Mozarts Hanswurst und die Dialektik der Aufklärung

In einem wenig bekannten Opus aus der Feder Wolfgang Amadé Mozarts fährt »Wurstl« seinen Herrn Leander im Schubkarren auf die Bühne, und am Ziel angekommen – dem Wohnort der Geliebten des Herrn, wo natürlich auch die Geliebte des Wurstls lebt –, leert er den Schubkarren aus. Um die genaue Adresse zu erkunden, »schmeckt« er sodann an den beiden in Frage kommenden Häusern, während sein Herr sich in sehnsüchtigen Deklamationen ergeht:

LEANDER: O Rosaura! Wie sehne ich mich nach dem glücklichen augenblick dich wieder zu sehen - zu umarmen – Nun Wurstl – hörst du was? – was teufel machst du denn? - warum schmeckst du denn so herum?

WURSTL: Seyens doch still. – wenn Meine trautel in einem von diesen beyden Häusern ist, so schmeck ich sie gewis; - ich kenn ihren Geruch noch ganz gut; aber seyens Mäusel Still, das sag ich ihnen, sonst verlier ich den geruch, und dann...

LEANDER: nun so mach nur hurtig.

WURSTL: (schmeckt an dem Hause rechts) Pfui, pfui... das ist ein gestank! Da ists nichts, (schmeckt an dem hause links) a ha! – welch himmlisch-süßer geruch! – Ja, ja, du kommst von meiner lieben trautel! - Nu -geschmeckt hab ich dich, izt möcht ich dich auch gern sehen, (er klopft an)

Daraufhin erscheint Trautel in Gestalt einer Riesin und die Geliebte des Herrn – wie könnte es anders sein – als Zwergin. An dieser Stelle bricht der Text leider ab.
Dieses undatierbare Fragment mit dem Titel Die Liebesprobe ist nicht der einzige Versuch Mozarts im Genre des Hanswurst. Bekannter sind seine Kompositionen: O Du eselhafter Martin (KV 560), Leck mir den Arsch fein recht schön sauber (KV 382d) und Leck mich im Arsch (KV 382c). Die Nachwelt, insbesondere natürlich das 19. Jahrhundert, hat sich auch hier bemüht, den Hanswurst aus Mozarts Leben und Werk zu verdrängen; schon im Verlag Breitkopf & Härtel finden sich die drei Kanons – nicht ganz uninspiriert – umgetextet: Statt Leck mir den Arsch fein recht schön sauber heißt es »Nichts labt mich mehr«; statt Leck mich im Arsch »Laßt froh uns sein«. Seine häufigsten und wohl auch bekanntesten Auftritte als Hanswurst absolvierte Mozart in seinen Briefen. Der Hang zur Sexual- und Fäkalkomik, wie er insbesondere in der Korrespondenz mit dem »Bäsle«, aber fast ebenso ausgeprägt in späterer Zeit, zutage tritt, sucht selbst in der wenig prüden Briefliteratur des 18. Jahrhunderts seinesgleichen.

Mit solchen Auftritten als »Edler von Sauschwanz« komplettiert Mozart gewissermaßen seine Phänomenologie des Komischen. Sie reicht von der Fäkal- und Sexualkomik der Briefe und der Liebesprobe bis zur Aufhebung des Hanswurst in der Gestalt Figaros. Er gehörte also gewiss nicht zu jenen aufgeklärten Geistern, die den Hanswurst verbannen wollten – womöglich, wie in Wien, mittels administrativer Maßnahmen. Er teilte vermutlich die Meinung Lessings, der solche ärarischen (staatlichen) Poetiken ihrerseits als »Harlekinade« der Aufklärung verspottete und nicht nur Gottsched, sondern auch »des Herrn von S. [Sonnenfels] allzu strengen Eifer gegen das Burleske« monierte. So gibt Mozart zwar in einem Brief an den Vater den französischen Aufklärern recht, wenn sie meinen, »daß in der Musick der Hanswurst noch nicht ausgerottet ist«, doch zugleich möchte er – wie er in einem anderen Brief schreibt – »daß die Musick bald einen arsch bekommt – denn das ist das notwendigste; einen köpf hat sie izt – das ist eben das unglück«.

Von Figaro zu Don Giovanni

Beaumarchais’ Figaro-Komödie hat Mozart und seinen neugewonnenen Textdichter Lorenzo da Ponte mit einer Handlung bekannt gemacht, worin der Hanswurst in Konflikten aufgelöst ist. Indem der Diener hier keineswegs mehr zum adeligen Herrn bloß parallel geführt wird (wie auch Wurstl in der Liebesprobe), sondern in Konflikt mit ihm tritt, entstehen völlig neue musikalische Möglichkeiten. Die monotone Abhängigkeit der plebejischen komischen Figur von den adeligen Helden schloss Konflikte, die alle Personen unmittelbar konfrontieren konnten, ebenso aus wie die in der Opera seria kultivierte Gestalt des Intriganten. Nun aber ist jeder zeitweise ein Intrigant und jeder zeitweise ein Hanswurst – und damit gibt es weder den einen noch den andern mehr. Eben diese Möglichkeit eines allseitigen Konflikts scheint Mozarts musikalisches Ingenium herausgefordert zu haben. Das Glück der Figaro-Oper lebt, wie Ivan Nagel schreibt, »in der Gabe aller Personen, sich ohne Rest mitzuteilen: als leuchtend vollständige Anwesenheit jedes Einzelnen in dem Verhältnis, das er zu jedem Anderen, Freund oder Feind, knüpft.« Damit verliert Figaro natürlich auch die männliche Monopolstellung, die Hanswurst in der unteren sozialen Sphäre innehatte: Figaros Braut verlässt das Schema der alten Komödie vor allem in der Musik. Die Selbstbewusstheit, die Blondchen in der Entführung aus dem Serail nur gegenüber Osmin – wenn auch überaus eindrucksvoll angesichts dieses Barbaren – behaupten konnte, wird von Susanna verallgemeinert: Sie ist in jeder ihrer Beziehungen wirksam.

Seltsam klingt Figaros aufmüpfige Melodie in der Gegenwart von Leporello und Don Giovanni; wie ein Gassenhauer oder wie Tafelmusik – keineswegs aber wie der Vorbote der Revolution. Der Mund Leporellos ist dabei – wie der des alten Hanswurst – voll, und die Hose wird es auch bald sein. Wieder ist der Diener einer, der nur neben dem Herrn einherläuft und einhersingt. Er trennt sich von ihm und singt ohne ihn nur, wenn der Herr ihn zu diesem Dienst ausdrücklich beauftragt hat. Ein Konflikt zwischen Herrn und Knecht ist so gut wie undenkbar – anders übrigens als in Molières älterer Dramatisierung des Stoffes, worin der Diener, er heißt hier Sganarelle, durchaus Don Juan etwas entgegenzusetzen hatte. Wenn aber Leporello sich als Don Giovanni verkleiden muss, um wieder einmal für diesen den Schimpf und die Prügel zu kassieren, dann stellt man mit Erstaunen fest, wie ähnlich Herr und Knecht geworden sind. Nicht Edelmut und heroische Lebenshaltung trennen die Sphäre des adeligen Helden von der ‚niedrigen‘, ‚gemeinen‘ und kreatürlichen des Hanswurst. Don Giovanni ist selbst niedrig und kreatürlich; auch ihm geht es nur um die zwei Dinge: Vivan le femmine! Viva il buon vino! Er riecht die Frauen, ehe er sie sieht, ganz wie der Wurstl, der an den Häusern schmeckt. Allerdings gewinnt die Niedrigkeit eine ungeheure und für alle Personen des Dramas gefährliche Größe. Don Giovanni erscheint auf den ersten Blick als ein ins Dämonische gesteigerter Hanswurst.

Doch das wäre eine unmusikalische Betrachtungsweise des Don Giovanni. Die Musik nämlich ist es, die den »Wüstling« und seinen Diener in dramatische Zusammenhänge versetzt. Diese Zusammenhänge besitzen jedoch ihrerseits nicht mehr dieselbe Kohäsionskraft wie im Figaro: Es ist eine urbane Welt, in der die Personen sich kaum oder gar nicht kennen; die musikalischen Sphären der Paare Donna Anna/Don Ottavio und Masetto/Zerlina sind deutlich geschieden. In der berühmten Drei-Orchester-Szene des ersten Finales hat Mozart ihre Heterogenität bis ins metrische Extrem getrieben. Doch letztlich stellt die Musik – Zerlinas Hilfeschrei weckt das große Orchester – Homogenität wieder her, in dem auch das Bündnis gegen Don Giovanni erneuert werden kann. Die Musik ist es allerdings auch von Anfang an, die Don Giovanni selbst, dem gewisse Züge de Sades nicht fehlen, fortwährend zur Verstellung zwingt: Er gibt sich in ihr den Schein des Verliebten, der ebenso auf das adelige Recht der ersten Nacht, auf Gewalt, verzichtet und statt Regression Entfaltung verspricht – er wird zum Verführer. Im Rezitativ sinkt er auf das Niveau der Hanswurst-Sinnlichkeit zurück. Als Singender aber belügt er sich auf wunderbare Weise selbst. »Weil er nicht mehr die Gewalt des jus primae noctis hat, wird er zum Sendboten der Lust, schon ein wenig komisch für die Bürger, die jene rasch genug sich verbieten«, schreibt Adorno über Don Giovanni: »Zerlina hatte recht, daß sie ihn mochte.«

Hanswurst als Spießbürger

Wie harmlos und konventionell wirkt dagegen Papageno. Auch er hat natürlich nichts anderes im Kopf als die bekannten zwei Bedürfnisse: ein gutes Glas Wein und ein »Weibchen« dazu, doch scheint er in seiner kleinen Hütte und mit seinem kleinen Tauschgewerbe gesittet und spießbürgerlich geworden zu sein. Etwa gleich weit ist er vom rebellierenden Diener wie vom adeligen Wüstling entfernt. Während ihm alles Höhere und Erhabene fremd bleibt, besitzt er doch alles, was den Höheren und Erhabenen – den eingeweihten Funktionären der Aufklärung – fehlt: die Fähigkeit des sinnlichen Genusses und den Blick auf die materiellen Voraussetzungen des Erhabenen. Bekanntlich wird er auch nicht eingeweiht in die höhere Gesellschaft – die Aufklärung hat ihn nicht wirklich erreicht, nur tangiert. Das neue, das bürgerliche Gemeinwesen scheint ohne seine Mündigkeit auszukommen – dessen Grundgesetz lautet, von den sinnlichen Bedürfnissen und den materiellen Voraussetzungen zu abstrahieren.

Die Dissoziation der Handlung, der Orte und der Personen ist gegenüber Don Giovanni bedeutend fortgeschritten. (In Cosi fan tutte erreicht Mozart die Einheitlichkeit nur mehr um den Preis einer weitreichenden Reduktion des Raumes, der Handlung und der Personen; in La clemenza di Tito durch den – freilich vom Auftraggeber geforderten – Rückgriff auf die anachronistisch gewordene Opera seria.) Die Welt, die im Figaro zur Einheit geworden war, zerfällt der Zauberflöte wieder in oben und unten – und dies im Zeichen des Antagonismus von Sonne und Nacht, Aufklärung und Aberglauben – im Namen also des Fortschritts und des aufgeklärten Monarchen. Gewiss, Mozarts Musik kämpft dagegen an, und vielleicht liegt eben die ganz besondere Schönheit der Zauberflötenmusik darin, dass sie einzelne Momente, die an die Stelle des zwischenmenschlichen Bezugs getreten sind – wie die Zauberinstrumente und die drei Knaben – mit ihrem Klang illuminiert. So verbindet sie auch Papageno und Pamina im Duett, macht Tamino zu einem sinnlich Liebenden, obwohl die Geliebte nicht anwesend ist.

Mit der Vermitteltheit des zwischenmenschlichen Bezugs dürfte darum die singuläre Bedeutung des Klangs in dieser Oper zusammenhängen. Charles Rosen spricht von der äußersten Grenze, die Mozarts Spätstil erreicht: »Die Reinheit und Kahlheit sind hier so extrem geworden, daß sie nahezu exotisch anmuten, und diese fast vorsätzliche Dürftigkeit wird von der exquisiten Orchestrierung nur noch stärker herausgearbeitet. Jede der reifen Mozart-Opern besitzt ihren eigenen Klangcharakter, aber in keiner steht dieser Klang derartig im Vordergrund, ist er von so unmittelbarer und fundamentaler Wirkung wie in der Zauberflöte.«

Rückgewinnung des Widerspruchs

Papageno muss freilich erst dazu verführt werden, an der Handlung überhaupt teilzunehmen. Während Prinz Tamino nur das Bildnis Paminas anzusehen braucht, um sich freiwillig in den Konflikt zu mischen, bedarf es bei Papageno der Überredungskunst – und diese ist bei Mozart in Musik gesetzt. Im Quintett Nr. 5 folgt im Zuge eines expositionsartigen Teils, in dem Papagenos Mund vom Schloss befreit wird, die Übergabe der Flöte an Tamino: Die Musik kehrt damit nach der Dominante (F-Dur) wieder zur Ausgangstonart (B-Dur) zurück und greift das Motiv der Einleitung variierend auf, das Papagenos Mund die Freiheit gebracht hat. Beide Male haben die Worte den Charakter einer allgemeinen Sentenz und werden auch von allen Anwesenden, einschließlich Papageno, gesungen: Konnte man zuvor auf der Dominante hören – »Bekämen doch die Lügner alle ein solches Schloß vor ihrem Mund ...«, heißt es nun in der Ausgangstonart – »so eine Flöte, ist mehr als Gold und Kronen wert, denn durch sie wird Menschenglück und Zufriedenheit vermehrt«.

Das Musikstück könnte hier mit einer kleinen Reprise ohne weiteres enden. Schließlich heißt die ganze Oper nach der Flöte, und Tamino ist ihr Held. Und Papageno könnte ja in einem anschließenden lustigen kleinen Dialog dazu gedrängt werden, dem Prinzen zu folgen.

Doch Mozart komponiert weiter: Papageno versucht sich musikalisch aus dem Staub zu machen, in D-Dur möchte er sich empfehlen – und in der Folge entsteht nun tatsächlich ein kleiner Konflikt, der die vorschnelle Lösung wieder zurücknimmt. Wollte man die Begriffe der Sonate verwenden, könnte von einer kleinen Durchführung gesprochen werden. Wichtiger aber ist, dass der Konflikt mit Papageno nicht nur mehr Zeit in Anspruch nimmt als die Übergabe der Flöte an Tamino, sondern auch, dass er die Musik harmonisch und rhythmisch anreichert. Von den drei Damen gestellt, gerät Papageno in eine zornige Mollstimmung, versucht gar noch auf die Dominante zu gelangen. Doch bald verwandelt sich sein kleiner Zorn in Angst – und die Angst wiederum weicht, wie oft bei Papageno, sofort der Neugier: Über die Moll-Parallele von B-Dur kehrt er wieder zur Ausgangstonart zurück, sobald er die Glöckchen erblickt. Und jetzt hören wir die dritte Variation des Motivs, das zuvor allgemeine Sentenzen gleichsam transportiert hat – nun aber durch einen Rhythmus aufgelockert, der vom Glockenspiel herzurühren scheint, und mit Worten, die konkreter geworden sind: »Silberglöckchen, Zauberflöten sind zu unserem Schutz vonnöten ...«

Das Quintett exponiert, was es bedeuten kann, Hanswurst in die dramatische Handlung hineinzuziehen: Der Idealismus des Allgemeinen, der Furcht und kreatürliche Verletzlichkeit nicht kennt, wird konterkariert, die Musik und das Denken lernen den Widerspruch, ohne den beide im Grunde nicht leben können. So ist es gewiss kein Zufall, dass im Finale der Zauberflöte sogar der von den Eingeweihten Ausgeschlossene wenigstens musikalisch wieder auftaucht, wenn eine Melodie in einem tänzerischen Rhythmus erklingt, eine Melodie der Leichtigkeit, die, wie Georg Knepler schreibt, »eher in Papagenos Mund passt als in den Sarastros und der Seinen«.

Leichtigkeit und Höllenfahrt

Was als Versöhnung ausgegeben wird, ist nach Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung nur Apologie der fortbestehenden Herrschaft. Darum muss für die Utopie das Bilderverbot gelten: Wie schon im Judentum soll es davor bewahren, Herrschaft, Unterdrückung und Verfolgung irgend zu verklären. »Die jüdische Religion duldet kein Wort, das der Verzweiflung alles Sterblichen Trost gewährte. Hoffnung knüpft sie einzig ans Verbot, das Falsche als Gott anzurufen, das Endliche als das Unendliche, die Lüge als Wahrheit. Das Unterpfand der Rettung liegt in der Abwendung von allem Glauben, der sich ihr unterschiebt, die Erkenntnis in der Denunziation des Wahns. Die Verneinung freilich ist nicht abstrakt. Die unterschiedslose Bestreitung jedes Positiven, die stereotype Formel der Nichtigkeit, wie der Buddhismus sie anwendet, setzt sich über das Verbot, das Absolute mit Namen zu nennen, ebenso hinweg wie sein Gegenteil, der Pantheismus, oder seine Fratze, die bürgerliche Skepsis. Die Erklärungen der Welt als des Nichts oder Alls sind Mythologien und die garantierten Pfade zur Erlösung sublimierte magische Praktiken. Die Selbstzufriedenheit des Vorwegbescheidwissens und die Verklärung der Negativität zur Erlösung sind unwahre Formen des Widerstands gegen den Betrug. Gerettet wird das Recht des Bildes in der treuen Durchführung seines Verbots.«

Weil die Verneinung nicht abstrakt ist, lenkt sie die Aufmerksamkeit auf die Fragen ästhetischer Form, in der zwar keineswegs die Versöhnung selbst zu finden wäre, aber umso mehr deren unmittelbare Voraussetzungen hervortreten können. Und eben diese Voraussetzungen stellten sich in der vorrevolutionären Klassik Goethes und Mozarts noch wesentlich anders dar als in der Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts. Leichtigkeit und desinvolture (Gewandtheit) erscheinen hier als Formkriterien: als ob die Versöhnung nur ein kleiner Schritt hin zur Natur wäre – als Anschmiegen der Gegensätze, Nachlassen in der Herrschaft über die Natur, die außermenschliche wie die inwendige. So gelingt es Mozart, die Regressionen der Hanswurstfigur, die auf diese Weise verkörpert, was von der Aufklärung verleugnet wird, mit Leichtigkeit in Handlung aufzulösen.

In Goethes Iphigenie wird diese desinvolture selbst nur noch gleichsam negativ zur Sprache gebracht: »Nimmt doch alles ab! / Das beste Glück, des Lebens schönste Kraft / Ermattet endlich: warum nicht der Fluch?« Darin liegt so etwas wie das Geheimnis der klassischen Form, die schließlich von einer Gesellschaft, die nie ermattet in der Akkumulation, gesprengt werden musste. »Das Gleichnis der Iphigenie vom Ermatten ist«, so Adorno, »der Natur abgesehen. Es gilt einer Gebärde, die sich ergibt, anstatt auf sich zu pochen; aber auch ohne zu entsagen.« Besänftigung ohne Niederlage, Trennung ohne Verrat ist möglich – das vermitteln nicht nur die Werke Haydns und Mozarts, die den Konflikt mit einer Art Pointe auflösen, es ist das eigentliche Formprinzip der klassischen Sonate: die Reprise ist die Besänftigung, sie bringt nach der tonartlichen und motivischen Entgrenzung des Konflikts in der Durchführung die Abmilderung des ursprünglichen Gegensatzes zwischen Haupt- und Seitenthema.

Der Wahnsinn des Orest und das »Lied der Parzen« in der Iphigenie nicht anders als die Höllenfahrt des Don Giovanni stellten allerdings bereits diese Möglichkeit eindringlich in Frage und zeichnen eine Gesellschaft, die im Unheil keine Ermattung kennt und immer neu der Gewalt bedarf – und das sogar in dem Sinn, dass noch im Unheil selbst das Äußerste verhindert werde. Das Entsetzen, das darin laut wird, kann nicht besänftigt werden, nur vergessen, wie im unnachahmlichen Abschied des Thoas, der wider besseres Wissen so gerne als Versöhnung ausgegeben wird; oder wie in der Schluss-Szene des Don Giovanni, die Adorno nach Mahlers Vorbild zu streichen empfahl, so wenig auch die Haupttonart am Ende der Höllenfahrt stabilisiert wirkt, ja gerade deshalb. In der Iphigenie drohte eben noch die Praxis des Menschenopfers, die Thoas wieder einführen könnte, und im instabilen letzten Akkord der Höllenfahrt bleibt die Konfrontation Don Giovannis mit dem »steinernen Gast« als eine Folter- oder Hinrichtungsszene Szene in Erinnerung.

Literatur

Theodor W. Adorno: Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie. Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 11. Frankfurt am Main 1997.
Theodor W. Adorno: Klemperers »Don Giovanni«. Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 19. Frankfurt am Main 1997.
Theodor W. Adorno; Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung.
Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Bd. 3. Frankfurt am  Main 1997
Georg Knepler: Wolfgang Amadé Mozart. Annäherungen. Berlin 1991.
Charles Rosen: Der klassische Stil. München; Kassel 1983
Gerhard Scheit: Hanswurst und der Staat. Eine kleine Geschichte der Komik: Von Mozart bis Thomas Bernhard. Wien 1995.
 

Gerhard Scheit lebt als freier Autor in Wien. Er ist Mitbegründer der ideologiekritischen Zeitschrift sans phrase und veröffentlicht zu zahlreichen Themen aus dem Umkreis der Kritischen Theorie, darunter besonders zur Kritik der politischen Gewalt, der Kritik der politischen Ökonomie und der Kritik des Antisemitismus. Im August 2022 erschien sein neues Buch »Mit Marx. 12 zum Teil scholastische Versuche zur Kritik der politischen Ökonomie« im ça ira-Verlag.