So lange es geht, geht‘s

Dem Verleger, Gründer des legendären März-Verlages und begnadeten Erzähler Jörg Schröder zum 80. Geburtstag.

Literatur braucht nicht nur Autoren und Leser, also solche, die Bücher schreiben, und jene, die sie dann auch lesen, sondern auch Verleger, also diejenigen, die Bücher verkaufen und Autoren und Leser zusammenbringen. Legendäre Verlage und Verleger gibt es einige, Wieland Herzfelde mit Malik oder Peter Gente mit Merve zum Beispiel. Aber selbst unter den legendären sticht einer heraus: Jörg Schröder, Gründer des März-Verlages. »Trotz seiner relativ kurzen Lebensdauer – nämlich von März 1969 bis Oktober 1972 – gehört der März Verlag zu jenen wenigen Unternehmen, die literarische Geschichte gemacht haben und nicht etwa nur Skandale und Sensatiönchen, wie es heute und morgen sicher einige gern wissen möchten. Dem März Verlag, seinem Erfinder Jörg Schröder und einigen seiner literarischen Helfer verdanken wir die Kenntnis eines spezifischen Teils der nordamerikanischen Literatur der sechziger Jahre, die mit dem Schlagwort ›Neue Sinnlichkeit‹ nur ungenügend gekennzeichnet ist. Heute schon steht fest, dass Titel wie ›Acid‹, der von Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla herausgegebenen Dokumentation dieser Literatur, dass Titel wie ›Schöne Verlierer‹ von Leonard Cohen, ›Die Wiederkehr des verschwundenen Amerikaners‹ von Leslie A. Fiedler und auch Edgar Snows ›Roter Stern über China‹, um nur einige zu nennen, zu jenen Büchern gehören, die eine Epoche repräsentieren, die nicht zu den beliebigen Eintags- und Jahresfliegen gehören, die nachwirken werden. Was den März Verlag im Gegensatz zu anderen, jüngeren, zum Teil sogenannten ›linken‹ Verlagen ausgezeichnet hat, war die Originalität, der künstlerische Instinkt und ganz und gar undogmatische Geist.« Das schrieb Karl Heinz Bohrer 1972 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, anlässlich des Erscheinens von Schröders »Siegfried« und es gehört zu den schönen Pointen dieses Presselobs, dass in »Siegfried« auch die Anekdote enthalten ist, wie Schröder einst gegen Bohrer wegen Verleumdung prozessierte – aber das ist eine andere Geschichte (wen sie interessiert, der kann sie ab Seite 289 nachlesen). Bohrer konnte damals freilich noch nicht wissen, dass der März-Verlag und vor allem sein Verleger sich als weitaus zählebiger erweisen sollten. Zwar muss der Verlag 1972, um seine Gläubiger zu beruhigen, einen Vergleich anmelden, im Jahr darauf auch Konkurs. Doch schon 1974 wird März wieder gegründet und vertreibt alte wie neue Titel über Zweitausendeins. 1981 trennt sich der Verlag von Zweitausendeins und versucht, sich im Buchhandel zu behaupten. Weil das kaum gelingt, trotz spektakulärer Rettungsaktionen, wird der Verlag 1989 liquidiert, das Verlagsarchiv wandert nach Marbach ins Deutsche Literaturarchiv. Schröder und die 1981 zum Verlag gekommene Barbara Kalender beginnen mit einem neuen Format: »Schröder erzählt«, einer Reihe von kleinen Büchern für eine kleine Anzahl von Subskribenten, selbst gestaltet und selbst vertrieben. Die erste Folge von 1990 heißt »Glückspilze«, die 68. und letzte, dieses Jahr ausgelieferte »Der Glücksgott«. Seit 2013 gibt es eine März Gesellschaft e.V., die sich des März-Erbes angenommen hat und deren Vorsitzender niemand anderes als Schröder selbst ist. Und nun, zum 80. Geburtstag am 24. Oktober 2018, ist mit umfangreichem Anhang von Barbara Kalender bei Schöffling & Co. eine erweiterte Neuauflage von »Siegfried« erschienen, Lebens- und Verlagsgeschichte, von Schröder erzählt und seinem damaligen Mitarbeiter Ernst Herhaus aufgenommen und bearbeitet – und noch immer mit einigen gerichtlich erzwungenen Schwärzungen versehen. Der Nach-März, er dauert an.

Was aber ist es, das den März-Verlag mit seinen unverwechselbaren fetten roten Lettern auf gelben Grund, mit Büchern, die »eine Epoche repräsentieren«, wie Bohrer schrieb, »literarische Geschichte« machen ließ? Eng verbunden ist die Geschichte des Verlages mit den Ereignissen um 1968. Im Juni 1968 hielt der amerikanische Literaturwissenschaftler Leslie Fiedler in Freiburg im Breisgau einen Vortrag mit dem Titel »The Case for Postmodernism«, in der BRD in Christ und Welt und im Jahr darauf im Playboy unter dem bekanntgewordenen Titel »Close the Gap, Cross the Border« veröffentlicht. Close the Gap bezog sich auf den zu überwindenden Unterschied zwischen Hoch- und Trivialliteratur, Cross the Border auf die Überwindung bürgerlicher Erfahrungswelten. Das betraf Pop und Porno, Beat-Poetry, Science Fiction und Comic und war ein Auftrag für ambitionierte Verleger und Lektoren. Jörg Schröder, der im Vor-März beim Melzer-Verlag arbeitete, hatte dort nicht nur Victor Klemperers »LTI« über den Nazi-Jargon unter dem Titel »Die unbewältigte Sprache« als Ersterscheinung in der BRD, sondern auch eine Sammlung amerikanischer Underground-Gedichte unter dem Titel »Fuck You (!)« und den unter dem Pseudonym Pauline Réage erschienenen erotischen Roman »Geschichte der O« gemacht. Mit dem Pariser Bohème-Verleger Maurice Girodias, bei dessen auf Erotica spezialisierten Verlag Olympia Press Autoren wie Henry Miller, William S. Burroughs, George Bataille, D.H. Lawrence, Anaïs Nin und Vladimir Nabokov veröffentlichten, war Schröder übereingekommen, einen deutschen Ableger zu machen. Melzer sollte mit einsteigen. Doch dazu kam es nicht, Schröder trennte sich von dem Verlag, nahm Autoren, Mitarbeiter und Bücher mit und gründete den März-Verlag. Das war im März 1969. Anklänge an Kurt Schwitters Dada-Kunstbegriff Merz kamen sicher nicht ungelegen, auch wenn tatsächlich der Gründungsmonat namensgebend war. Pop, Porno, Politik – ganz im Sinne Fiedlers Proklamation der literarischen Postmoderne legte der Verlag los. Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygalla brachten den Band »Acid« heraus, eine Sammlung von Texten aus der amerikanischen Szene, darunter Jack Kerouac, Burroughs und Charles Bukowski. Später kamen Gedichte und Romane von Leonard Cohen hinzu, »Schöne Verlierer«, »Das Lieblingsspiel«, »Wem sonst als dir« und »Blumen für Hitler«. Dann Robert Crumbs »Head Comix«, Ken Keseys »Einer flog übers Kuckucksnest« und Werke von Upton Sinclair, der mit seinen sozialrealistischen Reportagen schon Bertolt Brecht beeindruckte. Ganz im Zeichen der sexuellen Befreiung stand Günter Amendts »Sexfront«, ein Klassiker der politischen Sexualaufklärung. Dazu gesellten sich simple literarische Pornographie wie »Laß jucken Kumpel« und »Das Bullenkloster« von Hans Hennig Claer, aber auch »Lucy‘s Lustbuch«, dessen Auflage nach einem der zahlreichen Gerichtsverfahren wegen Verbreitung von Pornographie eingestampft werden musste. Auch Hermann Nitschs »Orgien Mysterien Theater« erschien bei März, ebenso wie Valerie Solanas‘ großartiges »S.C.U.M. Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer«. Und dann eine Reihe politischer Bücher, Edgar Snows »Roter Stern über China«, das mit einigen Vorurteilen über die chinesische Revolution und auch das von westlichen Linken verkitscht-verklärte Tibet aufräumte, Frantz Fanons »Für eine afrikanische Revolution«, weitere Bücher über die antikolonialen Bewegungen in Afrika und Asien, Willi Münzenbergs »Propaganda als Waffe« und das Buch »Die Nazi-Olympiade« über die Olympischen Spiele 1936, publiziert während derer in München 1972. Dazu kamen noch die ab 1968 beliebten Bücher über alternative Pädagogik, von Siegfried Bernfelds »Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse« über Edwin Hoernles »Grundfragen proletarischer Erziehung« bis »Erziehung zum Ungehorsam«, einem Bericht über antiautoritäre Kinderläden. Aus dem späteren Verlagsprogramm sind noch drei Titel besonders hervorzuheben: Bernward Vespers 1977 im »Deutschen Herbst« erschienenes autobiographisches Buch »Die Reise«, ein Schlüsselroman zur Geschichte der 68er und der RAF. Dann Jules Vallès‘ »Jacques Vingtras«, der Bericht von einem der Pariser Kommunarden von 1871. Und außerdem der große Erfolg »Die Vernichtung der weisen Frauen« von Gunnar Heinsohn und Otto Steiger, ein Buch über die Hexenverfolgung zu Beginn der Neuzeit, das aber im Gegensatz zu kursierenden Trivialdeutungen als deren Ursache nicht den Hass der vermeintlichen männlichen modernen Rationalität auf die ursprüngliche weibliche Irrationalität ausmachte, sondern eine bevölkerungspolitische Analyse vorlegte. März war immer mit dem Zeitgeist, ohne diesem Zugeständnisse auf Kosten der Vernunft zu machen. Das Programm ließ sich weder mit Antiamerikanismus noch Obskurantismus in Verbindung bringen.

Schröder war als Verleger überaus talentiert. Er hatte Mut, Geschmack, Risikofreude, die Fähigkeit zur Entscheidung, aber auch zur öffentlichkeitswirksamen Inszenierung, zum Bluff und zur Beschwichtigung von Gläubigern. Erfolg war auch immer ein Kriterium, aber es war nicht ein fetischisierter Zweck, sondern eben ein Mittel, Literatur, von der man selbst – und die zahlreichen Freunde des Verlages – überzeugt war, bekannt zu machen. Titel, die gemacht werden mussten, wurden gemacht, wenn es auch am Rande des finanziell Möglichen war. Und kaum jemand aus dem Literaturbetrieb hat so offen über denselben geredet wie Schröder; gedankt wurde es ihm mit zahlreichen Prozessen gegen seine eigenen Veröffentlichungen. Seine Einblicke offenbarten, neben einer intimen Kenntnis der literarischen Szene und ihrer Abgründe, vor allem eine beeindruckende Fähigkeit zum Erzählen. Schröder hat die Anekdote und den Klatsch als literarische Genres mit hoher Kunstfertigkeit beherrscht wie kaum ein anderer. »Schröder erzählt, assoziativ, aber konzentriert, ohne Verschlüsselungen, ohne Rücksichtnahme auf die Vorsichtsgebote des Betriebs, wie dieser, wider jede Vernunft, funktioniert, also von Besser- und Bescheidwisserei, Betrug, Eitelkeit, Geheimabsprachen, Größenwahn, Ideenklau, Kalkül, Kaputtheit, Kleinlichkeit, Konkurrenzangst, Korruption, Kränkungen, Liebedienerei, Missgunst, Mobbing, Neid, Obsessionen, Rachsucht, Realitätsverlust, Schlamperei, Schulden, Selbsttäuschung, übler Nachrede, Verlogenheit, Wichtigtuerei usw. – mithin vom ganz normalen Irrsinn, aber nicht verallgemeinert und vulgärpsychologisch verschleiert, sondern in der konkreten Präzision von Klatsch«, schreibt der Literaturwissenschaftler Jan-Frederik Bandel in »Immer radikal, niemals konsequent. Der März-Verlag – erweitertes Verlegertum, postmoderne Literatur und Business Art«. Neben »Siegfried« und »Schröder erzählt« erschien 1982 das mit Uwe Nettelbeck entstandene »Cosmic«, in dem Schröder auf so böse wie komische und zudem treffende Weise die Alternativen und die Friedensbewegung zerpflückt, wie es sonst nur Wolfgang Pohrt in seinen Artikeln getan hat. Was jetzt, nach Schröders 80. Geburtstag und dem Ende von »Schröder erzählt« noch zu erwarten ist? Wer weiß. In der Dokumentation »Die März Akte« sagte Schröder: »So lange es geht, geht‘s.« Dass es noch eine ganze Weile weitergeht, der Nach-März fortdauert, das ist dem Jubilar sehr zu wünschen.

Jakob Hayner
 

Jörg Schröder signiert die ›Siegfried‹-Neuausgabe, die im Frankfurter Schöffling Verlag erschien. (Bild: März Verlag)