Herr Groll und die ungarische Tragödie

Ein Auszug aus dem neu erschienenen Roman von Erwin Riess, der am Donnerstag, 5. Dezember, um 19.30 Uhr in der Stadtwerkstatt präsentiert wird.

Herr Groll, Berufsunfähigkeitspensionist und illegaler Vermögens- und Lebensberater bei einem Heurigen in Floridsdorf, bekommt einen Rechercheauftrag von einer New Yorker Behindertenzeitschrift. Mister Giordano, der Herausgeber, ist im Besitz eines e-mails von einem Mann, der in einem nordungarischen Behindertenheim festgehalten wird. In der Anstalt trügen sich gräßliche Dinge zu, behauptet der Mann, der sich nach dem Erbauer der Brooklyn Bridge Roebling nennt. Behinderte Menschen, unter ihnen Kinder aus Roma-Familien, würden von einem Pornofilmersyndikat für grauenvolle Videos mißbraucht. Die snuff pornos erfreuten sich großer Nachfrage, in Westeuropa und den USA würden horrende Preise für die Filme bezahlt. Roebling droht, die Brooklyn Bridge in die Luft zu sprengen, wenn Giordano die Verbrechen nicht an die Öffentlichkeit bringt. Groll soll herausfinden, was es mit der Sache auf sich hat. Sein Freund, der »Dozent« ein freischaffender Soziologe aus Hietzing, begleitet ihn.

(…)

Die ersten drei Weinkeller an der Nordseite des Tals waren geöffnet, ich nahm den ersten, er hatte den breitesten Eingang. Bevor ich in den Keller fuhr, drehte ich mich um und sah ein Mädchen mit einem großen Wuschelkopf oberhalb des Parkplatzes auf der Straße stehen. Sie stand unbeweglich wie eine Statue und schaute in meine Richtung.
Wir durchquerten einen langgestreckten Saal, der mit Bänken aus roh behauenem Holz bestückt war. Der Raum war leer, aber aus dem angrenzenden Saal drangen Polkamusik und lautes Stimmengewirr. Ich forderte den Dozenten auf, sich mit mir am Eingang des Saales zu plazieren, von hier aus lasse sich das Geschehen besser überblicken.

Wir platzten mitten in eine Verbrüderungsszene hinein. Zu beiden Seiten des Mittelganges standen Männer und Frauen und tranken Bruderschaft. Der Keller hallte von »Servus«-Rufen wider. Nach jedem Ruf nahmen die Verbrüderer einen tiefen Schluck, bis die Gläser leer waren. Anschließend standen die an der Wand Sitzenden auf und traten zum Brudertrunk an den Mittelgang. Dazu ertönte alpenländische Musik, die von einem Akkordeonisten und einem Klarinettisten vorgetragen wurde. Der Akkordeonspieler war kleinwüchsig, er quetschte sein Instrument mit Bravour und sang dazu aus vollem Hals. Ich schaute mich um und erschrak.
»Was ist los? Haben Sie jemanden erkannt?« fragte der Dozent.
»Leider ja. Lassen Sie mich nach hinten, dorthin, wo es dunkel ist.« Ich wechselte auf die Bank, zog die Sitzfläche des Rollstuhls mit einem Ruck hoch und bat den Dozenten, den zusammengeklappten Rollstuhl hinter der Bank zu verstecken.
»Wer ist es?« fragte er und setzte sich neben mich.
»Der Lange mit der gelben Krawatte.«
»Sie kennen den Mann?«
»Er ist Installateurmeister in einer kleinen Ortschaft nördlich von Wien. Ich habe ihn vorigen Winter bei einem Heurigen kennengelernt.«
Der Dozent winkte der Kellnerin. Sie gab zu verstehen, daß sie gleich zu uns kommen werde. »Erzählen Sie«, drängte der Dozent.
»Es war schon spät, und ich wollte mit meiner Freundin ein Abendessen einnehmen. Wir aßen schnell, auch deswegen, weil an eine Unterhaltung nicht zu denken war, denn mehrere Männer, die an der Schank standen, grölten und lachten und überboten einander mit primitiven Witzen.«
Die Kellnerin nahm unsere Bestellung auf. »Einen halben Liter Rotwein und Wasser«, sagte ich, »und etwas zu essen.« Es gebe nur Schweinshaxen oder Blutwurst mit Sauerkraut, sagte die Frau müde. »Wenn das so ist, bringen Sie uns je eine Portion«, erwiderte ich, und der Dozent nickte.
»Die Witze handelten ausnahmslos von Frauen«, setzte ich fort, »und sie waren das Niederträchtigste und Dreckigste, was ich je an Männerwitzen gehört hatte.«

»Ich habe den lautesten Schreier dann meinem Nazierkennungs- und Qualifizierungsprogramm unterzogen. Mit Hilfe einer hundert Punkte umfassenden Skala werden alle Merkmale des Faschismus getestet: Frauenfeindlichkeit, Fremdenhaß, Antisemitismus, Antisozialismus, Demokratiefeindlichkeit, Vorliebe für bestimmte Hunderassen, volkstümliche Sänger und volkstümliche Kost, Heimatliebe im allgemeinen und speziellen, das Sprechen im kollektiven ›Wir‹, die Verwendung von Wortungetümen wie ›in keinster Weise‹, ›angedacht‹ und ähnliche, Schiffsphobie und so weiter.«
»Ein bemerkenswertes System«, meinte der Dozent und schob ein Stück Stelze in den Mund.
»Ich habe es im Lauf der Jahre verfeinert und erweitert«, sagte ich und drückte Senf aus einer Tube auf den Teller. »Einige Zeit war es in meinem Bewußtsein so dominant, daß ich mit niemandem mehr reden konnte, ohne ständig Punkte auf der Naziskala zu vergeben.«
»Sie wissen, daß in den fünfziger Jahren in den USA eine derartige Skala wissenschaftlich erstellt wurde«, sagte der Dozent und griff nach einem Stück Brot.
»Nein. Hat es genützt?«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich meine, hat es den Wissenschaftlern genützt? Haben sie etwas über ihre Landsleute erfahren, wodurch die Gesellschaft weniger anfällig für Faschismus wurde?«
Der Dozent überlegte. »Eigentlich nicht«, sagte er nach einer Weile. »Das einzige Ergebnis, das wirklich Bestand hatte, war, daß man faschistische Äußerungen rigoros und drakonisch bestrafen muß, will man die Ausbreitung faschistoider Denkmuster verhindern. Bildungsangebote schaden zwar nicht, aber als bestes Mittel zur Bewußtseinsveränderung erwiesen sich polizeiliche Kontrollen. Man kann die Menschen nicht dazu bringen, weniger gemein zu sein, aber man kann sie so sehr unter Druck setzen, daß sie es nicht wagen, ihre Niedertracht auszuleben. Somit fällt wenigstens die Beispielwirkung weg. Als die Wissenschaftler dies verstanden hatten, wandten sie sich erschrocken von der Faschismusskala ab. Ein Staat, der seine Bürger terrorisiert, um ihren Alltagsfaschismus im Zaum zu halten, war das Letzte, was sie wollten.« Er hielt mit zwei Fingern die Schweinshaxe fest und schnitt das restliche Fleisch ab.
»Ja, das ist das Elend mit den Wissenschaften; wenn sie etwas taugen, stören sie das Navigieren«, sagte ich.

Ich schüttelte den Kopf und beobachtete den Langen mit der gelben Krawatte. Er erzählte schon wieder Witze und unterhielt den halben Keller.
»Fünfundneunzig«, sagte ich nach einer Weile.
»Was war 1995?« fragte der Dozent und griff nach einer Scheibe Brot.
»Der Mann erreichte fünfundneunzig Punkte«, sagte ich. »Er faselte, die Juden hätten Hitler zuerst den Finanzkrieg erklärt, und die KZ seien nur eine Antwort darauf gewesen.«
»Er leugnete die Existenz von KZ nicht einmal?«
»Jenseits der achtzig Punkte wird die Existenz der KZ nicht mehr geleugnet, sondern begründet. Zumindest auf meiner Skala. Und jenseits der neunzig beginnt die physische Gefährdung des Meßorgans«, sagte ich und legte ein Messer quer über das halbvolle Weinglas.
»Und was ist, wenn Sie auf jemanden treffen, der hundert Punkte auf Ihrer famosen Skala erreicht?« Der Dozent kratzte die Reste vom Fleisch seiner Schweinshaxe mit Messer und Gabel zusammen und verteilte sie auf einer Schnitte Brot.
»In einem solchen Fall bin ich tot«, erwiderte ich. »Sechsundneunzig sind tätliche Angriffe, siebenundneunzig sind Attacken mit Waffengebrauch, achtundneunzig unter Einschluß leichter, neunundneunzig unter Einschluß schwerer Folter, und auf die schlußendliche Ermordung des Meßorgans stehen hundert Punkte.«
»Da waren Sie aber schon erschreckend nahe daran!«
»Sie haben recht, ich war selbst verblüfft. Androhung der Ermordung ist siebenundachtzig, und der Mann hat mir in die Hand versprochen, er werde mich, wenn seine Partei, die seit Jahren die Fleißigen und Anständigen von menschlichem Unrat säubern möchte, einmal an die Macht komme, zur Vertilgung freigeben.
Ich hätte dem Mann ursprünglich keine siebzig Punkte gegeben, ich hielt ihn zuerst für einen der vielen Maulhelden, die sich unter Alkoholeinfluß aufplustern, aber ich hatte ihn falsch eingeschätzt, er wuchs mit der Herausforderung. Gottseidank wies der Wirt meine Freundin und mich aus dem Lokal, er wollte keine Scherereien. Der Tip meiner Freundin war übrigens wesentlich besser: zweiundachtzig.«
»Das ist?« Der Dozent schaute auf. In seinen Mundwinkeln glänzte Bratensaft.
»Zweiundachtzig ist Bedauern des Holocaust, weil zu wenig Juden umgebracht wurden. Nein, das ist dreiundachtzig, entschuldigen Sie. Zweiundachtzig ist das Eintreten für Euthanasie an fremdrassigen, alten und behinderten Menschen. Ich bin, was die Skala angeht, nicht mehr firm; ich verwende sie schon seit Jahren nicht mehr.«
»Aus welchem Grund?«
»Aus demselben, der Ihre Wissenschaftler dazu bewogen hat, sich von der Skala abzuwenden. Es gibt Erkenntnisse, die sind so entsetzlich, daß man mit Ihnen nicht weiterleben kann. Die vornehmste und lebensrettendste menschliche Eigenschaft, das Talent zur Verdrängung, geht dabei zugrunde.«
Die Musik setzte aus. Ein Mann rief ein knappes Kommando, und binnen Minuten war der Saal leer. Beim Hinausgehen näherte sich der Lange, der zuvor die Witze erzählt hatte, und beugte sich mit einem spöttischen Lächeln über unseren Tisch.
»Wir kennen uns.«
»Leider«, sagte ich.
»Auf Wiedersehn in der Heimat«, sagte der Mann vieldeutig und reihte sich in die Schlange der Gehenden ein.
»War er das?« fragte der Dozent.
»Mister fünfundneunzig Punkte«, bejahte ich und bestellte noch einen doppelten Barack. Ich trank den Schnaps in einem Zug aus.
»Grüß Gott, schöne Herren«, sagte der Akkordeonspieler und stützte sein Instrument an unserem Tisch auf. »Mein Name ist Attila. Ich kann was für Sie tun?«
»Ich denke schon«, sagte ich. »Nehmen Sie Platz.«
»Bleib ich lieber stehn, bin ich ja klein genug«, erwiderte Attila, »kann ich auch beim Stehen in die Augen schauen.« Seine Stimme klang blechern, wie die eines Pubertierenden. »Möchte sein, daß mich jemand aus einer großen Stadt angerufen hat. Möchte sein, daß mir Ihr werter Besuch annonciert wurde –«
»Wir sind schon die Richtigen.«
»Können Sie liefern?« fragte ich ihn unvermittelt.
Attila kniff die Augen zusammen. »Sehen Sie, lieber Herr, liefern is’ keine Sach’, das Liefern geht uns flott von der Hand, wenn ich sagen darf, das Problem is’ nur: Was is’ denn gewünscht als Lieferung?«

Ich überlegte fieberhaft, was zu tun war. Ich mußte Attila folgen, egal wohin der mich auch verschleppen würde, und der Dozent mußte warten und Hilfe anfordern.
»Bittschön, wenn’s jetzt wär’, daß die schönen Herren mit mir kämen«, sagte Attila und schickte sich an zu gehen, aber nicht in Richtung Ausgang, sondern tiefer in den Keller hinein.
»Wir kommen«, rief ich und rutschte zum Gang, während der Dozent den Rollstuhl drehte. Ich vergewisserte mich, daß Attila mit seinem Akkordeon langsam voranging, und zog den Dozenten zu mir.
»Laufen Sie um Ihr Leben«, flüsterte ich ihm zu, »und meiden Sie meinen Wagen, sonst werden Sie geschnappt. Haben Sie Ihren Computer?«

»Herr Groll und die ungarische Tragödie« ist die Neubearbeitung des ersten Groll-Romans, der 1999 in Berlin bei Elefanten Press herauskam und seit langem vergriffen ist. Nunmehr hat der Otto Müller Verlag in Salzburg alle Groll-Romane in seinem Programm. Die Bücher sind auch als e-books erhältlich.