Der Traum von keiner Sache

Paul Schuberth über die Allmachtsfantasie der für Kunst und deren Verscherbelung Zuständigen am Beispiel des Musumsdirektors Martin Roth.

Martin Roth, scheidender Direktor des Victoria & Albert Museums London, träumt vom intellektuellen Widerstand. Dies legt zumindest die Überschrift seines kürzlich in der ZEIT erschienenen Aufsatzes nahe (DIE ZEIT Nr. 42/2016, 6. Oktober 2016). Um aber immer weiter träumen zu können, und das lässt wiederum der Aufsatz selbst vermuten, setzt er alles daran, die Verwirklichung dieses Traums zu verhindern. Ginge es nach ihm, besäßen auch seine Mitkünstler und -künstlerinnen die moralische Verpflichtung, sich für diese Aufgabe einspannen zu lassen.

Seinem Artikel liegt die Annahme zugrunde, dass Künstler – oder gar Kulturmanager wie Herr Roth selbst – widerständiger, wacher und verantwortungsvoller als andere zu sein hätten; ein Gedanke, der dem Glauben an eine grundsätzliche Unabhängigkeit der Kultur entspringt. Roth imaginiert Kultur als eine Guerilla-Mine, die bei »übersteigertem Nationalismus« (Roth), bei übersteigertem Unrecht, brav detoniert und die verkommenen Verhältnisse explosionsartig wieder geraderückt. Wahr ist, dass eine verkommene Gesellschaft Kultur nicht als gefährliche Mine fürchtet, sondern sich nämliche als gute Miene zum bösen Spiel hält, als Aufputz, der den Dreck unsichtbar macht, indem er ihn mit einer Staubschicht aus veralteten wie zukünftigen Kulturtrends und Diskursresten überdeckt. Die von Beginn an verkommene Kultur wiederum bedarf, als Aufputz, und um keinen Verdacht zu erregen, höriger Künstler. Zwischen Kultur und Künstlern besteht allerdings auch ein nicht zu unterschätzender, natürlicher Zusammenhang: Und zwar in der Kultivierung des Irrglaubens der Künstler, mit ihrer Kunst im Rahmen der Kultur Sprengkraft behaupten zu können. Der späten Erkenntnis ihrer Machtlosigkeit folgt die beschwichtigende Behauptung, das System gestatte zumindest noch gewisse Freiräume. Auf die Einsicht, dass diese Freiräume stets bloß Markt- oder, je nach dem, Subventionsnischen sind, muss aus Selbstschutz verzichtet werden.

Roth will »Direktoren und Kuratoren [nicht] vorschnell aus der Verantwortung (...) entlassen«, denn in Zeiten eines rasant wachsenden Nationalismus gelte es, die »moralischen und ethischen Werte« im Blick zu behalten. Er begründet diese besondere Verantwortung mit der grundsätzlichen Widerständigkeit von Museen und Sammlungen: »[Diese] haben etwas Widerständiges an sich, sonst hätten sie nicht unzählige Systemwechsel in Europa überlebt.«
In jedem System prächtig gedeihen zu können, darf heute als das Wesensmerkmal von Widerständigkeit schlechthin gelten. Diese Tatsache beruhigt unser Gewissen und lässt Martin Roth, der es ganz nach oben geschafft hat, als Widerstandskämpfer von Format erscheinen. Dass es, etwa von 1933-45, Kunst gab, die sogar so widerständig war, dass sie nicht überleben durfte, muss der Roth natürlich nicht wissen – das war vor seiner Zeit. Und doch weiß er Spannendes über diese dunkle Periode zu berichten: »Im Deutschland der späten Weimarer Republik schaute die Kulturwelt in großen Teilen stumm dabei zu, wie sich ein überzogener und blinder Nationalismus in den Nationalsozialismus verwandelte und die Kultur zu einem Instrument der Propaganda wurde.« Roth geht noch ein Stück weiter, und degradiert gleich jedes einzelne Wort zum Instrument seiner Propaganda. Wäre dieser sehbehinderte Nationalismus der armen, kulturell gehandicapten Deutschen nur ein bisschen hellsichtiger gewesen, hätte er sich nicht – so mir nichts, dir nichts – in diesen Nationalsozialismus verwandeln müssen, weiß Roth. Dass der Kulturbetrieb dabei nur stumm zuschaute, ist allerdings eine gemeine Unterstellung. Kulturbetriebler, Journaille, Geistes- und Naturwissenschaftler erwiesen sich als hörige Assistenten dieses unerklärlichen Verwandlungszaubers, und trugen für die ideologische Aufrüstung des Systems eine wesentliche Verantwortung. Tatsächlich ist der Kulturbetrieb, wie wir ihn heute in seiner subventionierten, verstaatlichten Form kennen, und von dem sich Roth den moralischen Kampf gegen überzogenen Nationalismus erwartet, in diesen Jahren entstanden. Bogusław Drewniak schreibt in »Das Theater im NS-Staat«: »Durch materielle Förderung und mannigfach verwirklichte Anhebung ihres gesellschaftlichen Ansehens versuchte der NS-Staat, sich die Bühnenschaffenden zu verpflichten und Einverständnis mit den politisch bestimmten und weltanschaulich erwünschten Maßnahmen im Bereich des Theaterlebens zu erreichen.«

Wenn Martin Roth von Kultur spricht, meint er die vorbildhafte Geschäftskultur, die innerhalb des Kulturbetriebs herrscht. Und dieser wurde nie zum Instrument von Propaganda. Vielmehr hat er wirkungsvolle Propaganda, nämlich jene, die nicht als solche zu erkennen ist, erst erfunden. Ununterbrochen übt sich dieser Betrieb in Lobreden für gerade das System, indem er jeweils prächtig überleben kann. In fortschrittlichen, marktkonformen Demokratien können diese Lobreden durchaus kritisch ausfallen. Noch mehr Einwände wissen die Lobredner allerdings gegen restriktivere Systeme vorzubringen, deren eigene Kulturbetriebe sich elaborierte Kritik folglich sparen können. So herrscht Einverständnis und Gleichgewicht. »Allein die Londoner Museen ziehen mehr als 30 Millionen Besucher jedes Jahr an, und damit sind nur direkte Gewinne ausgewiesen, von den indirekten Gewinnen ganz zu schweigen. Können wir darauf verzichten? Müssten nicht die Museen schon aus ökonomischen Gründen gegen den grassierenden Nationalismus in Europa aufbegehren?« Nicht nur die direkten Gewinne, sondern auch die indirekten, die uns Roth gleich zweimal verschweigt, sind wichtig. Ihm selbst vor allem deswegen, weil diese Gewinne den Kampf gegen Nationalismus als ein vermeintlich lukratives Geschäft mit moralischem Surplus ausweisen. Doch Kultur ist ein Markt wie jeder andere, und diesen interessieren keine moralischen und ethischen Werte, wie Roth behauptet, sondern nur der Mehrwert, wie auch er weiß. Der Markt handelt nie gegen seine eigenen Interessen, woraus abzuleiten ist, dass der genannte Mehrwert mit progressiver Kunst wie mit reaktionärer zu erzielen ist, dass Profit dank ausländischer Kulturkonsumenten wie bloß dank einheimischer zu erwirtschaften sein dürfte.
Hermann L. Gremliza schreibt in seiner Aphorismensammlung »Haupt- und Nebensätze« zur Korrumpierbarkeit von besonders kritischen Geistesmenschen: »Der Intellektuelle, der sich durch Aufsässigkeit bemerkbar macht, nennt doch immer zugleich den Preis, für den er zu haben ist.« Dreißig Millionen nennt Roth als Bedingung – Menschen oder Dollars? Da macht er keinen Unterschied.

Die Frage müsste eher lauten, warum die Menschen nicht aus eigenem Interesse gegen den grassierenden Nationalismus aufbegehren. Zur Beantwortung dieser Frage wäre allerdings ökonomische Argumentation vonnöten – für die es dank pseudoökonomischer Erklärungen wie jener Roths kaum mehr Platz gibt. Und doch: die Kulturwelt kümmert sich durchaus um die sozialen und ökonomischen Probleme der restlichen Welt, der der Eintritt in die bessere Kulturwelt bisher verwehrt blieb. Armut, Unterdrückung und Ausbeutung gehören längst zum Themenpool, aus dem diese ihre Geschichten bastelt. In der Sendung »Kulturzeit« auf 3sat wird – zufällig an Martin Roth – sogar die Frage gestellt: »Welche Aufgabe hat Kunst heute? Was soll Kunst heutzutage leisten?« Die richtige Antwort müsste lauten: Die Kunst zu einer Aufgabe zu verpflichten, bedeutet, sie zur Aufgabe – zur Kapitulation – zu nötigen. Die Kulturwelt freilich nimmt diese Aufgabe gerne an, denn sich zu sorgen, sich also betroffen zu fühlen, ohne betroffen zu sein, befreit von der lästigen Aufgabe, tatsächlich Kritik zu üben. Indem sich die Kultur um die großen Probleme sorgt, verniedlicht sie diese zugleich. Durch den Filter der Kulturindustrie erscheinen ökonomische Probleme als kulturelle und soziale als ästhetische. Nur so ist die Allmachtsfantasie der für Kunst und deren Verscherbelung Zuständigen zu verstehen, auch für die Veränderung des Zustands verantwortlich zu sein.

Im Artikel in der ZEIT verleiht Roth auch seinem Faible für ahistorische Vergleiche Ausdruck: »In Dresden, das vor 70 Jahren aussah wie Aleppo heute, werden Sprengsätze gezündet, und Menschen klatschen Beifall vor brennenden Flüchtlingsheimen.« Was will uns der Autor mit diesem seltsamen Vergleich sagen? Der gute Deutsche wird ihn, auf gut Deutsch, wohl so verstehen: Wir sind damals auch in der Heimat geblieben, und haben alles wiederaufgebaut. Teilweise haben wir sogar versucht, aus der Geschichte zu lernen. Wieso bleiben die Syrer nicht zuhause und lernen dort aus IHRER Geschichte? Ohne Flüchtlinge in Deutschland würden wir uns und denen auch den Anlass ersparen, aus unserer Geschichte lernen zu müssen.
Martin Roth macht sich Sorgen, weil keiner der Kulturschaffenden aufsteht und mahnt. Sogar der Staat lässt diesmal aus! »Weshalb meldet sich hier nicht Monika Grütters [CDU-Politikerin, Anm.] lautstark zu Wort? Hat man mit der Einrichtung einer Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien nicht eine kompetente Stimme des Bundes schaffen wollen, eine Stimme, die nicht nur fördert, sondern auch fordert, mahnt, interveniert?« Vielleicht sollte man dezidiert kritische Kunst besser subventionieren? Oder Gesangsstudentinnen verpflichten, für Merkel & Van der Bellen zu singen? Was Roth vorschwebt, klingt nach autoritärer Kulturpolitik: Alle Kulturbetriebler sollen gemeinsam aufstehen und mahnen, dass der Status Quo zu bewahren sei. Die Wenigen, die noch ahnen, dass dieser Status Quo erst die Basis für die bevorstehende institutionalisierte Unmenschlichkeit bildet, müssen zum Schweigen gebracht werden.
In einem Punkt könnte er aber doch Erfolg haben. Normalerweise geben neunundneunzig Prozent der Bevölkerung einen Dreck auf Kultur. Nun rechnet Roth aber genau vor, dass die Kultur durch Nationalismus und Engstirnigkeit Umsatzeinbußen zu verkraften hat – und wenn die Deutschen hören, dass ihre Kultur bedroht ist, sind sie schneller mit der Mistgabel auf der Straße, als der Roth aus seiner bequemen Besinnungsposition wieder aufkommt.

Hort des Widerstands: Victoria and Albert Museum, London (Bild: Creative Commons)