschen jahrzehntelang gelogen haben … ´Wir würden ja sooo gern Behinderte einstellen …«
»Aber leider, leider der strenge Behindertenschutz verhindert unser soziales Mitfühlen«, säuselte der Dozent sarkastisch.
Groll setzte fort. »Nachdem Lüge und Betrug offensichtlich waren und die Aussetzung des Kündigungsschutzes ihrerseits auszusetzen gewesen wäre, kurz gesagt, das alte Gesetz wieder in Kraft treten sollte, rang sich die Troika der ´Behindertenvertreter` zu einer Höchstleistung durch, die an Schäbigkeit, Feigheit und Impertinenz selbst in einem Land, das an sozialer Gemeinheit nicht eben arm ist, noch hervorsticht. Die drei entschieden, das Gesetz nicht etwa zu reparieren, sie entschieden sich, den Kündigungsschutz nach seiner Aussetzung nun zur Gänze abzuschaffen.«
»Das ist nicht wahr!« rief der Dozent.
»Das ist die Wirklichkeit«, erwiderte Groll. »Man werde sich aber für eine Erhöhung der Strafzahlung für säumige Betriebe – ganze 77 % stellen keine behinderten Arbeitnehmer ein, bemühen, ließen die Behinderten-dachorganisationen verlauten. Auch hier: Ablenkungsmanöver, Rauchvorhänge, Nebelgranaten – wie bei der Überstundengeschichte von vorhin. Im ganzen Land werden Bestimmungen zur Barrierefreiheit zurückgenommen – Oberösterreich ist hier, mit Zustimmung der Grünen, ein Vorreiter – wer da glaubt, eine Erhöhung der Ausgleichstaxe auf ein Durchschnittseinkommen durchzubringen, fügt zum Schaden noch den Spott hinzu.«
»Wie wird die Politik mit den behinderten Menschen in Zukunft umgehen?«, fragte der Dozent und erhob sich.
»Was soll schon mit ihnen geschehen?« versetzte Groll. »Sie stehen im Regen.«
Ein Reisebus fuhr mit hoher Geschwindigkeit durch die Pfützen. Ein Schwall schmutzigen Regenwassers ergoß sich auf Herrn Groll und seinen Freund, den Dozenten.