Die Opfer der »Operation Friedensquelle«

Thomas Schmidinger gibt einen Einblick in die derzeitige Situation jener Menschen, die vor einem Jahr aus Nordsyrien vertrieben worden waren. Zwar gelang es, zumindest einige selbstverwaltete Camps zu errichten, die Covid-19 Pandemie hat die Bedingungen dort aber noch weiter verschlechtert.

Ein Jahr ist es her, dass die Türkei mit dem zynisch als »Operation Friedensquelle« bezeichneten Angriff auf Nordostsyrien über 230.000 Menschen in die Flucht trieb und einen Grenzstreifen mit zwei größeren Städten und hunderten Dörfern für ihre islamistischen Verbündeten in Besitz nahm.

Nach einem Telefonat mit Erdogan hatte US-Präsident Trump am 7. Oktober 2019 den vollständigen Rückzug der US-Armee aus Syrien erklärt und damit der türkischen Armee grünes Licht für einen Einmarsch in die kurdischen Gebiete gegeben, der zwei Tage später begann. Nach einigem Hin und Her, bei dem Trump zwischendurch auch wieder die Vernichtung der türkischen Wirtschaft androhte, nahm Russland das Heft des Handelns in die Hand. Der russische Präsident Putin einigte sich über die Köpfe der Betroffenen hinweg am 22. Oktober in Sotschi auf einen Abzug der YPG/YPJ aus einem 30 Kilometer tiefen Grenzstreifen und eine türkische Besatzung einer etwa 120 Kilometer langen Region, die westlich von Tal Abyad beginnt und östlich von Serê Kaniyê endet. In den anderen Grenzregionen sollte die syrische Regierungsarmee gemeinsam mit der russischen Militärpolizei die Grenze sichern. Zwar zog die YPG selbst tatsächlich aus dieser Grenzregion ab. Die lokalen Militärräte der SDF sind jedoch weiter präsent und kooperieren dort mit der syrischen Armee und Russland. Die syrische Armee selbst ist nur mit leichten Waffen und relativ wenigen Soldaten präsent.

Das grüne Licht, das Präsident Trump zum Angriff der türkischen Regierung gab, führte allerdings nicht, wie anfangs angekündigt, zum völligen Rückzug der USA. US-Truppen sind immer noch in der Region präsent, allerdings nur dort, wo es Erdöl gibt, wie dies auch offiziell von der US-Regierung erklärt wurde. Im Sommer gab Colonel Myles Caggins, der Sprecher der Combined Joint Task Force Operation, bekannt, dass insgesamt 600 US-Soldaten in Hasaka und Deir az-Zor, den beiden nordöstlichen Provinzen Syriens, unter Kontrolle der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) stationiert sind. Weitere 150 sind gemeinsam mit Resten der Freien Syrischen Armee in der Wüstengarnison at-Tanf stationiert. Für Aufregung sorgte Ende Juli die Unterzeichnung eines Vertrags der kurdisch dominierten Selbstverwaltung Nordost-Syriens mit der US-amerikanischen Ölfirma Delta Crescent Energy LLC über die Ausbeutung genau dieser Ölquellen. Von der syrischen Regierung scharf kritisiert, hofft die Selbstverwaltung damit wohl, den Rest der US-Armee im Land zu behalten und einen erneuten Angriff der Türkei zu verhindern.

Die neue Militärbasis des US-Militärs wurde seit Anfang dieses Jahres in unmittelbarer Nachbarschaft des größten Zeltlagers der Vertriebenen aus den türkisch besetzten Gebieten errichtet: Über 9.000 Vertriebene aus Serê Kaniyê (Arabisch: Ras ul-Ayn) wurden im Washukanni-Camp vor den Toren der Provinzhauptstadt Hasaka notdürftig in Zelten untergebracht. Das Camp wird von Flüchtlingen aus der Stadt selbst verwaltet. Die Stadtverwaltung der bis zum Herbst 2019 etwa 55.000 Einwohner zählenden Stadt hat sich hier im Camp rekonstituiert, und versucht, das Camp nach denselben rätedemokratischen Prinzipien zu verwalten, wie bis zum türkischen Angriff die Stadt selbst.

Die BewohnerInnen des Camps spiegeln die Vielfalt der Stadt selbst wider, die 1878 von tschetschenischen Flüchtlingen aus dem Kaukasus gegründet worden war. Zu den Tschetschenen, die vor der russischen Expansion geflohen waren, kamen nach dem Genozid von 1915 armenische Flüchtlinge, christliche Assyrer, Kurden und Araber dazu. Aus jesidischen Dörfern in der Umgebung zogen schließlich auch Angehörige dieser nichtislamischen religiösen Minderheit in die Stadt. So bildete Serê Kaniyê die gesamte Vielfalt der Bevölkerung Nordostsyriens ab.

Anfang 2013 gelang es jihadistischen Milizen, die Stadt teilweise einzunehmen, ehe diese im Juli 2013 von kurdischen KämpferInnen der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ vertrieben werden konnten. Auch die zweite große Stadt des 2019 von der Türkei besetzten Gebietes, das mehrheitlich arabische Tal Abyad, wurde von Jihadisten erobert, in diesem Falle von Kämpfern des Islamischen Staates, ehe es 2015 von YPG und YPJ eingenommen wurde. Im Gegensatz zu Serê Kaniyê hatte der IS unter Teilen der arabischen Bevölkerung Tal Abyads durchaus seine UnterstützerInnen. Ein Teil dieser IS-UnterstützerInnen floh 2015 vor den Kurden und kehrte nun im Herbst 2019 mit der türkischen Armee zurück.

Im Gegensatz zu Serê Kaniyê flohen auch nicht alle Araber aus Tal Abyad. Wie zuvor mit dem IS und der YPG arrangierte sich ein Teil nun mit der Türkei und den syrisch-islamistischen Milizen, die die Türkei ins Land brachte. Lediglich die AraberInnen, die mit der kurdisch dominierten Selbstverwaltung zusammengearbeitet hatten und die wenigen christlichen BewohnerInnen der Stadt flohen vor einem Jahr; die ChristInnen bereits zum zweiten Mal. Schon 2013 hatte der IS die Armenische Heiligkreuz-Kirche in der Stadt verwüstet. Die meisten Angehörigen der Gemeinde flohen. 2015, nach der Vertreibung des IS durch YPG und YPJ, kamen einige der ArmenierInnen zurück. Die kurdisch geführte Selbstverwaltung unterstützte die Renovierung der Kirche. 2019 verwüsteten dann am 31. Oktober nach der Eroberung der Stadt durch die Türkei syrisch-islamistische Milizen erneut die Kirche. Die Türkei sollte später behaupten, die YPG hätte die Kirche als Militärbasis benutzt. Mit großem Propagandaaufwand wurde die Kirche erneut renoviert und eine Wiedereröffnung unter türkischem Schutz inszeniert. Von der Gemeinde selbst ist jedoch kaum wer in der Stadt geblieben.

Völlig vertrieben wurden die ChristInnen aus Serê Kaniyê. Hier lebten nicht nur ArmenierInnen, sondern auch aramäischsprachige AssyrerInnen, die verschiedenen Konfessionen angehören, genauso die JesidInnen und KurdInnen. Selbst viele der arabischen und tschetschenischen BewohnerInnen der Stadt leben heute als Vertriebene in Zeltlagern oder in notdürftig zu Unterkünften umfunktionierten Schulen. Damit waren nicht nur die Schulkinder der Vertriebenen betroffen, sondern auch andere SchülerInnen in vielen Teilen des Landes, deren Schulen einfach nicht mehr als Lernorte zur Verfügung standen. Noch schlimmer hat es jene Schulkinder getroffen, die nun als Vertriebene in den Lagern untergebracht wurden. Unter den Vertriebenen befinden sich laut Angaben der Selbstverwaltung insgesamt etwa 90.000 Kinder, die nicht nur die Häuser ihrer Familien, sondern auch ihre Schulen verloren haben.

Um zumindest eine rudimentäre Schulbildung für alle zu ermöglichen, wurden viele Schulen in der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens nun in eine Art Schichtbetrieb umgestellt. In vielen Schulen wird mittlerweile in drei Schichten unterrichtet: Vormittags, Nachmittags und Abends.
Versorgt werden die Vertriebenen fast ausschließlich vom Kurdischen Roten Halbmond und der Selbstverwaltung. Die internationale Gemeinschaft interessiert sich nicht für das Schicksal dieser Opfer der »Operation Friedensquelle«. Dabei trafen die vor einem Jahr vertriebenen Menschen bereits auf rund 700.000 andere intern Vertriebene, die in Nordostsyrien ausharren: Vertriebene aus den Kampfzonen mit dem »Islamischen Staat«, aus dem bereits 2018 von der Türkei besetzten Afrin oder aus anderen Teilen Syriens. Insgesamt beherbergt die Region heute nur eine Million intern Vertriebener unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit und Konfession.

Viele Vertriebene konnten bei Verwandten Unterschlupf finden und keineswegs alle leben in Zelten. Jene, die keine Verwandten mit ausreichend großen Häusern haben oder sich keine Wohnung an einem anderen Ort mieten können, landen allerdings in Zeltlagern wie im Washukanni-Camp bei Hasaka oder im Newroz-Camp bei Derik. Dort müssen sie auf beengtem Raum mit rudimentären Sanitäranlagen und einer auf das Allernötigste reduzierten medizinischen Versorgung auskommen.

Dies stellt insbesondere in Zeiten wachsender Covid-19-Infektionen in Syrien ein massives Problem dar. Zwar gelang es den Behörden der Selbstverwaltung mit einem relativ strikten Lockdown und einer starken Einschränkung der Bewegungsfreiheit, die Infektionszahlen in Nordostsyrien deutlich unter jenen anderer Regionen des Landes oder gar der irakischen und türkischen Nachbarn zu halten, allerdings weiß niemand, ob dies so bleibt. Als die ersten Infektionsfälle in Syrien bekannt wurden, existierte nicht einmal eine einzige Testmöglichkeit in Nordostsyrien, da der einzige für die Testung nötige PCR-Block ausgerechnet im Krankenhaus von Serê Kaniyê zu finden war. Mit der Stadt war dieser im Oktober 2019 in die Hände der türkischen Besatzer gefallen. Erst als es mit Hilfe der Solidaritätsbewegung gelungen war, die entsprechenden Gerätschaften ins Land zu schmuggeln, bestand überhaupt die Möglichkeit, Personen mit entsprechenden Symptomen zu testen.

Die Leiterin des größten der Vertriebenencamps, Selwa Saleh, selbst Vertriebene aus Serê Kaniyê, hat ihr eigenes Zelt mitten unter den anderen Zelten von Washukanni errichtet. Sie hofft einen Massenausbruch von Corona im Camp verhindern zu können und legt viel Wert auf Aufklärung und Hygiene. Allein die 9.000 BewohnerInnen des Camps mit Seife zu versorgen, stellt allerdings eine große logistische Herausforderung dar.

Stolz ist die junge Frau, die vor der Besetzung ihrer Heimatstadt bereits in der Stadtverwaltung von Serê Kaniyê aktiv war, dass ihre Leute nicht nur passive EmpfängerInnen von Hilfe sind, sondern das Geschehen im Camp selbst aktiv mitbestimmen. Bei meinem letzten Besuch vor dem Lockdown im Februar 2020 erklärte sie: »Wir haben das Kommunen- und Rätesystem hier beibehalten und versuchen, damit unsere demokratische Selbstverwaltung weiterhin aufrecht zu erhalten. Je zwanzig Zelte bilden eine Kommune und mehrere Kommunen gemeinsam bilden dann wiederum eine weitere Einheit und so weiter. Das gesamte Camp wird also von den Vertriebenen selbst verwaltet.« Die Hoffnung auf eine demokratische Zukunft wird so auch unter den Vertriebenen am Leben gehalten.

Im Washokani Camp
Selwa Saleh (Bilder: Thomas Schmidinger)