Fuckin‘ Realism

Anmerkungen zu Quality TV

So dumm Fernsehen in der Regel ist, so dumm ist in der Regel die Kritik daran. Meist läuft sie auf die spießbürgerliche Klage hinaus, wer zu viel fernsehe, flüchte sich in eine Traumwelt; der Tüchtige greife lieber zu einem guten Buch oder gehe einfach mal unter die Leute. Demgegenüber hat Adorno schon früh darauf verwiesen, dass die Crux des Fernsehens nicht im Realitätsverlust, sondern in dessen übergroßer Realitätstauglichkeit besteht. Statt in die Ferne zu schauen, führt Fernsehen als sehenswert nur das vor, was ohnehin schon ist. Die Verdopplung des stumpfen Alltags demonstriert, dass aus der Enge der Verhältnisse kein Entkommen ist – nicht einmal und erst recht nicht im eigenen Wohnzimmer.

Skepsis ist also angebracht, wenn für das, was das so genannte ›Quality TV‹ charakterisiere, ausgerechnet das Schlagwort des »Realismus« kursiert. Gedacht ist dabei an jenen neuen Typus von Serien, wie sie seit den späten 90ern vorzugsweise von Pay-TV-Sendern wie HBO produziert wurden. Sie erlauben dem Bildungsbürgertum, endlich auch mit gutem Gewissen fernzusehen. Vorbei die Zeiten, als man den Fernseher höchstens einmal für den sprichwörtlichen ›guten Film‹ einschalten durfte: Galt früher die Form der Serie geradezu als Inbegriff der Stupidität, so wird sie heute, dank neuer Technik, für ihr ästhetisches Potential gefeiert. Individualisiertere Zugriffsformen erlauben erstmals komplexe Handlungsstränge, ohne dass zugleich die Gefahr bestünde, aufgrund einer verpassten Sendung ihnen nicht mehr folgen zu können; der echte Fan erwirbt eh die DVD-Box. So wird es ökonomisch überhaupt erst rentabel, die Folgen einer Staffel nicht mehr als endlose Variationen des immergleichen Settings zu präsentieren, sondern als Kapitel einer groß angelegten Story.

Nicht das Kino, sondern die Literatur gilt daher inzwischen als der passendste Referenzrahmen. Serien wie The Sopranos, The Wire, Breaking Bad oder Mad Men werden von der Kritik gerne als Fortschreibung der großen realistischen Romane des 19. Jahrhunderts geadelt. Freilich spricht daraus, wie Ivo Ritzer in seinem klugen Essay Fernsehen wider die Tabus zeigt, nicht zuletzt das Legitimationsbedürfnis: Was der gehobene Mittelstand konsumiert, muss zwanghaft mit den Weihen der Hochkultur versehen werden. Dazu gehört etwa die Rede von den »Autorenserien«. Sie behandelt ausgerechnet ein hochgradig arbeitsteilig hergestelltes Produkt, als sei es wie anno dunnemals im stillen Dichterkämmerlein entstanden – ein letzter Triumph des Originalgenies (oder, wie es unter Kennern auch heißt: des Auteur), in dessen schöpferischem Glanz sich die Zuschauer sonnen können.

Bemerkenswerter noch erscheint eine weitere Legitimationsstrategie, die im Mittelpunkt von Ritzers Essay steht: die Nobilitierung von sex, crime and four-letter-words. Was die Bürger in früheren Jahrzehnten als Schmutz und Schund geißelten, als Appell an die niederen Instinkte, davon können sie heute gar nicht genug bekommen.[1] Zum Teil ist das schlicht Ergebnis cleveren Marketings. Weil Pay-TV-Sender wie HBO weder den Zensurvorschriften der Federal Communications Commission unterworfen sind, die die Frequenzen vergibt, noch das sittliche Empfinden der werbenden Wirtschaft in Rechnung stellen müssen, kann bei ihnen nach Herzenslust rund um die Uhr geflucht, gevögelt und gemartert werden, und das ist das Pfund, mit dem sie wuchern. Ob avantgardistische Mafiaserie, ein Gore-Fest wie Spartacus oder die Beate-Uhse-Seifenoper Sex and the City: alles erscheint gleichermaßen als Free-Speech-Bewegung mit kulturindustriellen Mitteln.
Die plebejische Sprache, die zur Schau gestellte Leiblichkeit wirken freilich nicht bloß als spektakuläre Tabubrüche, sondern als solche zugleich auch als Signalmarken des neuen Realismus: Hier wird Wirklichkeit unverhüllt gezeigt, ohne Zuckerguss und ohne falsche Scham. Das ist durchaus eine zweischneidige Angelegenheit. Den Blick nicht abzuwenden, wenn es hässlich oder schmutzig wird, zerschlägt nicht einfach den Schein, dem das Fernsehen verschworen ist, sondern ist ihm zugleich zu Diensten. Kulturindustrie kann ja vor allem eines nicht ertragen – die Vorstellung, dass sich ihr etwas entzieht, in ihr nicht abbildbar wäre. [2]

Wenn eine Produktion Aufschluss über die Qualität des realistischen Fernsehens gewährt, dann wahrscheinlich die Polizeiserie The Wire. Vom Feuilleton nicht selten als beste Fernsehserie aller Zeiten gefeiert, wurde ihr Schöpfer David Simon bereits für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen; die FAZ feierte sie bündig als »Balzac-TV«. Und zweifellos macht The Wire ziemlich vieles ziemlich richtig. Die Darstellung des Kampfes gegen die den Drogenhandel Baltimores kontrollierenden Gangs verweigert sich jeder einfachen Lösung. The Wire führt keine Helden vor, sondern zeigt die Institutionen, die das Handeln der einzelnen bestimmen: das police department wie die Drogenszene, später auch Schulen, Gewerkschaften, Presse und Politik – und das erkenntnisreich und präzise[3], reflektiert in Hinblick auf race, class und gender und dazu stellenweise erstaunlich komisch. Erst die Konzentration auf die Übermacht der Institutionen lässt wiederum den Einzelnen Gerechtigkeit widerfahren: Sie führt vor Augen, wie diese mit den sozialen Zwängen und psychischen Beschädigungen, welche die Entfaltung von Individualität verhindern, ihren je individuellen Umgang finden; und macht so aus kursierenden Klischees, ob nun Cop, Junkie oder Gangsta, lebendige Menschen.

Vor allem aber ist The Wire eine einzige Anklage gegen das Prohibitionsregime, jenem endlosen war on drugs, der sein Kriegsziel nie erreicht, aber – weil in den deindustrialisierten Innenstädten kaum ein anderer Zugang zum gesellschaftlichen Reichtum bleibt als die Schattenwirtschaft – den Ghettoisierten das Leben zur Hölle macht. Leider beginnt damit auch das Problem. Beliebt nämlich, wie die Serie bei Akademikern und Intellektuellen ist (und wie beliebt, davon künden Aufsatzsammlungen über Urban Decay oder Race, Class, and Genre ebenso deutlich wie die Tatsache, dass Einführungsbücher in renommierten Philosophieverlagen erscheinen), ist diese Attraktion, wie der Fernsehkritiker Sean T. Collins spekuliert, paradoxerweise nicht zuletzt darauf zurückzuführen, wie wenig intellektuelle Arbeit The Wire in gewisser Hinsicht verlangt. Um das, was man gerne ›kritischen Gehalt‹ nennt, freizulegen, bedürfe es weder ausgiebiger Deutung noch gar Selbstbefragung[4]; es reiche, abzugleichen, ob man über Legalisierung, standardisierte Leistungsüberprüfungen oder Neoliberalismus das gleiche denkt wie Simon und Burns.

Das ist, schon auf der politischen Ebene, nicht immer die klügste Entscheidung. Simon und Burns haben, wie Daniel Eschkötter in seiner Wire-Einführung sehr zu recht bemerkt, einen Hang zur Nostalgie: Früher, als nicht bloß die Aufklärungsquote, das Testergebnis oder die Auflagenhöhe zählte, sondern das Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit, als Menschen noch von ehrlicher Arbeit leben konnten und selbst die Verbrecher sich an ungeschriebene Gesetze hielten, kurz: als es noch gemeinschaftlich zuging und nicht so anonym wie heute, war die Welt noch in Ordnung. Das verlorene sozialdemokratische Glück verdichtet sich zum Bild des Streifenpolizisten, wie er als Ideal durch die Serie spukt. Früher, belehrt der kluge Major Colvin seine Untergebenen, hätten die Polizisten, bevor der war on drugs sie in Soldaten verwandelt habe, die Menschen in ihrem Revier nicht nur kontrolliert, sondern gekannt und mit ihnen Pläuschchen gehalten, und auch die Anwohner erinnern sich auf ihren community meetings sehnsuchtsvoll daran zurück – als hätten die Deklassierten je Grund gehabt, die Staatsmacht anders denn als Okkupanten wahrzunehmen.

Die Sentimentalität steht dabei nicht im Widerspruch zum realistischen Postulat. Schon dem literarischen Urbild eignete, gerade weil es die Totalität der Gesellschaft ins Bild setzen wollte, bei aller Modernität doch zugleich ein Hang zu überschaubaren Verhältnissen. Der Erkenntnis, dass eine von abstrakten Verkehrsformen beherrschte Wirklichkeit auch in der Darstellung der Abstraktion bedarf, war Movens des avantgardistischen Romans von Proust bis Beckett; hinter dessen Lehren fällt die scheinbar naive Wiederaufnahme im 21. Jahrhundert nicht ungestraft zurück. So wenig Gesellschaft bloß eine Ansammlung von Individuen ist, so wenig auch ist sie einfach ein Geflecht von Institutionen; wird das nicht reflektiert, versandet selbst die anspruchsvollste Darstellung im unfruchtbaren Soziologismus, der vor den Fakten kapituliert. Wenig sprechender in dieser Hinsicht als das Fazit aus Simons und Burns‘ The Corner, ihre Schilderung des Junkielebens an den Straßenecken von Baltimore: Mag es für den einzelnen auch Hoffnung geben – die Corner selbst sei »unwandelbar«.

Wenn The Wire dennoch nicht in ohnmächtiger Empörung aufgeht, dann darum, weil die Serie, in ihren besten Momenten, ihren Realismus immer zugleich auch durchbricht – sei es, indem sie, wie von Jens Schröter analysiert, den Zuschauer in die Position des Überwachers versetzt (und so die mediale Vermitteltheit der Bilderproduktion reflektiert); sei es, indem sie ihre Lust an dem im Polizeiapparat vorherrschenden ›rauh, aber herzlich‹-Tonfall bis ins Surreale überdehnt (und zwei Ermittler minutenlang nichts als das Wörtchen »fuck« in immer neuen Intonationen sagen lässt); sei es schließlich, indem sie Bilder findet, die gerade darum, weil sie den Schrecken überdeutlich einfangen, zugleich ganz enigmatisch bleiben (die seltsam geschlechtslose Auftragsmörderin, die sich im Baumarkt angeregt mit dem Verkäufer über die technischen Eigenschaften von Nagelpistolen unterhält). Derart findet die Genauigkeit im Hinschauen zu sich selbst: im Einbekenntnis, dass Gesellschaft in dem Bild, das man sich von ihr macht, ganz aufgehen weder kann noch sollte.

Literatur

David Simons / Ed Burns, The Corner. Bericht aus dem dunklen Herzen der amerikanischen Stadt. Kunstmann 2012, 796 S., 24,95 Euro
Daniel Eschkötter, The Wire. Diaphanes 2012, 95 S., 10,- Euro
Diedrich Diederichsen, The Sopranos. Diaphanes 2012, 111 S., 10,- Euro
Christoph Dreher (Hg.), Autorenserien: Die Neuerfindung des Fernsehens, Merz Akademie 2010, 324 S., 32,90 Euro
Ivo Ritzer, Fernsehen wider die Tabus. Sex, Gewalt, Zensur und die neuen US-Serien. Bertz + Fischer 2011, 135 S., 9,90 Euro
Jens Schröter, Verdrahtet. The Wire und der Kampf um die Medien. Bertz + Fischer 2012, 110 S., 9,90 Euro
T. Potter / C. Marshall (Hg.), The Wire: Urban Decay and American Television. Bloomsbury 2013, 254 S.
L. Kennedy / S. Shapiro (Hg.), The Wire: Race, Class, and Genre. Univ. of Michigan Press 2012, 303 S.

[1] Eingeübt wurde das, in den Jahren davor, bereits im Regietheater: Keine Inszenierung, in der die Schauspieler nicht mindestens einmal kotzen, rülpsen oder sich ausziehen.
[2] In welchem Maße die Ungekünsteltheit selbst noch Inszenierung ist, macht das Beispiel der Westernserie Deadwood deutlich, die – man weiß ja, dass es im Westen rauh zuging – von allen ›Quality-TV‹-Serien die höchste fuck-per-minute-Rate aufweist. Dumm nur, dass das 19. Jahrhundert die allseitige Verwendbarkeit des four-letter-word noch gar nicht kannte; aber den Zuschauern wären die authentischen Flüche der Zeit wohl als gänzlich unauthentisch, weil zu bieder, vorgekommen.
[3] Simon und sein Partner Ed Burns, früher selbst Polizist, dann Lehrer, haben, vor ihrer Arbeit an der Serie, als Journalisten jeweils über Monate sowohl Mordermittler als auch Junkies bei ihrem Tagewerk begleitet.
[4] Darin unterscheidet sich The Wire etwa von den Sopranos: Die Mafiaserie provoziert, wie Diedrich Diederichsen ausführt, immer wieder das Entsetzen, wie leicht wir uns mit jemandem identifizieren können, der zu den bestialischsten Taten fähig ist.