Eine deutsche Kritik des Geistes

Magnus Klaue beschreibt, wie sich der Poststrukturalismus im bundesrepublikanischen Wissenschaftsbetrieb der achtziger Jahre etablierte.

Die akademischen Geburtshelfer der Postmoderne in der Bundesrepublik waren keine Nachfahren der Achtundsechziger, sondern gegen den Staub der Archive allergisch gewordene Philologen. Ihre publizistische Hausanschrift war nicht der Merve-Verlag, der seit den Siebzigern in Raubdrucken und schlechten Übersetzungen die intellektuellen Lockerungsübungen der Dampfplauderer Lyotard, Baudrillard und Deleuze/Guattari auf den Markt brachte, sondern der konservative Verlag Ferdinand Schöningh, in dem Veröffentlichungen zur Weimarer Klassik, deutschen Romantik sowie zur Kirchengeschichte erschienen. Dort gab der Literaturwissenschaftler Friedrich A. Kittler in der Reihe der Universitäts-Taschenbücher 1980 den epochal gewordenen Band »Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften« heraus, der als Auftakt zu einer Runderneuerung von Philologie und Hermeneutik »Programme des Poststrukturalismus« versammelte.

Kittler, damals 37 Jahre alt und noch weitgehend unbekannt, führte als gleichsam verstümmelte Reverenz an seine Familiengeschichte in der Autorenzeile seinerzeit noch die später aus seinen Publikationen verschwundene Abkürzung seines zweiten Vornamens an. Der lautete »Adolf«, und daraus wurde in Kittlers Veröffentlichungen, in vielleicht unbeabsichtigter, aber bezeichnender Evokation seines insgeheimen Antagonisten Theodor W. Adorno, »Friedrich A. Kittler«. Steht das zum Kürzel gewordene »Wiesengrund«, der erste Nachname Adornos, als väterlicher Namensrest für das Inkommensurable der nie mehr selbstverständlich auszusprechenden, im Verborgenen aber umso wirksameren jüdischen Erfahrung, klingt im Kürzel von Kittlers zweitem Vornamen eine Ambivalenz gegenüber der deutschen Geschichte an, ohne die Kittlers Werk so wenig zu verstehen ist wie der Siegeszug des Poststrukturalismus in der damaligen Bundesrepublik.

Geboren wurde Kittler 1943 in Sachsen, als Sohn des Gymnasialdirektors Gustav Kittler, dessen zweiter Vorname ebenfalls »Adolf« lautete. In einem am 30. Januar 2011, ein knappes halbes Jahr vor seinem Tod, in der Welt veröffentlichten Interview hat Kittler erzählt, sein Vater sei nach dem schwedischen König Gustav Adolf benannt worden, weil er am Jahrestag der Schlacht bei Lützen geboren sei, wo das schwedische Heer 1632 die katholischen Truppen Albrecht von Wallensteins besiegte. Weil der Vater den Namen Gustav nicht mochte, habe er nur den zweiten Vornamen verwendet, doch als er seinerseits 1943 seinem Sohn den nun ganz anders klingenden Vornamen »Adolf« geben wollte, habe er eine Sondergenehmigung einholen müssen, weil damals ohne eine solche »jeder fünfte Neugeborene so geheißen« hätte. Nach Kriegsende wurde der Vater von der sowjetischen Besatzungsmacht aus dem Schuldienst entfernt, 1958 siedelte die Familie in die Bundesrepublik über, wo Kittler, der zuvor von seinem Vater Privatunterricht erhalten hatte, ein Gymnasium im Schwarzwald besuchte und ab 1963 in Freiburg Germanistik, Romanistik und Philosophie studierte. Kittler selbst hat sich als »Kind des zweiten Weltkriegs« bezeichnet, und zwar mit einer Emphase, die schroff absticht von der Mischung aus Verschweigen und Rationalisieren, mit der ältere, weit direkter von der Zeit des Nationalsozialismus geprägte Kollegen wie Hans Robert Jauß jene Epoche später bedacht haben.

Im Welt-Interview erinnerte sich Kittler, der davon berichtete, dass einer seiner Doktoranden »Oberstleutnant der Luftwaffe« sei und eine »echte Ethik des Krieges« vertrete: »Als Kind habe ich die Sommerferien immer auf Usedom verbracht. Dort bin ich über die Bombenspuren von Peenemünde gestolpert, über die in der DDR niemand reden durfte. Später, in Kalifornien, las ich Pynchons ‚Enden der Parabel‘, und es fiel mir wie Schuppen von den Augen.« Die amerikanische Postmoderne erst habe seinen Blick für die Spuren des in der DDR Verdrängten geschärft – nicht für die Vernichtung der europäischen Juden, über die Kittler nichts geschrieben hat, sondern für den alliierten Sieg über die Deutschen, der nur für deren Opfer wirklich eine Befreiung war. Dass seine Familie zu den Besiegten gehörte, obwohl sie Bewundernswertes geleistet habe, gab Kittler nicht minder arglos zu Protokoll: »Mein älterer Halbbruder war im Krieg Radar-Elektroingenieur, mein Onkel ist im russischen Gefangenentransportwagen verblutet. Mein Vater wurde im August 1914 als stinknormaler Infanterist mobilgemacht, und 1917 sieht man ihn schon als Obergefreiten und Militärgeologen. (…) Im Zweiten Weltkrieg hat er dann als Major in Frankreich geschaut, welche Brücken von welchem Panzertyp befahren werden können.« Die Kittlers waren also geübte Handwerker, Techniker, die arbeiteten, schauten und prüften, und dabei allenfalls von »den Russen« gestört wurden, wie Kittlers Generalbezeichnung für die Sowjets lautet. Im gleichen Gespräch hat er erklärt, er habe im Unterschied zu vielen Generationengenossen mit dem Vater niemals schlimme »Konflikte« gehabt, aber unter der realsozialistischen Erziehungsdoktrin gelitten: »Zu Hause waren wir deutschnational, in der Schule aber musste ich tun, als seien wir kommunistisch.«

Das Kind einer deutschnationalen Familie, mit militärstrategisch versierten männlichen Verwandten, das als Schüler unter dem Drill der sozialistisch-demokratischen Republik litt und als vielversprechender junger Mann in die Heimat Heideggers emigrieren konnte, steht beispielhaft für das abweichlerisch-reaktionäre Milieu, in dem sich der Poststrukturalismus in der Bundesrepublik der achtziger Jahre durchsetzte. Gerhard Kaiser, Lehrer Kittlers in Freiburg und an »Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften« mit der dekonstruktivistischen Lektüre eines Bildes des Klassizisten Asmus Carstens beteiligt, hatte das nationalsozialistische Deutschland, das Kittler nur aus Erzählungen kannte, als Jugendlicher erlebt und sein Studium in der DDR an der Humboldt-Universität begonnen, bevor er 1950, ähnlich wie dann Kittler, als politischer Flüchtling in die Bundesrepublik übersiedelte. Später lehrte er in Saarbrücken und in Freiburg, zu seinen Forschungsschwerpunkten zählte die medienarchäologische Sicht auf Epochen und Gestalten deutscher Kulturgeschichte, um die auch Kittler kreiste: Preußentum und Pietismus, Weimarer Klassik und Autoren des deutschen Realismus wie Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer, an deren Werken schon Kaiser interessierte, was bei Kittler in den Mittelpunkt trat: sie als Spuren einer Disziplinierungs- und Pädagogisierungsgeschichte zu lesen, in der Schrift und Logos als Medien der Einkörperung von Herrschaft fungieren.

Aus der historisch-materialistisch klingenden These, dass aller sogenannte Geist Effekt von Verkörperungen und daher jener Gehalt, nach dem Philologie und Hermeneutik seit ihrer Entstehung im Kontext theologischer Schriftexegese suchen, statt in Texten in den Technologien und Medien des Schreibens und Lesens aufzusuchen sei, wurde bei Kittler und den ihm verbundenen Geistesaustreibern eine Verachtung des Logos, die der Tradition deutschen Unwesens nicht weniger verbunden war als der Idealismus, dem sie den Kampf ansagte. Dass hinter Erziehung und Bildung, stiller Lektüre und gebundenem Sprechen, schulischer und universitärer Rhetorik, hinter dem gesamten Arsenal bürgerlicher Lehr- und Lerntechniken heimtückische Disziplinarstrategien steckten, die als ihr perfidestes Produkt das von der Aufklärung zu Unrecht hochgehaltene neuzeitliche Subjekt hervorgebracht hätten, war Konsens aller sich in den Achtzigern an bundesdeutschen Universitäten etablierenden Poststrukturalisten. Literarische Texte wurden als Austragungsort solcher Disziplinierung angesehen: einerseits privilegiertes Medium der Konstituierung und Mobilisierung des Subjekts, andererseits Ort von dessen unbeabsichtigter, aber zwangsläufiger Selbstdemontage. Unter dieser Prämisse hatten Kittler und Kaiser bereits 1978 in einer Studie über »Dichtung als Sozialisationsspiel« bei Goethe und Keller die deutsche Tradition des Bildungsromans zu dekonstruieren gesucht. Der gleichen Intention folgten die Neuentdeckung Heinrich von Kleists unter dem Vorzeichen eines linksgewendeten Carl Schmitt in der 1987 erschienenen Studie »Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie« von Kittlers Bruder Wolf, der, wie Kittler im Interview vermerkte, »stolz« auf seine Funktion als »Leutnant der Reserve bei den Funkertruppen« gewesen ist, sowie die 1989 unter dem Titel »Auszug aus der entzauberten Welt« erschienene Habilitation des Kittler-Schülers Norbert Bolz über den »Extremismus zwischen den Weltkriegen«.

In der kanonisierten Literatur nach kollektiv wirksam gewordenen pädagogischen Einschreibungen und Spuren des bürgerlich-disziplinierenden Zugriffs auf die Körper zu suchen, verband deutsche Poststrukturalisten verschiedener Generationen. Dieser Blick hatte schon den von Kittler mit dem acht Jahre älteren Literaturwissenschaftler Horst Turk 1977 als Präludium zu »Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften« herausgegebenen Sammelband »Urszenen« geprägt, er bestimmte die dekonstruktivistische Neuerschließung von Kleist durch Wolf Kittler oder von Kafka durch Hans Helmut Hiebel (in dessen 1983 erschienener Habilitation »Die Zeichen des Gesetzes«) ebenso wie die 1992 von Jochen Hörisch initiierte Entdeckung einer »anderen Goethezeit«, die revolutionär statt klassisch, subjektumstürzend statt subjektbefestigend gewesen sei. Die von deutschen Poststrukturalisten betriebene Relektüre des literarischen Kanons und Erschließung zuvor unbekannter oder für überholt geltender Autoren (wie Adalbert Stifter, Wilhelm Raabe oder auch Robert Walser) hat in der Germanistik durchaus Entscheidendes verändert. Weil ihre Akteure keine Kulturwissenschaftler, sondern ausgebildete Philologen waren, vermochten sie der in exegetischen Routinen erstarrten Philologie vorzuführen, wozu diese, nähme sie sich selbst ernst, in der Lage wäre: die Texte, indem sie beim Wort genommen werden, in anderen als den bekannten Stimmen sprechen zu lassen; zu zeigen, was in ihnen geschrieben steht, ohne je gelesen worden zu sein.

Gerade weil sie in einer den Kanon nur noch nachbetenden Literaturwissenschaft aus guten Gründen attraktiv waren, vermochten die Angehörigen der »Kittler-Jugend« (wie Kittlers Schülerschar in Freiburg halb spöttisch, halb bewundernd genannt wurde) das akademische Milieu aber auch besonders nachhaltig zu verderben. Denn der Poststrukturalismus, den sie vertraten, reproduzierte nicht einfach die Vernunftfeindlichkeit, die dieser Denkschule schon in ihrem Ursprungsort Frankreich anhaftete, sondern spitzte sie in genuin deutschem Sinne zu. Indem sie die Urgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft am Leitfaden des deutschen Literaturkanons als endlose Disziplinar- und Zurichtungsgeschichte erzählten, aus der nur der Kleist‘sche Partisan, Hölderlins Wahnsinn oder der Extremismus der Avantgarde einen Ausweg böten, blendeten sie das mit der Geschichte des europäischen Bürgertums nicht Verrechenbare der deutschen Geschichte womöglich vollständiger aus als die Hermeneutik und ließen die Vorgeschichte des Nationalsozialismus in einer negativen Anthropologie des Bürgertums verschwinden. Damit machten sie aus der Dialektik der Aufklärung, um die es der Kritischen Theorie ging, eine Verfallsgeschichte der Aufklärung im Geiste deutscher Geistfeindlichkeit. Und deshalb ist der Unterschied zwischen Kittlers und Adornos Namenskürzeln einer ums Ganze.