Spitze des Eisbergs

Ein Versuch darzulegen, was sich hinter dem »Bettelproblem« abzeichnet.

Die Verschärfung von Polizeigesetzen hinsichtlich Bettelei ist gerade wieder angesagt. Nicht nur in Linz oder Salzburg, in ganz Europa. Norwegen etwa plant überhaupt ein totales Bettelverbot. Gut möglich, dass dies auch noch europaweit zum Trend wird: Man verbietet die Armen, ganz einfach. Weg oder zumindest erst gar nicht herein mit ihnen, ganz im Sinne der politischen Rechten. Allerdings: Auch die europäische Sozialdemokratie stimmt fast bedenkenlos weiter der Kriminalisierung von BettlerInnen zu – leider ohne das auch nur ansatzweise so zu sehen, geschweige denn so zu benennen.
Verboten bei uns bereits: aggressives und organisiertes Betteln und Betteln mit Kindern. Jetzt geht es also dem »erwerbsmäßigen« an den Kragen.
Eigenartig, dabei ist doch heute alles organisiert und erwerbsmäßig sowieso, jede Bank, jedes Theater, der Fußball, die Kunst. Sogar hinter einer »freien Schriftstellerin« stehen Organisationen (Verlag, LiteraMechana). Und »Netzwerken« wird doch in allen Bereichen großgeschrieben, und nie wird dabei von vornherein »das organisierte Verbrechen« angenommen. Doch sobald es BettlerInnen betrifft, wird dieser Vertrauensvorschuss wie automatisiert außer Kraft gesetzt.
Im April etwa tat sich diesbezüglich der Klagenfurter Bürgermeister Christian Scheider (FPÖ) hervor. Er verhinderte erfolgreich die Einrichtung einer Notschlafstelle für Notreisende, denn unter ihm werde es »ein Bettlerhotel« nicht geben.
Ein Bettlerhotel, das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Und sich vorstellen, was da alles an menschenverachtender Gemeinheit durchschmeckt, welch armseliger Neid da geschürt wird. Im Zusammen-spiel mit der immer eifrig nach unbedarften Lesern heischenden Kronenzeitung, die nicht müde wird, Bedrohungsszenarien von »herumziehenden Profi-Bettlerbanden« zu kreieren, wirkt das aber. Überall. Und zwar nachhaltig. In Bezug auf Bettelei und Bettler glaubt ja mittlerweile eh jeder jede Mähr. Etwa die von der »Bettel-Mafia«. Die logiert dann wohl im »Bettlerhotel« – und bestimmt eh in der »Bettel-Mafia-Suite«. Komisch, diese Vorstellung funktioniert, da gehen gleich ganze Filme im Kopf ab, und sie könnten sogar vergnüglich sein, wenn ihr Zweck nicht darin bestünde, die Realität auszublenden.
Der einzige Zwang, der wirklich zum Betteln führt, ist existentielle Not. Doch die Realität will sich keiner vorstellen; das Ringen ums blanke Überleben, ganz am Rand, ganz unten. Selbst wenn der Blick direkt auf die dunkle Gestalt des Bettlers am Boden fällt, scheint die Vorstellung eines kriminelles Netzwerks erträglicher als die Not der elenden Gestalt hier zu Füßen. Und man gibt: nichts. Und hat dabei doch ein schlechtes Gewissen, weil es dem Mitgefühl widerstrebt, einem Mitgefühl, das sich aber rasch in ein Gefühl von Belästigung wandelt. Wobei: Es besteht keine Verpflichtung, einem Bettler, einer Bettlerin etwas zu geben. Dieses Geld gibt man, ganz anders als etwa bei der Bank, der Sozialversicherung oder dem Finanzamt, freiwillig, in einer selbst angesetzten Höhe. Worin besteht dann eigentlich das Problem? Vielleicht in der versteckten Agenda dahinter?

In der Sprache der Politik spricht man, mal mehr, mal weniger vorsichtig von Armutsmigranten. Von Notreisenden, aus dem Osten, aus Bulgarien, Rumänien etwa, von »dort, wo die Fahrenden Völker zu Hause sind« so die Oö-Sozialreferentin Mag. Getraud Jahn). Aber auch wenn sich alle sprachlich noch so verrenken, gemeint sind »die Roma« - und man weiß das. So wie man das mit den bösen Hintermännern weiß, die zum Betteln zwingen, die »eigenen Leute«, wie es immer heißt. Nötigung, Gewalt, Kriminalität kennt man ja von diesen, die man ja nicht einmal mehr so nennen darf, wie sie doch eigentlich heißen. Kann man sich schon vorstellen. Will man nicht haben. Und auf keinen Fall unterstützen.
Nicht mit einem Cent.

Zunehmend gefährlich. Nicht die Roma, sondern diese politische Naivität auszublenden, dass es »dort, wo die Fahrenden Völker zu Hause sind«, für Roma längst keine Perspektiven mehr gibt. Weil sie »dort« immer mehr zu »Vogelfreien« gemacht werden. Keine Rede von denen, die es gar nicht bis hierher schaffen, weil sie durch ihre Notlage dazu verdammt sind, im Elend zu bleiben, auf den Müllhalden, im Slum. Dort, wo man sie eben bleiben lässt. Unter Bedingungen, von denen man gar nichts hören will, dabei könnte man es, wenn man diesen Bettlern endlich einmal zuhören würde. Aber wo käme man da denn hin, wenn man sie endlich mal zu Wort kommen ließe, diese Roma, von deren Kultur man alles nur aus zweiter Hand weiß - und es aus erster auch gar nicht erfahren will. Dabei wüssten die Bettler viel zu berichten über die reale Lage der Roma. Doch unvorstellbar, dass man sie selber zu Wort kommen ließe. Und mehr als fraglich, ob man, wenn man sie überhaupt erzählen ließe, ihnen auch glauben würde. Denn keine andere Gruppe in Europa erfährt derart eine kollektive Stigmatisierung wie Roma; die Rede ist von etwa 12 Millionen Menschen.

Roma? Unerwünscht, auch wenn das so nicht immer ausgesprochen wird - wie sich ja auch in den Bettelverboten zeigt. Die sind ja eigentlich nur die Spitze des Eisbergs. Was unter der Oberfläche bleibt, sind Sündenbockschaffungen, Vertreibungen, Roma-Lager (allein die Tatsache, dass es sie wieder gibt und dass sie auch noch so genannt werden), pogromartige Aktionen, und nicht nur im Osten. Hier nur zwei, ganz reale Beispiele:
Laut Amnesty-Berichten greift die Polizei in Griechenland, Tschechien und Frankreich bei gewalttätigen Angriffen auf Roma zunehmend schon nicht mehr ein.
Und in Mazedonien werden Pässe von Roma, die in die EU einreisen wollen, gekennzeichnet. Der Südosteuropaexperte der Uni Graz, Robert Pichler informierte im Juni den Standard über Pässe, die er fotografiert hatte. »Am Stempel erkannt man Striche, die die Grenzbeamten den Reisepässen verpassen, um sie zu stigmatisieren. Mit diesen Zeichen im Pass können sie das Land nicht mehr verlassen«.
Unvorstellbar, aber Realität, allerdings keine für die Headlines. Wenn es um Roma geht, wird nicht am fest in Vorurteilen zementierten Weltbild gerüttelt. Wie Roma sind – man weiß es, das macht fast automatisch beinah jeden zum »Experten«. Und genau darin liegt das Problem. Nicht im Betteln, nicht bei den Roma. In diesem Eben-nicht-Wissen und Nichtwissen-Wollen. Das eint in Europa, vielleicht mehr als alles andere. Und diese »Einigkeit« ist für Roma bedrohlich. Ihr voran geht eine Art von Unbildung, um nicht zu sagen Analphabetismus hinsichtlich Roma, die aber niemandem weiter auffällt. Im Bildungstand allerdings werden, oft sogar gut gemeint, für Roma Konzepte und Projekte erarbeitet oder gegen Bettler Gesetze beschlossen.
Ein anschauliches Beispiel. Quelle: 45. Sitzung des Oö. Landtags online - XXVII. Gesetzgebungsperiode. (Donnerstag, 3. Juli 2014).
Die eingangs schon erwähnte LR (SPÖ) Mag. Waldtraud Jahn, Landesrätin mit der Zuständigkeit für das Sozial- und Wohlfahrtsressort, beantwortet die mündliche Anfrage der LAbg. Mag. Maria Buchmayr (Grüne): »Welche flankierenden Maßnahmen an sozialen Hilfestellungen für Menschen, die von akuter Armut betroffen sind, wurden in Oberösterreich seit dem 10. März 2011 konkret gesetzt?«
Die Landesrätin beginnt mit der »gemeinsamen Verantwortung als Gesellschaft« in Bezug auf Armutsmigranten, schweift kurz, aber euphorisch ab, um zu rufen: »Es muss wieder für Vollbeschäftigung gekämpft werden!«, und berichtet dann von der Winternotversorgung, die es in Linz zwischen Jänner und April 2014 gab. An »drei Tagen die Woche, Montag, Mittwoch, Freitag, von 11 bis 15 Uhr«. Es gab auch die »Möglichkeit, sein Gepäck dort aufzubewahren«. Sie spricht von der Hygiene, die das größte Problem sei (»manche leben ja in Zelten«), aber – eigenartig? – erwähnt mit keinem Wort, dass - auch in diesem Winter, auch dort - »Osteuropäern« der Zutritt in die »Wärmestube« nicht gestattet war. Gut, könnte man sagen, das war Sache der Betreiberin, das war die Caritas, die sich da außerstande sah, aber immerhin arbeitet sie doch mit der Caritas, auch in Zukunft, doch dazu später.
Ohne soziale Begleitmaßnahmen, so die Landesrätin, gehe es nicht. Zum »Bettelverbot« gebe es zwei Aspekte: Das »Gefühl der Unsicherheit in der einheimischen Bevölkerung«. Und: »einzelne Auswüchse im Bereich des Bettelns«, die es gelte, »einzudämmen«. Niederlassen dürfe sich in Österreich ohnehin nur, wer ein finanzielles Einkommen habe, also bestimmt nicht die Bettler. Die »Armutsmigranten« könne man nicht aufhalten, das seien Personen aus »Rumänien, wo die Fahrenden Völker zu Hause sind«. Immerhin erwähnt sie, in einem Nebensatz die »rassistisch verfolgten Roma«, in Ungarn, um dann wieder von »ungarisch-rumänischsprachigen Personen« zu reden. Und als sie den Oberösterreichischen Roma- und Sinti-Verein »Ketani« erwähnt, spricht sie keineswegs von Roma, die Landesrätin spricht vom Verein als - wörtlich- »Vertretern der ‚rumänischen Volksgruppe‘«. Rumänien? Roma? Scheinbar völlig egal. Man versuche eh schon »Arbeitspakete zu schnüren, Konzepte zu entwickeln«, man habe »in Workshops, gemeinsam, mit der Fürsorge, der Caritas, der Diakonie, dem Roten Kreuz und der Volkshilfe« bereits überlegt, wie »Spenden und Bettelgelder sinnvoll einzusetzen« wären. Es ginge nur im Versuch mit allen, auch mit der Polizei. Die könne den Bettlern ja auch »respektvoll sagen, wohin sie sich wenden können«. Nun, die Landesrätin glaubt anscheinend wirklich an eine von Ressentiments gegen Bettler und Roma freie Polizei. Jedenfalls, meint sie weiter, »Armutsmigration nach Österreich sei nicht zu verhindern«, weil eben EU, weil Schengen, und eben, weil es da diese »Wanderungsfreiheit« gebe, die wolle sie aber »auch gar nicht einschränken«.
Na fein, aber: »Wanderungsfreiheit«?! Wer ist wohl gemeint? Oder, ein anderes Beispiel, auf wen zielt EU-Kommissarin Viviane Reding wohl ab, wenn sie sagt: »Reisefreiheit« dürfe »nicht Freiheit im Sozialbetrug« bedeuten?
Eben. Man weiß es. Oder? Und genau darin liegt das eigentliche, viel gefährlichere Problem.