Gandhi und die Giraffen

Warum »Gewaltfreie Kommunikation« in ihrer nervtötenden Art nicht nur Gewaltphantasien provoziert, sondern selbst aggressiv ist und zugleich notwendige Konfrontationen verhindert, analysiert Svenna Triebler.

»Ich bin nicht wütend, nur sehr, sehr enttäuscht.« Wer diesen Satz aus dem Mund von Erziehungsberechtigten oder des Partners/der Partnerin hört, kann sich sicher sein, dass die Kacke richtig am Dampfen ist. Höchste Alarmbereitschaft ist auch angesagt, wenn die Vorgesetzte im Meeting oder der Opponent (5. Semester Pädagogik) im Plenum der Politgruppe einen plötzlich mit Lob überschüttet – denn erfahrungsgemäß kann das nur der Auftakt zu einem verbalen Großangriff sein.
Ein bisschen abgenutzt hat sich die Waffe der weichgespülten Rhetorik also schon. Dennoch erfreuen sich die Mittel aus dem Repertoire der »Gewaltfreien Kommunikation« (GFK) und verwandter Ansätze weiterhin großer Beliebtheit; eine Google-Suche fördert eine Unzahl an Seminarangeboten, »Life Coaches« und Ratgeberliteratur zutage, die mit diesem Schlagwort werben.

All we are saying is give peace a chance

Und natürlich auch den entsprechenden Wikipedia-Eintrag, der verrät: »Im Vordergrund [der GFK] steht nicht, andere Menschen zu einem bestimmten Handeln zu bewegen, sondern eine wertschätzende Beziehung zu entwickeln, die mehr Kooperation und gemeinsame Kreativität im Zusammenleben ermöglicht. Manchmal werden auch die Bezeichnungen Einfühlsame Kommunikation, Verbindende Kommunikation, Wertschätzende Kommunikation, Sprache des Herzens oder Giraffensprache verwendet.«
Giraffen- … bittewas?!? Auch hier gibt Wikipedia Auskunft: Der Erfinder der Methode, der 2015 verstorbene US-Psychologe Marshall B. Rosenberg, unterscheide »zwei Arten zwischenmenschlicher Kommunikation, die Gewaltfreie Kommunikation und die lebensentfremdende Kommunikation. Zur spielerischen Veranschaulichung wird in Vorträgen und Seminaren dies auch als ‚Giraffensprache‘ und ‚Wolfssprache‘ bezeichnet.«
Das klingt, als stamme es aus einem »pädagogisch wertvollen« Kinderbuch von der Sorte, die Eltern spätestens beim fünften Vorlesen am liebsten schreiend in die Ecke pfeffern würden; nicht zuletzt, weil die Metapher schwerer hinkt als ein Löwe (wie er im Gegensatz zu Wölfen tatsächlich im Giraffen-Habitat vorkommt), der gerade in einer alles andere als gewaltfreien Begegnung einen kräftigen Tritt mit einem Giraffenhuf abbekommen hat.

Aber sehen wir mal großzügig darüber hinweg, dass die GFK selbst mittels reichlich lebensentfremdeter Bilder kommuniziert und wenden uns ihren Inhalten zu. Konflikte entstehen laut Rosenberg und seiner Anhängerschaft durch falsche, also »lebensentfremdende« Kommunikation, die gekennzeichnet sei durch »moralisches Urteilen«, »Leugnen der Verantwortung für eigene Gefühle und Handlungen« sowie »das Stellen von Forderungen anstatt von Bitten«. Dem entgegengesetzt wird »empathisches Zuhören«, auf dem dann wiederum »vier Schritte« fußen: »Beobachtung, Gefühl, Bedürfnis, Bitte«.
Als banales Beispiel findet sich bei Wikipedia die leidige WG-Diskussion um den Abwasch – dass die vermutlich nicht zufriedenstellend verlaufen wird, wenn man sein Gegenüber zum Auftakt gleich mal als schlampig bezeichnet, kann man sich allerdings auch ohne teure Coaching-Seminare denken. Eine gewaltfreie Ansprache sähe hingegen etwa so aus: »In der letzten Woche hast du dein Geschirr dreimal nach dem Essen auf die Spüle gestellt, und es stand dort jeweils bis zum Morgen. Dann habe ich es abgespült.« Man darf bezweifeln, ob der Mitbewohner das als weniger vorwurfsvoll empfindet und stattdessen skriptgemäß antwortet »Du hast wiederholt dreckiges Geschirr vorgefunden?«, worauf ein empathischer Austausch über Frustgefühle und schließlich das Happy End in Form eines Putzplans folgt.
Dieses Szenario klingt lediglich – nun ja: etwas lebensentfremdet. Weniger harmlos wird es hingegen, wenn man als ebenfalls ziemlich alltägliches Fallbeispiel etwa diesen einen Onkel heranzieht, der mit der AfD sympathisiert und auf Familienfeiern regelmäßig seine entsprechenden Ansichten von sich gibt. Laut Richtschnur der Gewaltfreien Kommunikation verbietet es sich, ihn deshalb als Nazi zu bezeichnen – das wäre ja »moralisches Urteilen«. Auch müsste man erst einmal in sich gehen, um zu erforschen, welchen Anteil man selbst an der Abneigung gegen den Verwandten hat, und am besten noch empathisch ergründen, warum er so ein Arschloch geworden ist. Und bitte bloß keine klare Ansage à la: »Halt die Fresse und lass dich hier nie wieder blicken.« Das gewaltfreie Kommuni-zieren im Familienkreis entspricht also ziemlich genau dem, was seit einigen Jahren in allen großen Medien unter dem Motto »Mit Rechten reden« ganz groß in Mode ist, weshalb es bestimmt nicht mehr lange dauern kann, bis die ganzen Faschos endlich zu Tode gekuschelt sind.

Kleiner gewaltloser Exkurs

Diese Parallele ist kein Zufall. Wie der Name erahnen lässt, beruft sich die Gewaltfreie Kommunikation auf Mahatma Gandhi, und schon der hatte tolle Ideen zum Umgang mit Nazis. So schrieb er im Juli 1939 – unter der Anrede »Lieber Freund« – einen Brief an Adolf Hitler, des Inhalts, die Sache mit dem Krieg doch lieber sein zu lassen; 1940 folgte ein zweiter, in dem er sogar noch einmal extra betonte: »Dass ich Sie als Freund bezeichne, ist keine Formalität. Ich besitze keine Feinde.« Beide Briefe erreichten zwar niemals ihren Empfänger, weil die Briten sie abfingen, man darf aber getrost bezweifeln, dass sie den Lauf der Weltgeschichte geändert hätten.
Das kann man noch naiv nennen, absolut zynisch wird Gandhis Gewaltfreiheit allerdings in Hinblick auf die Shoah. Kurz nach der Pogromnacht 1938 riet er den deutschen Juden in einem Aufsatz zum »gewaltlosen Widerstand«: »Leiden, das freiwillig auf sich genommen wird, wird ihnen innere Stärke und Glückseligkeit[1] verleihen.« Selbst wenn man Gandhi zugutehält, dass er seinerzeit das Ausmaß des Massenmords der kommenden Jahre nicht erahnen konnte, antizipierte er doch damals schon ein sich anbahnendes, so wörtlich, »Massaker« – was für ihn aber auch kein Grund war, wenigstens den Zionismus als rettenden Ausweg in Betracht zu ziehen. »Warum sollten sie [die Juden], nicht wie andere Völker der Erde jenes Land zu ihrer Heimat machen, in dem sie geboren sind und ihren Lebensunterhalt verdienen?« Und wenn schon nach Palästina, dann nur mit der Gnade der Araber, deren »Herzen sie umstimmen sollten«. Nämlich wie? Sie sollten »sich erschießen oder ins Tote Meer werfen lassen, ohne auch nur einen kleinen Finger gegen sie [die Araber] zu erheben«.[2]

Aggressiv gewaltfrei

Wir lernen: Oftmals ist das Dogma der Gewaltfreiheit schlicht naiv, zynisch oder beides. Und während sich Gandhi der Gewalttätigkeit der Verhältnisse immerhin noch bewusst war und er »nur« propagierte, sich diesen freiwillig auszuliefern, blenden seine Adepten regelmäßig aus, dass moderne Gesellschaften auch ohne Krieg, Völkermord und koloniale Unterdrückung auf struktureller (und teils auch physischer, nicht umsonst heißt es Staatsgewalt) basieren.
Das gilt nicht zuletzt für die Gewaltfreie Kommunikation, die dadurch die Verhältnisse mindestens unbewusst reproduziert – sofern sie nicht ohnehin als reine Macht- und Manipulationsstrategie eingesetzt wird. Ein Beispiel schildert die New Yorker Behindertenaktivistin und Rabbinerin Ruti Regan in ihrem Blog »Real Social Skills«:
»Ich bat kürzlich einen GFK-Vertreter, folgende Frage zu beantworten: Gehen wir von folgender Situation aus: Ein Täter in einer Missbrauchsbeziehung hat ein emotionales Bedürfnis nach Respekt. Er empfindet es als zutiefst verletzend, wenn sich seine Partnerin mit anderen Männern unterhält. Er sagt: ‚Wenn du mit anderen Männern sprichst, fühle ich mich verletzt, denn ich brauche gegenseitigen Respekt.‘ Wie erklärt man nach GFK-Prinzipien, dass das, was er tut, falsch ist? Die Antwort war diese: »Du bezeichnest ihn als ‚Täter‘. Missbräuchliches Verhalten ist falsch, weil eine Person mit einem solchen Verhalten sich nicht gleichberechtigt um die Bedürfnisse anderer kümmern will oder kann. [Aber] macht er etwas falsch? Oder ist er schlicht ehrlich, weil er sich verletzt fühlt, wenn seine Partnerin mit anderen Männern spricht? Sie könnte ja seine Ex-Partnerin werden, wenn sie seiner Forderung nicht nachkommt.«
Das lässt, wie Regan kritisiert, keine Option offen, zu sagen: »Das ist kein Gespräch, an dem ich teilnehmen will« oder »Ich halte dieses Gefühl nicht für etwas, das ich berücksichtigen sollte«, und geht schon sehr in Richtung der allseits beliebten Täter-Opfer-Umkehr.[3] Die Gewaltfreie Kommunikation führt also schon im Zwischenmenschlichen zu allerhand Schieflagen und stellt nicht selten selbst eine Form der Aggression dar, die dem Gegenüber eine bestimmte Diskursform aufnötigt.

Und da es bekanntlich nichts gibt, was nicht durch den Kapitalismus noch verschlimmert werden könnte, hat das Konzept natürlich auch längst Einzug in die Betriebe gehalten. Der Autor Sebastian Friedrich schreibt in seinem »Lexikon der Leistungsgesellschaft«: »Gerade dort entpuppt sich hinter der vermeintlich empathischen Hülle schnell ein Wolf im Giraffenkostüm. Es sollte bereits skeptisch machen, dass GFK-Workshops zu den meist angebotenen Wochenendseminaren für Angestellte in Leitungspositionen zählen. Man stelle sich einen Chef vor, der total gewaltfrei sein Bedürfnis formuliert, die Arbeitsprozesse zu rationalisieren, die Produktivität zu steigern, aber kein Interesse daran hat, gleichzeitig den Lohn zu erhöhen. Demgegenüber äußert die oder der Lohnabhängige das Bedürfnis nach mehr Gehalt und weniger Arbeitszeit. Ob da die Giraffensprache weiterhilft?«

Das reiht sich ein in den Boom von Wellness, Achtsamkeit und was derlei Dinge mehr sind, zu denen Menschen auf der Suche nach Harmonie in maximal unentspannten Zeiten Zuflucht nehmen, die letztlich aber selbst nur dazu dienen, das Hamsterrad am Laufen zu halten. Von der »wertschätzenden« Firma bezahlte Yogastunden statt Arbeitskampf, entspannt und gewaltfrei in das Burnout. Den Wölfen im Giraffenpelz gefällt das.
 

[1] Im Englischen: »joy«
[2] Wenig überraschend findet man ähnliche Argumentationsmuster auch bei heutigen Friedensbewegten wieder, die es unerträglich finden, dass die israelische Regierung es nicht tatenlos hinnimmt, wenn mal wieder Wohngebiete mit Raketen beschossen werden; gerne auch noch mit dem besonders perfiden Vorwurf, gerade die Bürger des jüdischen Staats müssten doch aus dem Holocaust gelernt haben, wie schlimm Gewalt ist. Tatsächlich nichts gelernt hatte hingegen Gandhi. Der befand auch rückblickend noch: »Hitler hat fünf Millionen (sic!) Juden ermordet. Das ist das größte Verbrechen unserer Zeit. Aber die Juden hätten sich selbst dem Schlachtermesser ausliefern sollen. Sie hätten sich von den Klippen ins Meer stürzen sollen.«
[3] Auch hier zeigt sich wieder die Parallele zum »Mit Rechten reden«-Spielchen: Als Feinde der Demokratie gelten nicht etwa diejenigen, die sie erklärtermaßen zerstören wollen, sondern alle, die sich dem »ausgewogenen Dialog« über das Für und Wider einer verbrecherischen Ideologie verweigern.

Giraffensprache und Wolfssprache im Bauchrednermodus: Marshall Rosenberg 1990 bei einem Workshop über Gewaltfreie Kommunikation mit Handpuppen. (Bild: Bridget Coila (CC BY-SA 2.0 AT))