Wessen Fließband? Unser Fließband!

Geht’s dem Kapitalismus schlecht, tun sich Chancen auf. In der größten Krise Argentiniens, die mittlerweile auch schon fast fünfzehn Jahre her ist, war eine davon die Betriebsübernahme.

Noch heute werden in Argentinien mehrere hundert Klein- und Großbetriebe in Selbstverwaltung geführt. Für Linke ist diese Form der Arbeiter_innenbewegung nicht nur herzerwärmend, sondern auch Projektionsfläche mit Enttäuschungspotential. Juan Pablo Hudson hat über die Höhen und Tiefen der »Recuperadas« beim Wiener Mandelbaumverlag ein Buch veröffentlicht: »Wir übernehmen«.

Juan Pablo Hudson macht militante Untersuchungen. Das bedeutet, dass nicht nur untersuchend geschaut wird, wie zum Beispiel eine Teigwarenfabrik in Rosario funktioniert, sondern dass die Untersuchung selbst in die Verhältnisse eingreifen möchte. Die Forschenden wollen die Arbeits- und Lebensverhältnisse, die sie betrachten, auch für die Betroffenen selbst sichtbar machen, und zur Reflexion – oder gar zum Widerstand – animieren. Klingt, als würde das allen Objektivitätsansprüchen klassischer Wissenschaft widersprechen? Richtig. Klingt aber auch, als würde man sich den Mund leicht ein bisschen zu voll nehmen. Und das trifft nicht immer auf Gegenliebe, erzählt Juan Pablo Hudson, der sich ordentlich anstrengen musste, um in den Fabriken Gehör zu finden. Nach monatelangen Gesprächen und Interviews dämmerte ihm, dass er gar nicht ernst genommen wurde. Er stellte fest, dass es eine gemeinsame Erzählung gab – nicht nur über eine spezifische Fabrik, sondern über die Selbstverwaltung im Allgemeinen. Und diese Erzählung wurde auch ihm aufgetischt, sei es aus Protektion oder einfach, weil die vielen Wissenschaftler_innen zu nerven begannen, die sich auf die selbstverwalteten Betriebe stürzten, um ihre Semesterwochenstunden abzuarbeiten. »Wieso beforschst Du die Arbeiter, habt ihr an der Universität keine Probleme?«, fragte denn auch einer der »militant untersuchten« Fabrikarbeiter.
Juan Pablo Hudson blieb stur. Er verschwand nicht, wie so viele Forscher_innen vor ihm, als er genug Interviews beisammen hatte, um seine Abschlussarbeit zu schreiben. Er freundete sich mit dem Arbeiter Lisandro an, fuhr auf Vernetzungstreffen selbstverwalteter Betriebe und wurde zum regelmäßigen Besucher der Teigwarenfabrik »Victoria«. Er sprach Widersprüche in den Fabriken an – auch wenn das nicht auf Gegenliebe stieß – und hielt selbst aus, wenn die Praxis des Forschens von den Arbeiter_innen harsch kritisiert wurde. Nach einigen Jahren hatte er das Gefühl, dass er was Neues erfahren hatte: Über die Geschichte der »Recuperadas«, über das wissenschaftliche Arbeiten in sozialen Bewegungen, über den Kampf der Fabriken, am kapitalistischen Markt zu bestehen, und über die sozialen Fragen, die auch in selbstverwalteten Fabriken nicht gelöst werden.

Die argentinischen Selbstverwaltungen können – in ganz Lateinamerika – auf eine lange Geschichte zurückgreifen und wurden im Jahr 2001 mit dem Ende der Wirtschaft, wie wir sie kannten, zum massenhaft eingesetzten Selbsthilfeinstrument einer vom Finale bedrohten Industrie. Spricht man in Österreich von »Selbstverwaltung« gern im Zusammenhang besetzter Häuser, Kulturzentren und dem einen oder anderen kollektiv geführten Beisl, so sind es in Argentinien Betriebe von bis zu viertausend Arbeiter_innen in Branchen von Schwermetall bis Gastronomie, die spätestens ab den 2000er Jahren auf die Chefetage verzichteten. Freiwillig oder notgedrungen. Denn Selbstverwaltung bedeutet immer auch Mehraufwand – Verwaltungsarbeit eben. Und die Betriebe, von denen hier die Rede ist, haben sich – anders als es sich kleine Selbstverwaltungen im Bereich der autonomen Kulturarbeit zum Ziel setzen – nicht aus dem kapitalistischen Markt herausgezogen, sondern kämpfen unter geänderten Vorzeichen darum, auf ihm zu bestehen.

Lisandro, der Teigwarenarbeiter, der sich nach und nach in das Buch von Juan Pablo Hudson einschreibt, selbst Texte verfasst, mitredet, hat seine eigene Meinung zur Verwaltung. Von »denen da vorne und denen da hinten« ist die Rede, wenn es um den Unterschied zwischen den Maschinenarbeiter_innen und den Verwalter_innen geht, um »den Kopf und den Körper«. Nach den ersten, enthusiastischen Zeiten des »alles gemeinsam«, den Vollversammlungen, den Entscheidungen, die von allen getroffen werden, den politischen Diskussionen, von denen alle finden, dass sie sie was angehen, schleicht sich Müdigkeit ein. Und mit der Müdigkeit kommt die Arbeitsteilung. Was an sich ja nicht schlecht sein muss, wäre da nicht ein Machtgefälle, das mit der Aufteilung in »die da vorne und die da hinten« einhergeht.
Die Figur Lisandro ist auch in ihrer eigenen Entwicklung interessant: Ist er am Anfang der Untersuchung noch zornig auf die Hierarchie dieser Arbeitsteilung, begibt er sich am Ende selbst »nach vorne« in die Verwaltung und rechtfertigt den Lohnunterschied mit der größeren Verantwortung. Als Leserin denkt man nicht: Wendehals. Sondern: wow, was für intensive Erfahrungen.
Und dann ist da noch die Auseinandersetzung mit den »Kids«, den Jugendlichen, die in den Fabriken Job suchen. Jobs, um Geld zu verdienen – nicht um das Erbe eines Arbeitskampfs anzutreten. Man ahnt das Konfliktpotential. Die Alten, die Kämpfer_innen (oder soll man dem Geschlechterverhältnis gerecht werden, und sagen: die Kämpfer?), die mit dem Arbeitsethos, sie können kaum glauben, wie die »Kids« sich verhalten. Dass die so früh wie möglich nach Hause gehen, anstatt die hart erkämpften Maschinen liebevoll zu pflegen. Dass sie keinen Kollektivbegriff haben, dass es ihnen egal ist, wer nach ihnen aufräumt. Dass sie unentschuldigt der Arbeit fernbleiben und, sobald sie etwas besser Bezahltes finden, ganz verschwinden. Diese jungen Arbeitnehmer_innen werden keine Mitglieder der Kooperative. Sie sind angestellt, sie können nicht mitbestimmen. Aus der Kooperative wird eine große Arbeitgeberin, mit allen Widersprüchen.

Juan Pablo Hudson lebt in Rosario. Das ist eine kleine Stadt nördlich von Buenos Aires. Eine Stadt, die für ihren Gehversuch in der Mitsprache ihrer Einwohner_innen, den sogenannten »Bürgerhaushalt«, bekannt ist. Teile des Stadtbudgets werden kommun verhandelt, viele Fans der partizipativen Demokratie pilgern hier her, um zu schauen, wie das funktioniert, Diplomarbeitenschreiber_innen aller Länder finden sich ein. Dem Blick von der Dachterrasse des Hauses, in dem Juan Pablo lebt, präsentiert sich Rosario als adrettes Städtchen, streng nach Klassenzugehörigkeit geteilt, zum Flussufer hin werden die Grundstücke teurer, in einer der Gässchen der Innenstadt wurde Ernesto Che Guevara geboren; mehr als eine kleine Tafel, einer Bushaltestelle gleich, erinnert überraschender Weise nicht an ihn.
Hudson arbeitet gemeinsam mit Kolleginnen schon lange im Bereich der militanten Untersuchung. Über Jahre haben sie junge Menschen in den Gefängnissen Rosarios besucht, um mit ihnen über die Gewalt zu sprechen, der sie während der Haftzeit ausgesetzt sind, und um Lösungen zu finden – individuelle und strukturelle. Das, sagt Juan Pablo Hudson, sei die härteste Zeit als Forscher gewesen. Man muss nämlich einsehen, dass man bei allem theoretischen Wissen eigentlich keine Ahnung gehabt hat, wie schlecht es den Jugendlichen in den Knästen geht. Er hat sich forschend der Schulbildung und ihrer Exklusivitäten gewidmet, hat in den »Barrios«, den Armenvierteln, unterrichtet – und dabei einiges über die eigenen Schwächen gelernt –und sich schließlich mit den betrieblichen Selbstverwaltungen, den »Empresas Recuperadas«, befasst. Das Wort allein weist darauf hin, dass etwas »rekuperiert«, zurückgeholt wird, was den Arbeiter_innen ohnehin zusteht. Wie das von statten geht und was man sich davon erwarten darf, darüber schreibt Hudson in Tagebucheinträgen, Analysen und Reportagen, und er schreibt – das hebt seinen von den hunderten anderen Berichten ab – mit einer offensiven Unsicherheit, die nicht bereit ist, jede Frage auch zu beantworten.
Bei einer Buchpräsentation in der Landesbibliothek in Linz meldet sich ein Mann zu Wort. Wie das denn gegangen sei mit den Übernahmen durch die Arbeiter_innen, ob da die Banken nicht schneller gewesen seien? Er selbst nämlich habe als Arbeiter das Ende von Semperit miterlebt. Wie die Belegschaft über Jahre hingehalten wurde, ob der Konkurs nun komme oder abgewendet werde. Und wie dann plötzlich die Nachricht da war: Es ist vorbei. Und da habe man gar nicht so schnell schauen können, hätten die Banken schon ihre Pfründe gesichert. Der Freiraum zum Nachdenken, was es für die Arbeiter_innen noch für Möglichkeiten gäbe, habe nicht existiert.
Juan Pablo Hudson antwortet ohne Umschweife: »Bei den übernommenen Betrieben in Argentinien gab es oftmals ein durchaus zustimmendes Verhältnis zu Gewalt. Man lässt die Banken nicht rein, basta. Und die Polizei auch nicht.« Kurz träumen wir von einem »Semperit recuperado«. Dann geht es zurück auf den Boden der Realität.

Juan Pablo Hudson: »Wir übernehmen. Selbstverwaltete Betriebe in Argentinien – eine militante Untersuchung«. Herausgegeben und übersetzt von Alix Arnold und Gabriele Schwab. Mandelbaum Verlag, 2014

(Bild: Verlag)