Mach‘ mich nicht von der Seite an

Über »gezieltes körpernahes Ansprechen von Personen« im öffentlichen Raum.

Das »stille Betteln«, das von den geltenden Bettelgesetzen, die noch in ihrer verschärften Form vermutlich hinter dem Strafbedürfnis der Bevölkerungsmehrheit zurückbleiben, als rechtskonformes Gegenstück zum »aggressiven Betteln« bestimmt wird, hatte hierzulande schon immer einen vergleichsweise guten Ruf. »Armut ist ein großer Glanz aus innen«, belehrte der Bettelmönchverehrer Rainer Maria Rilke sein dem schrillen Konsumismus der Moderne verfallenes Publikum, und noch wer sich heute mittels Wikipedia einen Überblick über die Geschichte des Bettelns verschaffen möchte, erfährt gleich zu Beginn des entsprechenden Eintrags: »Das Leben als Bettler kann auch selbst gewählt sein und hat bisweilen eine eigene Würde, besonders bei Bettelorden oder Einsiedlern.«

Was der Mob denen da oben mit dem Gestus aufmüpfiger Volksgenossen spätestens dann abzusprechen bereit ist, wenn jene den Kontakt zu den einfachen Leuten verlieren – eine »Würde« zu haben und für ihren gesellschaftlichen Status mitverantwortlich zu sein –, wird den Armen sofort zugestanden: Wer zu seiner Armut nur wirklich ja sagt, statt sie bloß zu erleiden, und wer sein Stigma mit dem moralischen Überlegenheitsbewusstsein des negativ Geadelten trägt, der ist ein besserer Mensch als die Prasser, die über die Leichtlebigkeit und Oberflächlichkeit ihres Daseins die inneren Werte vergessen haben. Freilich ist die Unterstellung, wer seine Armut »gewählt« habe und sie mit Stolz lebe, verfüge nicht über irgendeine, sondern über eine »eigene« Würde, nur die Kehrseite der Verachtung der Schmarotzer, zu denen nicht nur die unverdient Reichen, sondern auch die »aggressiven Bettler« gerechnet werden, die mit ihrem übergriffigen Verhalten allzu deutlich vor Augen führen, dass nicht die demütige Fügung in den Weltlauf, sondern die schiere Not ihr Handeln bestimmt.

Die zwischen Furcht und Verachtung schwankende Abneigung gegen »aggressives Betteln«, der der Gesetzgeber immer größere Konzessionen macht, ist dabei nicht einfach irrational. Gerade indem es die Grenze zwischen nachdrücklicher Bitte und handgreiflicher Drohung verwischt, ruft das »aggressive Betteln« in Erinnerung, was das »stille Betteln« zu vergessen erlaubt: dass die kapitalistisch verfasste Gesellschaft noch in ihren aufs äußerste vermittelten Formen auf Raub, noch der in bürgerlichen Demokratien halbwegs gesicherte Schutz des Einzelnen vor Gewalt durch andere auf der ständigen Gewaltdrohung beruht. Auch die mit sozialhelferischem Pathos vorgebrachte kontrafaktische Behauptung, die Existenz von Bettlerbanden sei nichts als eine Erfindung von Roma-Hassern, hilft insofern ungewollt denen, die die öffentliche Ordnung durch fremdländische Nomaden bedroht sehen: Dass Menschen, denen inmitten reicher Gesellschaften das Nötigste zum Leben vorenthalten wird, sich in Banden statt in Orden organisieren und die in der bürgerlichen Gesellschaft institutionell vermittelte Gewalt wieder unmittelbar austragen, ist zwar unangenehm, aber wenig überraschend. Und schließlich verfügen die Bürger in Gestalt der Polizei über ihre eigene, institutionell und rechtlich bestens abgesicherte Bande zum Schutz des Eigentums. Allein die zivileren Ausgangsbedingungen erlauben es ihnen, nicht oder nur ausnahmsweise so roh aufzutreten wie die Banden, die sie von sich fernhalten wollen. Die Armen sind eben, entgegen dem von Rilke tradierten Gerücht, nicht die besseren, sondern manchmal sogar die schlechteren Menschen. Was nicht gegen sie, sondern gegen die Armut spricht, die nie geeignet war, Sanft- und Edelmut zu fördern.

Das »aggressive Betteln« ist deshalb so unbeliebt, weil es die Wahrheit über das »stille Betteln« ausplaudert. Der Unterschied zwischen beidem ist kein prinzipieller. Die vehement vorgetragene Bitte um Almosen kann tatsächlich jederzeit in die mit unmittelbarer Gewaltandrohung vorgebrachte Forderung umschlagen, Geld oder Eigentum herzugeben, die Devotion jederzeit zur Aggression werden, die ohnehin in ihr steckt. Weil jeder, dem es noch etwas besser als den Ärmsten geht, von diesem Zusammenhang etwas ahnt, begegnet jeder dem Phänomen des Bettelns mit mehr oder weniger verhohlener Angst. Es ist diese Angst, die die herzensgute Samariterin, die trotz überzogenen Kontos immer einen Groschen übrig hat, mit dem Geschäftsmann, der jedem Bettler routiniert aus dem Weg geht, und dem auf die Schmarotzer schimpfenden Kleinbürger in der Untergrundbahn verbindet. In den neunziger Jahren, als westdeutsche Kommunen unter dem Schlagwort »Saubere Stadt« Kampagnen nicht nur gegen das »aggressive«, sondern auch gegen das »stille Betteln« in den Innenstädten lancierten, wurde dieser Zusammenhang bereits offen ausgesprochen und auch gleich nach entsprechend repressiven Lösungen verlangt. Damals fragte der Spiegel angesichts der belästigenden Wirkung des Bettelns in Einkaufsstraßen, »ob eine vergleichsweise reiche Gesellschaft wie die westdeutsche derart offen demonstriertes Elend aushalten kann«.[1] Die Frage ist zumindest nicht zynischer als die Verhältnisse, auf die sie antwortet. »Offen demonstriertes Elend« inmitten einer reichen bürgerlichen Demokratie überführt diese ihres immanenten Widerspruchs und ist daher nicht nur gefühlt, sondern objektiv ein Angriff auf die öffentliche Ordnung. Dass diese darauf regelmäßig reagiert, indem sie ihre Fassadenhaftigkeit einbekennt und zum Kampf gegen die Schwächsten mobilisiert, ist nur konsequent.

Die hilflosesten Opfer dieser irren Logik sind allerdings nicht die organisierten »aggressiven Bettler«, sondern diejenigen, die sich nicht organisieren können: Obdachlose, die namenlos und unvermisst im Winter auf Bänken erfrieren, von der organisierten Konkurrenz aus dem Feld geschlagen und dem Hunger preisgegeben oder von marodierenden jugendlichen Banden gequält oder gar ermordet werden. Zu selten wird bedacht, dass das »aggressive Betteln«, der Zusammenschluss der Ärmsten in oft patriarchal und mafiös organisierten Cliquen, zwar ein unbedingt abzuschaffender Zustand von Ohnmacht und Entrechtung ist, gegenüber dem Schicksal, dem sich der vereinzelte Arme auf der Straße ausgesetzt sieht, aber manchmal lebensrettend sein kann. Dass angesichts der Verschärfung der Bettelgesetze wieder fast nur über ethnisch definierte Gruppen, aber nicht über die vielen Einzelnen gesprochen wird, die man täglich in der Grünanlage sieht, bis sie irgendwann auf Nimmerwiedersehen verschwinden, zeigt, wie stark das Prinzip der Bande als überlebenssichernde Notgemeinschaft die formell noch immer bürgerliche Gesellschaft selbst bereits bestimmt.

Zur Verwandlung der Gesellschaft in ein Konglomerat gegeneinander in gewaltförmige Konkurrenz tretender, nur mühsam institutionell im Zaum gehaltener Notgemeinschaften gehört auch die Auflösung der Grenze zwischen Armen, Prekären und illegal, halblegal und legal Erwerbstätigen. Die Obdachlosen, die dem Bankkunden mit aufsässiger Ergebenheit die Tür aufhalten, empfehlen sich als Protagonisten einer neofeudalen Dienstleistungsgesellschaft, die statt Berufe bestenfalls Jobs kennt und in der die »gegenseitige Hilfe«, die Kropotkin noch als Gegenprinzip zur kapitalistischen Konkurrenz ansah, als die letzte verbliebene Möglichkeit erscheint, nicht in wilder Beutemacherei übereinander herzufallen. Vielleicht kommen die Banken tatsächlich irgendwann auf die Idee, das Türaufhalten zu professionalisieren und den vormals geduldeten Gästen, deren nächtliche Anwesenheit in den Vorräumen der Finanzinstitute man durch immer frühere abendliche Verrieglung verhindert, Minijobs als Vorzimmerdienstboten zu verschaffen. Die Auszeichnung für »gelebte zivilgesellschaftliche Verantwortung« ließe nicht lange auf sich warten.

Armut als Existenzgründungsversuch praktizieren auch die zahllosen deprimierenden Alleinunterhalter, die die Bürger in Untergrundbahnen und Fußgängerzonen mit ihren Weltmusik- und Stegreiflyrikverschnitten oft so lange behelligen, bis diese, um endlich Ruhe zu haben, zumindest ein paar Cent hergeben. Zwischen ihnen und den Verkäufern von Obdachlosenzeitungen, die, um überhaupt ein bisschen Kleingeld zusammen zu bekommen, permanent die eigene Drogenabstinenz meinen betonen zu müssen, bestehen nur graduelle Unterschiede. Sie alle reagieren darauf, dass die Aggression, die die Bürger sich im »aggressiven Betteln« vom Halse halten wollen, unter ihnen selbst omnipräsent ist. Dieselben, die jeden ungebetenen Bittsteller, jeden zufälligen Werber um Aufmerksamkeit und jedes unverhoffte Zeichen von Zuwendung mit der geschnauzten Parole abfertigen, man wolle nicht von der Seite angemacht werden, kennen, um sich im täglichen Umgang im öffentlichen Raum zu behaupten, selber längst nur noch jenes »gezielte körpernahe Ansprechen von Personen«, als welches das Delikt »aggressiven Bettelns« in der Münchner Altstadt-Fußgängerzonenbereichs-Satzung bestimmt wird[2], das in Wahrheit aber einfach das normale Sozialverhalten in der entbürgerlichten Bürgergesellschaft beschreibt. Wer, wie das Gesetz es dem braven Almosensucher empfiehlt, nur still vor sich hin bettelt, wird leerausgehen: Man muss dem deformierten Restbürger, der von seiner Unersetzlichkeit umso überzeugter ist, je offensichtlicher seine Austauschbarkeit wird, schon etwas bieten, damit er einem etwas schenkt – sei es nun ein Stückchen schlechte Kunst, ein bisschen überflüssige Dienstfertigkeit oder auch nur die traurige Performance abgeschmackter Ehrlichkeit. Notfalls muss man ihm, der Diskretion und Höflichkeit nur noch als Anachronismen kennt, eben so lange auf die Nerven gehen, bis man bekommt, was man braucht.

Die Grenze zwischen ungefragt angebotener Dienstleistung, moralischer Erpressung und unmittelbarer Drohung ist dabei durchlässig. Das jedoch ist kein alleiniges Charakteristikum des Bettelns, sondern der in sich zerfallenden bürgerlichen Gesellschaft insgesamt. Nicht zufällig werden die »aggressiven Bettler« an Übergriffigkeit von den ganz legal arbeitenden, wenngleich meist schlecht bezahlten, dreist grinsenden Tier- und Kinderschützern, Amnesty-International- und Unicef-Mitarbeitern übertroffen, die die Passanten mit brutaler Überzeugungsbereitschaft regelrecht durch die Straße jagen, um ihre Zettel loszuwerden, und die so den engen Zusammenhang zwischen Spende und Almosen, Bettelei und Kundenwerbung unangenehm in Erinnerung rufen. In einer Gesellschaft, in der Kommunikation und Tätlichkeit, Public Relation und Stalking kaum mehr unterscheidbar sind, kann man nicht ausgerechnet von Bettlern verlangen, bitteschön nicht so aggressiv zu sein. Armut, Gewalt und Dummheit werden nur zusammen abgeschafft.
 

[1] Ron Steinke: Betteln verboten! Die Rückkehr einer Kriminalisierung, in: Forum Recht 4/2006, www.forum-recht-online.de/2/406/406steinke.html
[2] Laut § 6 der Ergänzungsfassung vom 27.5.1994; wortgleich in § 2 der Zweiten Änderungsfassung der Satzung der Landeshauptstadt Saarbrücken über Sondernutzungen.