Die kontaminierte Gegenwart

Bis Mitte April war die Ausstellung Residuum im Spitzer in Wien zu sehen: Zu Erinnerung, kontaminierten Landschaften und den künstlerischen Arbeiten von Rosa Andraschek und Martin Weichselbaumer schreibt Andreas Pavlic.

Die Geschichte schreibt sich mit ihren unzähligen Ereignissen und Entwicklungen in die Landschaft und in den urbanen Raum ein. Die Erinnerungen an diese Geschehnisse werden manchmal offen und selbstbewusst, in Form von Denkmälern, Triumphbögen oder anderen mehr oder weniger glanzvollen Bauwerken, wachgehalten. Manchmal besteht aber auch der Versuch, sie auszulöschen. Das, was geschehen ist, soll verdeckt werden und im Verborgenen bleiben, damit niemand davon erfährt. Meist handelt es sich dabei um grausame und schreckliche Taten wie Inhaftierungen, Misshandlungen, Folterungen und Ermordungen. In der Zeit des Nationalsozialismus und während der beiden Weltkriege gab es diese Ereignisse, die ungesehen gemacht werden sollten und deren Spuren verwischt wurden, hierzulande zuhauf. Die Täter:innen versuchten, ihre Taten zu verheimlichen, damit diese nicht zur Geschichte werden, damit nichts mehr über sie gesagt werden kann. Sie versuchten, die Landschaft so zu präparieren, dass sich keine Erinnerung an ihr festmachen kann. Unser Boden ist übersät mit Stätten von Gewalt, Gräueltaten und Gräbern, von Massakern und Massengräbern. Der Schriftsteller Martin Pollack prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der kontaminierten Landschaft.
Mit dieser Art von Landschaft beschäftigen sich die beiden Künstler:innen Rosa Andraschek und Martin Weichselbaumer in ihren Arbeiten. Sie bewegen sich in einem Spannungsfeld, das sowohl das Verdrängte und Verdeckte in den Blick nimmt als auch die Erinnerung daran und das praktizierte Gedenken. Sie wenden sich schrittweise den konkreten Orten, den Gegenständen und dem Material zu, sie tragen die Prozesse des Vergessens und Verdrängens Schicht für Schicht ab, ihre Bezugnahme auf historische Themen und deren Erforschung gleicht einem archäologischen Vorgehen.

 

»Es gibt nichts zu sehen«, Rosa Andraschek (Bild: Rosa Andraschek)

 

Die Ortschaft Gusen in Oberösterreich ist auf einem solchen kontaminierten Boden errichtet. Dort, wo sich das ehemalige Außenlager des 
KZ Mauthausen befand, wo die Baracken für tausende von Zwangsarbeiter:innen standen und auch deren Gräber lagen, stehen heute Wohnhäuser. Es gibt nichts zu sehen, so der Titel einer Arbeit von Rosa Andraschek. Es sind rurale Landschaftsfotografien, auf denen Einfamilienhäuser, Hecken und Swimmingpools und die unverbauten Wiesen als Leerstellen zu sehen sind. Eine ganz normale Siedlung, wie es sie in Österreich zuhauf gibt. Der Wunsch, dass nichts mehr auf die Verbrechen, die an diesem Ort stattgefunden haben, hindeuten soll, wird sichtbar. Der verschwundene Lagerkomplex versinnbildlicht den über Jahrzehnte praktizierten Umgang mit der NS-Zeit: das Ver- und Überdecken. Für die ehemaligen Inhaftierten und Zwangsarbeiter:innen war das Lager in Gusen nie vergessen. In den, meist national oder regional organisierten, Verbänden bemühten sie sich unmittelbar nach 1945 um eine adäquate Gedenkstätte beim einstigen Krematorium, während die autochthone Bevölkerung am liebsten Gras über diese Stätte der Gewalt wachsen lassen wollte. Nichts mehr zu sehen ist auch in den Städten, in denen ebenfalls tausende Zwangsarbeiter:innen untergebracht waren. In ganz Österreich profitierten während der NS-Zeit sowohl große Unternehmen als auch kleine Betriebe vom System der Zwangsarbeit. Tausende entwertete Menschen, zur billigsten verschleißbaren Arbeitskraft degradiert, lebten in den Städten mitten unter den anderen Bewohner:innen. Die Gewalt wohnte in den Straßen und Häusern und hatte ihre Nachbarschaft. Nichts erinnert an sie. Um diese Menschen und Verbrechen in Erinnerung zu rufen, bedarf es Forschungs- und Grabungsarbeiten. In der Arbeit Memory vollzieht Andraschek eine symbolische Ausgrabung, Fassaden und Gebäudeteile werden von jenen Häusern abgekratzt, in denen einst Zwangsarbeiter:innen untergebracht waren. Dieses Graben und Kratzen ist sowohl künstlerische Archäologie als auch Intervention und verweist auf einen Ansatz in der Geschichtsforschung, der anfänglich Arbeiter:innen dazu ermächtigen sollte, ihre eigene Geschichte und ihre konkreten Lebensbedingungen zu erforschen. Er steht unter dem von Sven Lindqvist ausgegebenen Motto: »Grabe, wo du stehst.« Dieser Aufruf war der Start unzähliger Geschichtswerkstätten auf der ganzen Welt.

Womit aber soll gegraben werden? Martin Weichselbaumer hat naheliegenderweise die Spitzhacke gewählt. Mit diesem Werkzeug begibt er sich auf den Weg durch den Wiener Prater und erforscht die Spuren der revoltierenden Erdarbeiter:innen 1848. Ihr Protest gegen Lohnkürzungen, ihr Demonstrationszug entlang des Praters und des Pratersterns mündete in einer blutigen Niederschlagung durch die Nationalgarde. Achtzehn Arbeiter:innen starben. Im Video Revolte folgen wir den Schritten einer Person durch den Prater. Die Landschaft zeigt keine Spuren mehr von diesem Aufstand. Eine Stimme aus dem Off erzählt davon und ruft das als Praterschlacht in die Geschichtsschreibung eingegangene Ereignis in Erinnerung. Die Spitzhacke als Symbol der Erdarbeiter:innen, als Symbol der Revolte und Niederschlagung und als Symbol der Grabung, um die Geschichte dem Vergessen zu entreißen. Das Video bleibt jedoch nicht in der Vergangenheit, sondern erzählt auch von der Gegenwart, in der das Mitführen einer Spitzhacke ebenfalls gefährlich sein kann. Zwar singt Ani DiFranco in ihrem Song My IQ die berühmte und treffende Textzeile: cause every tool is a weapon - if you hold it right, jedoch auch die umgekehrte Version trifft zu. Sehr schnell kann ein Werkzeug von Autoritäten zu einer Waffe erklärt werden. Zumindest, und das zeigt sich quer durch alle Zeiten, für jene, die als Feinde der Ordnung ausgemacht werden. So gräbt sich Weichselbaumer im Video Revolte mit der Spitzhacke von der Vergangenheit in die Gegenwart.

 

»Revolte #3«, Martin Weichselbaumer (Bild: Martin Weichselbaumer)

 

Die Geschichte, als Historie, bildet eine Verbindung zum Heute, denn ohne den fortlaufenden Zusammenhang zu kennen, wären wir blind. Umgekehrt ist die Frage, welche Verbindungen und Sichtbarkeiten hergestellt und gepflegt werden, Teil der politischen Auseinandersetzung. Woran sollen wir uns erinnern und wie sollen wir gedenken? An dieser Fragestellung zerren und ziehen die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte.

Es gibt Orte, an denen muss nicht lange gegraben werden. Sie stehen prominent in der Landschaft, sie sind zu Mahnmälern erstarrt, ihr Name ist zum Symbol geworden: Mauthausen. Dieser Name steht für sich allein. Kontaminiert ist die Landschaft nicht nur durch verdeckte und versteckte Gräber, sondern durch sichtbare Zeichen. Die Soziologin Martina Löw versteht Raum als ein soziales Gebilde, als ein Produkt sozialen Handelns. Sie betrachtet den Raum in seiner Relationalität, als ein Geflecht von Beziehungen zwischen Menschen, Dingen, Institutionen, aber auch Regeln oder Normen. Lager sind in Stein geronnene Handlungen.

Diese Relation lotet Martin Weichselbaumer in seinem Video Kontraste aus. Fast hilflos stehen oder sitzen die Guides in der Landschaft des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen. Sie sind gut ausgerüstet mit fachlicher Expertise und bestens pädagogisch geschult, zeigen sich jedoch wie erstarrt angesichts der historischen, sozialen und baulichen Wucherung namens Mauthausen. Wie soll daran erinnert und was kann vermittelt werden? Ist die Kontaminierung, diese planmäßig durchgeführte Grausamkeit, stets nur zu erfragen und zu hinterfragen? In Weichselbaumers Video wird eine undefinierbare Geräuschkulisse der Gedenkstätte und der Gedenkarbeit von einem Dröhnen unterbrochen, als würde sich dieser Ort einer weiteren Befragung widersetzen. Der Künstler geht daher dazu über, den Resonanzraum der Besucher:innen zu nutzen. Sie sollen ebenso befragt werden wie jene Personen, die dieses Video ansehen. Die Erinnerung und das Gedenken an die Verbrechen der NS-Zeit stellen uns Fragen. Welche Fragen und Antworten geben uns diese Räume? Welche Räume wollen wir zukünftig schaffen, wie unsere Landschaften gestalten? Es ist die Gegenwart, die befragt werden muss. Die Archäologie ist der Versuch, die Vergangenheit zu heben, sie zu ergraben. Die Erinnerung ist die Befragung der Gegenwart.

Wir stellen Erinnerungen her und wir gestalten Erinnerungsorte. Die Kontaminierung des Raumes zeigt sich auch auf den Fassaden der Häuser, an denen Erinnerungstafeln, die Kriegshelden gewidmet sind, angebracht wurden; sie zeigt sich auf den Plätzen und Straßen, auf denen Kriegsdenkmäler errichtet wurden. Dieses gesellschaftlich geprägte Handeln, sowohl was die Anbringung der Tafeln betrifft, als auch eine feierliche Kranzniederlegung, entspringt einer Rationalität, die auf einem bestimmtem Denken basiert. Daher kann auch von einem kontaminierten Gedenken gesprochen werden. Womit ist dieses kontaminiert? Rosa Andraschek gibt in ihren Arbeiten Landschaftsbilder einen Hinweis. Im Zentrum der Erinnerungskultur stand und steht bis heute der zum Kriegshelden stilisierte getötete Soldat. Fast in jeder österreichischen Gemeinde lässt sich eine dieser Tafeln oder einer dieser Gedenksteine finden. Ihre Dezentrierung, wie sie Andraschek in ihren Fotografien vornimmt, indem sie diese Gedenktafeln an den Rand des Bildes rückt, ist somit auch ein Versuch einer Dekontaminierung. Es gilt, einen neuen Fokus zu finden. Wer Kriege, wie jene beiden Weltkriege, propagierte und unterstützte, ist als ein Täter oder eine Täterin zu betrachten. Wer in den Krieg zog, um andere Länder zu erobern, ist zumeist ein Opfer dieser Propaganda, wird jedoch im Krieg wiederum zu einem Täter oder einer Täterin. Kein Feld von Ruhm und Ehre ist die Landschaft, die Kriegsherren und ihre Gefolgschaften hinterließen, auch nicht der Raum, der dadurch geschaffen wurde. Diese Landschaft darf sich nicht als eine von den Taten des Krieges und der Verbrechen be- und gereinigte zeigen. Dafür braucht es eine aktive Erinnerung und ein anderes Zentrum des Gedenkens. Die beiden Künstler:innen Rosa Andraschek und Martin Weichselbaumer setzen genau das in ihren Arbeiten um, indem sie neue Bilder, Werkzeuge und Fragen (er)finden.


Die Ausstellung Residuum war im Spitzer in Wien bis Mitte April zu sehen: 

Residuum
Rosa Andraschek & Martin Weichselbaumer
30. März – 15. April 2023
Spitzer, Taborstr 10, 1020 Wien
im-spitzer.net