Im Kaleidoskop der Erinnerungen

Zur Genealogie der Moral in Maxim Billers neuen Roman Sechs Koffer.

Ziemlich genau 50 Jahre nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die ČSSR erschien Maxim Billers nunmehr vierter Roman mit dem Titel Sechs Koffer nicht zufällig im August 2018. Anders als die unverdaute Lektüre des vor zwei Jahren veröffentlichten psycho-philosophischen Experimentalromans, der überwiegend auswurfähnliche Rezensionen und Missbilligungen nach sich zog, zeichnet sich ab, dass die Bewertung des neuen Buchs aufgrund der konventionelleren formalen wie inhaltlichen Gestaltung des literarischen Stoffs bei Feuilletonisten deutlich weniger ablehnend ausfallen wird. Es spricht sogar einiges dafür, dass Billers Roman streckenweise das Potential enthält, zum Glanzstück deutschsprachiger Literatur zu werden.

Dies zumal die kaleidoskopische, facettenreich schillernde Atmosphäre durch sechs Perspektiven hindurch (Vater Sjoma, Mutter Rada, Onkel Dima, Tante Natalia, Onkel Lev und Schwester Jelena) erfolgt. Die Fäden des Handlungsplots bündeln sich dabei stets im namenlos bleibenden Ich-Erzähler. Dieser stellt dar, wie er sich zu verschiedenen Zeitpunkten seines Lebens mit der Ur-Szene des verratenen Großvaters auseinandersetzt, um das zutiefst gestörte familiäre Beziehungsgeflecht zu entwirren und zu sich ins Verhältnis zu setzen. Obwohl es vordergründig um das Rätsel des Verrats am Großvater und dessen Verurteilung zum Tode »wegen schwarzer Geschäfte und anderer jüdischer Tricksereien« (S. 132) geht, porträtiert der Erzähler im Hintergrund das dunkle Gesicht einer Zeit und seiner eigenen darin verkapselten Lebensgeschichte. Während Wassili Grossman hier auf Bertolt Brecht trifft, plaudern Milan Kundera und Scholem Alejchem nebenbei über glück- oder unglückbringende Liebe.

Relevanter Zugang zum inneren Verständnis des Romans ist das politische Klima in der UdSSR und ČSSR in den 1950er und 60er Jahren, das sich dadurch auszeichnet, dass der Weg zum Sozialismus mit menschlichem Antlitz trotz Tauwetter-Periode und Prager Frühling unwiederbringlich versperrt bleibt. Diese Erfahrung ist prägend für Billers politische Sozialisation. So schrieb Biller an anderer Stelle über sich: »Ich kam aus dem Osten, aus Prag, mein Vater hatte in Moskau studiert und war von der Universität geflogen, weil er, selbst ein Kommunist, seinem besten Freund anvertraut hatte, Stalins Kampagne gegen die so genannten Kosmopoliten sei purer Antisemitismus, worauf der Freund ihn bei der Partei denunziert hat – und so weiter. Diese Geschichte, die zu Hause oft erzählt wurde, hat mich geprägt, sie hat mich mehr geprägt als jede Geschichte von irgendwelchen verrückt gewordenen Nazimassenmördern. Denn sie hat mich gelehrt, dass das Totalitäre an einem totalitären System vor allem ist, dass es sich um den Einzelnen im Namen der Systemlüge oder – schlimmer noch – Systemwahrheit nichts scheißt und erst recht nicht um dessen im Zweifel immer wahrere, weil menschliche Wahrheit.«

Die sechs Koffer symbolisieren die durch äußere politische Einflüsse ausgelöste Wanderschaft der jüdischen Familie Gregorewitsch. Schauplätze der Handlung sind Moskau, Prag, Montreal, Hamburg, München, Berlin, Zürich und Leukerbad. Die Koffer verweisen im Allgemeinen auf die Verfolgungs- und Diasporageschichte der Juden. Sie stehen im Besonderen für das bei einer Flucht verwendete Transportbehältnis äußerst persönlicher Gegenstände, die die eigene Lebensgeschichte im fremden Land bezeugen. Im Roman markieren sie zugleich sechs Kapitel mit jeweils stark verschobenen Fokuslenkungen. Bemerkenswert ist, dass die Ambivalenz von Erinnerndem und Erinnertem permanent durchgehalten wird. Indem der Ich-Erzähler davon berichtet, dass seine Erinnerung »meist nur aus Bildern besteht und viel weniger aus Worten und Sätzen« (S. 110), wird der Erinnerungsprozess selbst zum Gegenstand des Erzählens. Der Erzähler wird nicht müde zu betonen, dass er selbst nur glaubt zu wissen oder sich einfach nicht sicher sein kann. Da er aber Zugang zum Innenleben der Figuren hat, ihm die von der tschechoslowakischen Staatssicherheit angelegte Akte über seinen Onkel Dima sowie ein an seinen Vater adressierter Brief seiner Tante Natalia Gelernter in die Hände fallen, lassen sich die Puzzleteile der Familiengeschichte neu ordnen, ohne dass die detektivische Suche nach Gewissheiten dadurch an ein Ende kommen würde.

Symptomatisch für den lückenhaft bleibenden Versuch, die geheimnisvolle Familiengeschichte zu enträtseln, ist die literarisch-ästhetische Vermittlung unzuverlässiger Erinnerung, die sogar in sich widersprechenden, irrelevanten Details oder durch falsche Erinnerung ausgestaltet wird. Exemplarisch für falsche Erinnerung steht das im Buch Bertolt Brecht zugeordnete Zitat: »Ich glaube von jedem Menschen das Schlechteste, selbst von mir, und ich habe mich noch selten getäuscht.« (S. 86) Tatsächlich stammt es von Johann Nestroy, beschreibt aber eine Maxime sowjetischer Politik treffend. Demnach steht potentiell jeder Einzelne im Verdacht, trotz politisch-exzessiver Indoktrination und Manipulation der marxistisch-leninistischen Heilslehre abtrünnig zu sein. Weiterhin ist die originelle Erzählsituation dadurch gekennzeichnet, dass der Ich-Erzähler wie ein auktorialer Erzähler für die anderen Figuren Erinnerung erfindet, so dass eine Literatur möglich wird, die als hyperfiktionalisierte Wirklichkeit wahr darin ist, Täuschung zu sein.

Die vielfach ineinandergreifenden Verästelungen der Geschichten der auf dem Papier zum Leben erweckten Figuren ist derart verzahnt mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts, dass der Roman die Paradoxie aufzulösen scheint, wonach darüber nicht mehr erzählt werden kann, was dringend nach Erzählung verlangt. Dies hängt auch damit zusammen, dass der Erzähler die Perspektiven originell verpackt, um den geheimnisvollen Verrat des großväterlichen Familienoberhauptes Schmil Gregorewitsch darzustellen. Der Verrat lässt sich als Vatermord lesen, der von klein auf zum tiefgreifenden Verlust des Ur-Vertrauens beim Ich-Erzählers führt. Folglich charakterisiert der Vater Sjoma seinen klugen, sechsjährigen Sohn, den Erzähler, so: »Warum stellt sich der Junge die Welt immer so dunkel und hässlich vor?« (S. 13)

Es gelingt zwar mit Ausnahme des hingerichteten Großvaters allmählich allen Familienmitgliedern auf »die andere Seite der Wirklichkeit« (S. 63) zu fliehen. Doch die realsozialistische Paranoia hinterlässt tiefe Spuren des Misstrauens und der Missgunst, der Verdächtigungen und des Verrats wegen, und lebt in unlösbaren Konflikten innerhalb der Familie fort, in der ein Bruder notfalls nicht davor zurückschreckt, einen anderen, bereits geflohenen Bruder in eine Falle zu locken oder aber den Vater an die Staatssicherheit zu verraten. Erschwerend kommt hinzu, dass das weltanschaulich fest verankerte Gerücht über Juden diesen unterstellt, einen zionistischen, bourgeoisen und kosmopolitischen Komplott zu schmieden. Die Flucht aus dem Ostblock hat für Schmil Grigorewitschs vier Söhne daher eine doppelte Funktion: Flucht vor dem grassierenden Antisemitismus, der sich offiziell gegen wurzellose Kosmopoliten richtet, sowie Flucht vor der eigenen »gierigen, brutalen, sentimentalen, paranoiden Schtetlfamilie« (S. 167). Genau genommen findet das instrumentelle Verhältnis der KPdSU zu Wahrheit und Moral seine negative Entsprechung darin, dass der Erzähler zwischenzeitlich resigniert und gesteht, dass es ihm über ist, sich mit seinen »seltsamen Verwandten und ihren halben Wahrheiten und ganzen Lügen« (S. 104) auseinanderzusetzen.

Dennoch fährt er wie ein Getriebener zeitlebens damit fort, Licht ins Dunkle bringen zu wollen. Inhalt und Form durchdringen sich bei der Suche nach dem rätselhaften Ursprung der familiengeschichtlichen Leerstelle gegenseitig. Da das Geheimnis vom Tod des Großvaters sich nicht durch die Vergegenwärtigung von Vergangenem rekonstruieren lässt, besetzt der Romantext als solcher die Leerstellen in dem einem Puzzle gleichenden Familienporträt, um als unhintergehbares Dokument die Sinnlücken zu schließen. Das vergangene Leben von seiner Unverständlichkeit zu befreien, gelingt hier dadurch, dass sich dem Leben trotz aller Undurchsichtigkeit nachträglich, indem es zur Geschichte wird, Sinn geben lässt.

In einem vielfarbig gestalteten Panoramabild leuchten Porträts von Figuren auf, die vor dem Hintergrund einer zunächst bipolar aufgeteilten Welt dadurch an Kontur gewinnen, dass Misstrauen jedes Vertrauen, Willkür jede Berechenbarkeit verunmöglichen. Der Erzähler versucht über die kollidierenden Lebensgeschichten der Familienmitglieder sich selbst auf die Schliche zu kommen. Denn in der Gestaltung der Einsicht in die Vergeblichkeit, das Familienpuzzle zusammenzusetzen, entfaltet sich ein durch Erfahrung gesättigtes, dennoch nicht vollkommen abgerundetes Ganzes. Was bleibt, ist das Geheimnis und die Angst davor, dass nichts zurückbleibt, was von Bedeutung wäre.

Maxim Biller: Sechs Koffer, Köln, Kiepenheuer & Witsch, ISBN: 978-3-462-05086-8, 19 EUR, 208 S.