Rätsel ohne Lösung

Samuel Beckett hat ihn geschätzt, Peter Handke ihn übersetzt, und zu Lebzeiten hatte er eine große Leserschaft. Magnus Klaue erinnert an Emmanuel Bove, der vor Augen führte, dass Prosa absolut sein kann.

»Wenn ich aufwache, steht mir der Mund offen. Meine Zähne sind belegt; es wäre besser, sie am Abend zu putzen, aber das bringe ich nie über mich. In meinen Augenwinkeln eingetrocknete Tränen. Die Schultern tun mir nicht mehr weh. Ein Haarschwall bedeckt meine Stirn. Mit gespreizten Fingern streiche ich ihn zurück. Ohne Erfolg: wie die Seiten eines neuen Buches richtet er sich auf und fällt mir wieder über die Augen. Den Kopf senkend, merke ich, dass mir der Bart gewachsen ist: er sticht am Hals. Ein Wärmegefühl im Nacken, bleibe ich auf dem Rücken liegen, die Augen offen, die Leinentücher bis zum Kinn, damit das Bett nicht auskühlt.« Mit diesen Sätzen, in denen der Protagonist sich selbst als ein Fremdes, den eigenen Leib als Objekt unter den Objekten einer fremden Außenwelt beschreibt, beginnt Emmanuel Boves 1921 geschriebener, erst 1924 erschienener Debütroman »Mes Amis« (»Meine Freunde«), mit dem der 1898 als Emmanuel Bobovnikoff in Paris geborene Sohn eines Russen und einer Engländerin bekannt wurde. Bekannt, aber nicht anerkannt: Um als der Exponent der literarischen Moderne wahrgenommen zu werden, als der er gelten kann, war Bove bei seiner Leserschaft zu beliebt und sein Werk zu heterogen. Viele seiner Erzählungen erschienen in populären Zeitschriften, um von seiner Arbeit leben zu können, bediente er ohne ästhetische Skrupel auch triviale Genres. 1933 schrieb er zwei Kriminalromane, »Le Meurtre de Suzy Pommier« (»Der Mord an Suzy Pommier«) und »La Touque de Breitschwanz«, für den er das Pseudonym Pierre Dugast wählte und der nie in deutscher Übersetzung erschienen ist.

Dass er sich unter den Genres der Kolportageliteratur ausgerechnet der Detektivgeschichte zuwandte, verdankte sich nicht nur Boves Arbeit als Reporter, aus der er Anregungen für seine Stoffe bezogen haben mag. Vielmehr ist der Gestus seines Schreibens von Beginn an geprägt von der detektivischen Spurensuche, dem Wittern dubioser Verschwörungen, die sich als Obsession derer erweisen, die sich durch sie bedroht fühlen, und von einer geradezu wahnhaft akribischen Beobachtung der Außenwelt, von der die Innenwelt der Figuren kaum zu unterscheiden ist. Boves Protagonisten sind Niemande, die zwar noch einen bürgerlichen Namen tragen, denen die damit korrespondierende gesellschaftliche Identität aber fragwürdig geworden oder gar abhanden gekommen ist. Sie sind immer männlich und leiden an einem unersättlichen Bedürfnis nach Anerkennung und Bestätigung, die sie allein durch andere glauben erlangen zu können. Der Protagonist von »Meine Freunde«, Victor Bâton, lebt als Kriegsinvalide in einer ärmlichen Pariser Wohnung, geht keiner geregelten Arbeit nach und verbringt seine Tage mit der immer wieder scheiternden Suche nach einem Freund – nicht, weil er an seiner Einsamkeit litte, sondern weil man, wie er es formuliert, »immer einen guten Eindruck auf Leute machen (will), die man nicht kennt«.

Das Buch, nur noch dem Namen nach ein Roman, tatsächlich eher eine Reihung abbrechender Geschichten, erzählt von diesen Freunden, die sich allein darin ähneln, dass Bâtons Kontakt zu ihnen irgendwann erstirbt oder er selbst ihn aus unverständlichen Gründen einstellt: die Wirtin Lucie, die ihm gratis Essen kocht und mit der er eine ihn ekelnde Liebesbeziehung eingeht; der kleine Ganove Henri Billard, dessen Freundin Bâton zu seiner »Maîtresse« machen will, die sich jedoch nicht für ihn zu interessieren scheint; der Flussschiffer Neveu, den er vor dem Selbstmord bewahrt und in ein Unterhaltungslokal mitnimmt, wo er ihn aus den Augen verliert; Monsieur Lacaze, der ihm eine Stelle in seiner Firma anbietet, die Bâton sogleich verliert, weil er den Eindruck erweckt, dessen Tochter nachzusteigen; schließlich die Sängerin Blanche, mit der er eine Nacht im Hotel verbringt und die ihn zu mögen scheint, die er aber nie wiederzusehen versucht. Warum Bâton ausgerechnet mit diesen Menschen Freundschaft schließen möchte, was er sich von ihnen erhofft, was sie für ihn empfinden und warum genau die Freundschaft versiegt, bevor sie sich entwickeln kann, all das bleibt unklar, weil Bove konsequent gegen die Regeln des psychologischen Romans verstößt. So wie der Protagonist in der Eingangspassage sich als fremden Gegenstand, seine Gefühle und Sinneswahrnehmungen allein anhand der detaillierten Beschreibung einer undurchdringlichen Außenwelt darstellt, so lassen sich die Beweggründe und Gefühle der übrigen Figuren allein anhand ihrer stets mehrdeutigen Handlungen, Worte und Gesten erschließen. Am Ende wird Bâton von seinem Vermieter aus der Wohnung geworfen, nimmt aber auch dieses Ereignis nicht eigentlich als etwas wahr, das ihm geschieht: »Seltsam, wie alles weitergeht, ohne einen selber.«

In seinen späteren Romanen, am bekanntesten »Armand« und »Bécon-les-Bruyères«, beide 1927 erschienen und wie »Meine Freunde« von Peter Handke übersetzt, differenziert Bove dieses Modell, das am reinsten jedoch vielleicht in seiner Kurzprosa ausgeprägt ist, von der eine Auswahl auf Deutsch unter dem Titel »Begegnung« vorliegt. In ihr tritt auch das komödiantische, teils absurde Moment der Anerkennungssucht von Boves Prota-gonisten stärker in den Mittelpunkt. In der in Boves Todesjahr 1945 erschienenen Erzählung »Eine Kränkung« schildert ein auf seine großbürgerliche Herkunft lachhaft stolzer Angestellter die Bemühungen, seinem Chef, der ihn eben wie einen Angestellten und nicht anders als andere behandelt, die eigene Superiorität vor Augen zu führen. Zu diesem Zweck freundet der Erzähler sich mit Monsieur Liotard, einem honorigen Kunden an, bei dem er besondere Achtung gegenüber der eigenen sozialen Abkunft vermutet und mit dem er auf eigenes Risiko eine Geschäftsbeziehung eingeht.

Die Erzählung gipfelt in einer an die Kommunikationsverhinderung in den Stücken des Absurden Theaters erinnernden Szene, in der Monsieur Liotard, gerade dabei, dem Erzähler von der Unverschämtheit seines schmarotzerischen Neffen zu berichten, in einer Art fehlgelenktem method acting plötzlich sein Gegenüber für den Neffen zu halten scheint, ihn beschimpft, tätlich angreift und mit den Worten »Raus hier, du Strolch!« vor die Tür setzt. Den Erzähler, dessen »erste Reaktion« ist, »brieflich eine Entschuldigung« von Monsieur Liotard zu verlangen, erfasst alsbald eine für Boves Figuren charakteristische Mischung aus Selbstreflexion und Lähmung. Er zweifelt daran, ob er überhaupt »gekränkt« worden sei, fragt sich, ob er das Ganze nicht eher »mit einem Lachen« quittieren solle, und ist dann überzeugt, Monsieur Liotard, der für einen Augenblick »verrückt« geworden sei, werde ihm selbst eine Entschuldigung schicken. Daraufhin trifft zunächst tagelang gar kein Brief und dann einer ein, in dem Monsieur Liotard »nicht die geringsten Anspielungen« auf die vorangegangenen Ereignisse macht und die Vollmacht zurückverlangt, die er dem Erzähler zwecks Verwaltung seines Vermögen übergeben hat. Obschon Monsieur Liotard damit beim Erzähler das Gefühl erweckt, »als ob ich einen Fehler begangen hätte, über den man besser nicht spricht«, erinnert dieser sich nun aber nicht an sein ursprüngliches Vorhaben, seinem Partner einen Brief mit Bitte um Entschuldigung zu schicken, sondern entscheidet sich, die Sache nicht mehr anzusprechen und, ähnlich inkonsequent und scheinbar unmotiviert wie der Protagonist von »Meine Freunde«, die Beziehung absterben zu lassen: »Das Klügste war, ihm die Unterlagen, die er von mir verlangte, zurückzuschicken. Ich tat es auf der Stelle, und das setzte einen Schlusspunkt unter diese peinliche Geschichte.«
Dieser letzte Satz, alles andere als ein Schlusspunkt, sondern im Gegenteil Anlass für Fragen und Spekulationen, ist beispielhaft für die Schlüsse von Boves Geschichten, die oft gerade dort enden, wo sie, um etwas zu erklären, beginnen müssten. In einer ähnlich angelegten Erzählung mit dem Titel »Sie ist tot« beschreibt der Protagonist sein Verhältnis zu einer jungen Frau namens Jacqueline, die gerade geschieden ist und mit der er sich eine Beziehung erhofft. Nachdem sie eine Verabredung nicht eingehalten und sich tagelang nicht bei ihm gemeldet
hat, fragt er bei Jacquelines Mutter nach, die ihn mit der Behauptung konfrontiert, ihre Tochter sei gestorben. Jacquelines Bruder, den der Erzähler daraufhin aufsucht,
erklärt stattdessen, das könne die Mutter nicht gesagt haben, Jacqueline sei vielmehr zu ihrem ehemaligen Mann zurückgekehrt. Die Geschichte endet damit, dass der Erzähler verschiedene, mehr oder minder unwahrscheinliche Lösungsmöglichkeiten für das Rätsel aufzählt und sie durchnummeriert. Die letzte Möglichkeit lautet: »7.) Jacquelines Bruder hat recht. Ihre Mutter hat mir niemals mitgeteilt, dass Jacqueline tot sei. Ich habe es geträumt. Möglich

Die Maxime des Detektivromans, wonach, wenn alles Unmögliche ausgeschlossen ist, das Übrigbleibende, und sei es noch so unwahrscheinlich, die Lösung sei, erweist sich in Boves Rätseln ohne Lösung als ebenso unbrauchbar wie die Prämisse des psychologischen Romans, dass eine differenzierte Entfaltung der sozialen und individuellen Dispositionen der Figuren ihren bewussten wie unbewussten Motiven Transparenz verleiht. Ob der Protagonist verrückt, Opfer einer Intrige oder selbst der Intrigant ist, der sich durch ein gefälschtes Bekenntnis ins Recht zu setzen sucht, lässt sich nicht entscheiden. Weil die Figuren sich selbst, den anderen und den Lesern gegenüber unverständlich werden, zieht sich die Sprache auf die akribische Registratur von Oberflächenregungen zurück und beschreibt auch Gefühle und Reflexionen wie Bewegungen in einem Außenraum, deren Grund und Ziel ungewiss bleibt. Damit erweist sich Bove, dessen Angestelltenfiguren ohnehin an Josef K. aus »Der Prozess« erinnern, als Erbe Kafkas und zugleich Vorbereiter jener »absoluten Prosa«, welche Alain Robbe-Grillet, Claude Simon und die übrigen Vertreter des Nouveau Roman für sich in Anspruch nahmen, deren ebenso kriminologisch exakte wie undurchdringliche Beschreibungsprosa wiederum Peter Handke in seinem frühen Werk fortgeführt hat. Zugleich waren die Erzählungen Boves, der 1945 mit »La Piège« (»Die Falle«) einen denkbar unexistentialistischen Roman über die Résistance vorgelegt hat, mit ihrem Primat der Objektwelt und ihrer Darstellung einer opak gewordenen Subjektivität auch Gegenentwürfe zur sogenannten engagierten Literatur. Insofern hat Samuel Beckett, als er Bove einen der für ihn bedeutendsten Autoren nannte, einen Kreis geschlossen, den zu vermessen die Literaturgeschichte kaum begonnen hat.

Die von Peter Handke übersetzten Romane Emmanuel Boves sind im Suhrkamp-Verlag erschienen und ebenso wie die übrige, von verschiedenen Kleinverlagen herausgebrachte Prosa heute vergriffen. Der Band »Begegnung«, aus dem Französischen übertragen von Thomas Laux, dem neben Peter Handke bedeutendsten Übersetzer Boves, ist 2012 im Lilienfeld-Verlag herausgekommen.