Ein Wintermärchen aus der Wachau

Groll und der Dozent befanden sich auf langsamer Fahrt auf Güterwegen zwischen Krems-Lerchenfeld und Gneixendorf, einem Ortsteil von Krems, der in den Weinbergen und einer anschließenden Hochebene liegt. Die lößhaltigen Weinberge sind ihrer fruchtigen Veltliner- und Riesling-Weine wegen berühmt, die Riede »Sandgrube« zählt zu den bekanntesten der Wachau und hat in der Welt der Weinkenner einen ähnlichen Klang wie jener von Maserati für Liebhaber italienischer Sportwagen. Auf der Hochebene befindet sich seit Jahrzehnten der »Sportflughafen Krems«; Propellerflugzeuge, Motorsegler und reine Segelflugzeuge sind hier stationiert. Als Jugendlicher war Groll, der im nahen Lerchenfeld, der Werkssiedlung der Hütte Krems, später Voest Alpine Krems, aufwuchs, oft am Flughafenzaun gestanden und hatte beobachtet, wie Segelflugzeuge entweder im Schlepp einer Cessna oder durch eine Motorwinde in die Luft gebracht wurden. Letzteres war spektakulär, es schien, als würden die filigranen Flugzeuge von einer unsichtbaren Faust in den Himmel katapultiert. Damals schon war Groll aufgefallen, daß sich an der östlichen Seite des Flughafens ein Akazienwäldchen erstreckte, in dem Mauerreste, aber auch halbe Baracken oder Ruinen von Kommandobauten aus dem Grün der Bäume und des Strauchwerks hervorlugten. Es hieß damals, während des Krieges sei hier ein Lager gewesen, erzählte Groll seinem Freund, dem Dozenten, während sie  auf Serpentinen durch die Weinberge kurvten. Was es mit diesem Lager tatsächlich auf sich hatte, davon habe er in seiner Jugend keine Ahnung gehabt. Nun aber, da er einige historische Bücher studiert habe, lasse ihn die Geschichte dieses Ortes nicht mehr los. Und seit er im Pflegeheim Mautern, in dem seine Mutter lebe, eine Tischnachbarin seiner Mutter getroffen hatte, die im Lager als Köchin gearbeitet hatte, verwende er seine Besuche immer auch dazu, mit der alten Dame ein halbes Stündchen über das Lager zu sprechen. Auf diese Weise habe er gelernt, daß 1943 und 1944 bis zu 70 000 Menschen im »STALAG XVII b« gefangen waren.
»Die meisten Insassen stammten aus Polen, der UdSSR und Ungarn«, fuhr Groll fort, während der Dozent versuchte, trotz der holprigen Wege Notizen in ein Büchlein zu schreiben. »Aber auch Holländer, Belgier, Franzosen und republikanische Spanier waren in dem zweitgrößten Gefangenenlager auf österreichischem Boden, das gleichzeitig ein Nebenlager von Mauthausen war, inhaftiert. Dazu kamen noch amerikanische und britische Bomberbesatzungen. Während die letzteren gute Chancen hatten, zu überleben, war die Todesrate vor allem unter den sowjetischen Gefangenen erschreckend hoch. Beim Aufbau des Stahlwerks an der Kremser Donau (die spätere Voest Alpine Krems) schufteten Tausende ausländische Zwangsarbeiter, ähnlich wie beim Bau der Voest in Linz. Wie ja überhaupt ein Großteil der österreichischen Schwerindustrie, der sogenannten ‚Verstaatlichten‘, auf rüstungswichtige Betriebe der Nazis zurückzuführen ist, die sich beim Fortschreiten des Krieges immer mehr auf die ‚Alpenfestung‘ und vorgelagerte Bereiche an Donau und Inn konzentrierten. Daß eines Tages sogar die Ostmark erobert werden würde, war für die braunen Herren unvorstellbar. Es waren jene Betriebe und die rund hunderttausend beschäftigten
Arbeiter und Angestellte, die den materiellen Wohlstand der Zweiten Republik schufen.«
Der Dozent kritzelte in sein Notizbuch.
Es sei kein Zufall, daß die Blütezeit der verstaatlichten Schwerindustrie bis in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts parallel zum Aufstieg Österreichs als weltweit geachteter neutraler Kleinstaat verlaufen sei, ein mitteleuropäisches Kernland, das eine Brückenfunktion zwischen den Blöcken ausübte und daran nicht schlecht verdiente, fuhr Groll fort.
»Ich kenne die Geschichte Österreichs«, murmelte der Dozent. »Daß in der Industriegeschichte recht eigentlich des Pudels Kern in einem Land zu sehen ist, war mir in dieser Radikalität allerdings nicht bewußt«, räumte er ein. Es sei schon etwas anderes, wenn man die historischen Orte direkt vor Augen habe. Die Hochebene mit dem Flughafen – das ehemalige Lager – die Weinberge, die Au mit dem weitläufigen Hafengelände und das Stahlwerk, das heute noch weit über Tausend Beschäftigte aufweise und, soweit er gelesen habe, Jahr um Jahr Gewinne einfahre.
»Die nach Linz transferiert werden, auf daß die privaten Aktionäre nicht verhungern müssen«, erwiderte Groll. Sie kamen jetzt am Wasserwerk der Stadt Krems vorbei und nahmen eine Stichstraße aufs Hochplateau. Der Wagen rumpelte über die vom Regen ausgeschwemmte lehmige Straße mit ihren Furchen und Schlaglöchern. Der Dozent sah von seinen Notizen auf.
»Sozialminister Hundstorfer klagte neulich neulich darüber, daß Österreich keine großen transnationalen Konzerne nach schwedischem, holländischem oder schweizerischem Vorbild hervorgebracht habe. Somit fehle der Motor für sozialpolitische Fortschritte, denn die fänden immer noch in der großen Industrie statt, wo die Gewerkschaften stark und die ökonomischen Potenzen hoch seien. Hundstorfer habe nicht unrecht«, fuhr der Dozent fort. »Österreich ist ein Land der Klein- und Mittelbetriebe. Dementsprechend zersplittert ist ja auch der gesellschaftliche Überbau: Kammern, Innungen, Vereine und informelle Eliterunden. Die Folge ist ein Stillstand im politischen und administrativen System; ein verfilzter Föderalismus treibt skurrile Blüten, und die Verteidigung klientelistischer Machtansprüche bei Bauern, Lehrern, Bank- und Sicherheitsbeamten sowie eine endemische Korruption nicht nur im staatsnahen Bereich führen dazu, daß die Republik, die objektiv nicht so schlecht dasteht, den Eindruck eines innerlich zerfressenen und morschen, hölzernen Apparats erweckt.«
»Hundstorfer hat unrecht. Und zwar, wenn man objektiv ist, ausnahmslos und immerdar«, beschied Groll. »Sie wissen, was dieser Mann uns behinderten Menschen mit dem Behindertensparpaket vor zwei Jahren angetan hat, und Sie wissen, wie ich über die Gewerkschaft, die diese Schweinerei nicht etwa geduldet, sondern aktiv betrieben hat, denke. Zu glauben, daß dieser ÖGB, der sich durch Spekulationen aus eigener Schuld selbst entleibt hat, auch nur irgendeine fortschrittliche Maßnahme anstrebt und durchsetzt, ist illusorisch. Derzeit wird in aller Öffentlichkeit ein Sparpaket vorbereitet, das das Gesundheitssystem massiv einschränken wird und wieder sind es Gewerkschafter und SPÖ-Politiker, die sich zur Vorbereitung einer kommenden Privatisierung des Gesundheitssystems ins Zeug legen. Die Chefin der Wiener Gebietskrankenkasse, die aus der Privatangestellten-gewerkschaft kommt und ihr Kollege aus Oberösterreich sind wichtige Trommler für das Gesundheitssparpaket, das in den nächsten Jahren mehr als elf Milliarden einspielen soll. Im übrigen ist noch nie ein Industriestaat an Korruption zugrundegegangen.«
»Die Vertreter von Ministerium, Sozialversicherung und Länder nennen das Sparpaket euphemistisch ‚Kostendämpfung‘«, warf der Dozent ein. »Und man will damit in ‚die Fläche‘ gehen.«
»Eine Lüge«, widersprach Groll. »Wenn die medizinischen Leistungen komplexer werden, die Profite der Pharmakonzerne weiter steigen und von niemand bestritten werden, schon gar nicht von Gewerkschaftern; wenn dazu noch andere Faktoren der Kostensteigerung kommen, die dann nicht mehr bezahlt werden, sind Leistungseinschränkungen die unausweichliche Konsequenz. Aus der Tendenz zur Zwei-Klassen-Medizin wird solcherart ein Faktum.«
»Was macht Sie so sicher, daß Sie recht haben?«
Groll wich einem besonders großen Schlagloch aus. »Die Sprache dieser bürokratischen Voodoo-Zampanos: Sie sagen ‚Kostendämpfung‘ und meinen Leistungskürzung. Sie reden von ‚in die Fläche gehen‘ und meinen, daß niemand den Anschlägen auf den Sozialstaat entkommen wird. Wer die Sprache derart schindet und mißbraucht, hat, das wissen wir seit Karl Kraus, eine Menge zu verbergen. Seltsamerweise trommeln Funktionäre, die aus den Organisationen der Arbeiterbewegung kommen, besonders laut für den Sozialabbau. Leitende Angestellte von Gewerkschaften und Sozialversicherungsträgern, die eigentlich für das Gegenteil stehen müßten. Aber in Österreich haben die Dinge ja längst sich ins Gegenteil verkehrt. Da bereiten rote Funktionäre einen Putsch im Gesundheitswesen vor und ihre Kollegen von der schwarzen Seite studieren eifrig, welches Filetstück sie sich im Auftrag diverser Kapitalgruppen und Stiftungen als nächstes einverleiben werden.«
Der Wagen schlug mit der Bodenplatte auf, Groll reduzierte das Tempo nochmals. Der Dozent seufzte tief und meinte dann:
»Es ist schon eigenartig, daß Krankenkassen stolz darauf sind, Gewinne zu machen. Man sollte doch meinen, ihre Aufgabe sei die Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung.«
»Die Braut wird eben herausgeputzt, bevor sie verkauft wird. Seit 1990 sind die Privatisierungen der innere Wachstumstrieb der Republik, schauen Sie zu Bahn, Post und ORF. Überall finden die privaten Anleger etwas zum Knabbern, und mit dem Essen wächst bekanntlich der Appetit.«
Groll hielt an. Der Dozent klappte sein Büchlein zu.
»Das kann doch nicht die Zukunft sein!«
»Doch«, erwiderte Groll. »Mit der Stronach-Partei ist das politische
System für längere Zeit abgesichert. Es gibt jetzt genug Koalitionsmöglichkeiten ohne die rabiat-pöbelhafte FPÖ, die Geschäfte können ungehindert weiterlaufen.«
Der Dozent runzelte die Stirn. »Stronach als deus ex machina eines erstarrten Systems? Das klingt ja wie ein Raimund‘sches Feenmärchen.«
»In Österreich nehmen Märchen gern materielle Gewalt an.«
»Gilt das auch für Schauermärchen?«
Groll lächelte fein. »Für die erst recht.«
Dann schwiegen die beiden Freunde und ließen ihre Blicke über die Weinberge und die Donau schweifen.