Leidenschaftlichkeit, abgeleitet von Leiden

Anselm Meyer über die auf Deutsch erschienenen Memoiren des Historikers Léon Poliakov.

Der jüdische Historiker Léon Poliakov (1910-1997) ist außerhalb Frankreichs, bzw. im deutschsprachigen Raum abseits eines interessierten Fachpublikums kaum bekannt. Dabei war Poliakov einer der profundesten Kenner der Geschichte des Antisemitismus, dessen achtbändige Studie von der Antike zur Gegenwart eines der Standardwerke zu diesem die Jahrhunderte überdauernden Ressentiments ist. Poliakov war darüber hinaus einer der Pioniere auf dem Gebiet der Holocaust-Forschung, lange bevor dieser Name gefunden wurde. Er verfasste mit »Brevaire de la haine« eine der ersten systematischen Studien über die Geschichte der Verfolgung und Ermordung der Juden Europas. Poliakov verarbeitete dort vor allem seine Erkenntnisse, die er während seiner Tätigkeit für die Anklagebehörde der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse gemacht hatte. Seiner dortigen Teilnahme ging ein Zufall voraus: Isaac Schneerson, Cousin des Rabbiners Schneerson, spielte ihm den gesamten Aktenbestand der SS in Frankreich zu. Poliakov, der Deutsch lesen und sprechen konnte, wurde durch die eingehende Lektüre dieser Dokumente zum Experten der deutschen Besatzungsherrschaft in Frankreich, weswegen er Mitglied der französischen Delegation in Nürnberg wurde.

Bezeichnend ist, dass er die Shoah als Brevier bezeichnete, also einen Auszug bzw. Ausschnitt aus einem größeren Zusammenhang. Die Geschichte der Shoah war für ihn ein weiteres Kapitel in der Geschichte des Judenhasses und Antisemitismus. Poliakov veröffentlichte seine Arbeit bereits 1951, also einige Zeit vor Raul Hilbergs monumentaler, drei Bände umfassenden Studie »Die Vernichtung der europäischen Juden« (1961). Beide Werke teilten das Schicksal, dass sie in Deutschland lange Zeit überhaupt nicht rezipiert wurden. Während Hilbergs Studie in deutschen Geschichtswissenschaft zwar heute immerhin als Standardwerk bezeichnet wird, ist »Brevaire de la haine« nie auf Deutsch erschienen. Neben seiner Pionierarbeit auf dem Gebiet der Erforschung der Shoah war Poliakov einer der ersten, der den Antizionismus als Antisemitismus enttarnte. Poliakovs Streitschrift »Vom Antizionismus zum Antisemitis-mus« untersuchte bereits 1969 die Feindschaft gegen gegen Israel als »Juden unter den Staaten«. Poliakov erkannte, dass diese Spielart des Antisemitismus vor allem in der Linken Fuß gefasst hatte. Diese Schrift ist dank dem ça-ira Verlag in Freiburg 1992 auf Deutsch erschienen. Trotz all dieser wichtigen Interventionen des Historikers ist Poliakov in Deutschland kein Begriff. Deswegen ist es umso erfreulicher, dass jetzt seine Memoiren auf Deutsch veröffentlicht wurden, aus dem Französi-schen übersetzt von Jonas Empen, Jasper Stabenow und Alexander Carstiuc, erschienen in der Edition Tiamat. Wie die Memoiren von Raul Hilberg (»Unerbetene Erinnerung«) und Saul Friedländer (»Wenn die Erinnerung kommt« und »Wohin die Erinnerung führt«) sind es die Erinnerungen eines der Ermordung durch die Deutschen Davongekom-menen. Es sind die Erinnerungen von Überlebenden, die in Deutschland lange Zeit keiner hören wollte. Diese Erinnerungen an die Flucht und Vertreibung, die verworrenen und abgerissenen Lebenswege, der Verlust von Angehörigen und Freunden sind der Grund, warum sie Historiker wurden, auf der Suche nach den Gründen und dem »Wie« der Vernichtung. Wie Nicolas Berg in seiner großen Studie über die westdeutsche Geschichtswissenschaft nach 1945 zeigt, wurden die jüdischen Historiker, die sich mit der Shoah und dem NS beschäftigten, vielfach ignoriert und in ihrer Arbeit behindert. Dies betraf vor allem den frühen Mitstreiter von Poliakov, Joseph Wulf (1912-1974), der im für die Erforschung des Nationalsozialismus neugegründeten Institut für Zeitgeschichte keinen Verbündeten fand, sondern eine Institution, die ihn ausgrenzte und seine Arbeit aufgrund seiner Überlebenden-Biographie als subjektiv und zu leidenschaftlich desavouierte. Aber Leidenschaftlichkeit, abgeleitet von Leiden, war der Grund, warum Wulf und Poliakov sich als Historiker auf die Suche machten. In den Memoiren sind es denn auch die Jahre 1940 bis 1944, die Zeit der Shoah, die im Zentrum stehen. Poliakov veröffentlichte diesen zentralen Teil seiner Memoiren unter dem Titel »Die Musikantenwirtschaft« bereits 1981. Im vorliegenden Band ist dieser als zweiter Teil veröffentlicht, umrahmt von den Erinnerungen Poliakovs an seine Kindheit im zaristischen Russland, der Auswanderung der Familie nach Frankreich über Berlin und über die Zeit nach dem Krieg, die vor allem seinen Weg in die Geschichtswissenschaft schildern. Annette Wieviorka, selbst jüdische Shoah-Forscherin in Frankreich, liefert diese wichtigen editorischen Informationen in ihrem Vorwort. Das Nachwort, verfasst von Alexaner Carstiuc, erläutert Poliakovs Wirken im Kontext der Holocaust-Forschung sowie dessen weiteren Arbeiten zum Antisemitismus. Vorwort, Nachwort und der Text Poliakovs bieten so einen Überblick über das Leben und Schaffen des Historikers. Die nun vorliegenden Memoiren eignen sich so hervorragend als Einstieg für die Beschäftigung mit Poliakov.

Poliakov wurde Historiker aufgrund seines Schicksals, ein der Vernichtung entkommender Jude zu sein. Ähnlich wie sein späterer Kollege Joseph Wulf, mit dem er einige Bände mit Originaldokumenten aus dem Nationalsozialismus und zur Shoah veröffentlichte, wollte auch er begreifen, was dem europäischen Judentum, und damit ihm selbst, durch die Deutschen widerfahren war. Er wollte herausfinden, »warum man mich umbringen wollte, mich und Millionen andere unschuldige Menschen«. Anders als Wulf, der erstaunlicherweise von Poliakov nicht erwähnt wird, war aber Poliakov nicht ein Überlebender der Lager. Während Wulf Auschwitz überlebte, und dort im Lagerwiderstand aktiv war, konnte Poliakov in Frankreich im Untergrund überleben, nachdem er als französischer Soldat in Kriegsgefangenschaft geraten war. Ein deutscher Offizier verhalf Poliakov zur Flucht nach Paris. Er machte sich auf in den unbesetzten Teil Frankreichs, d.h. in den vom Vichy-Regime regierten Teil. Poliakov schildert auf spannende Weise seinen Weg in den Untergrund, seine Aktivitäten im Umfeld des Rabbi Schneerson. Poliakov war Teil von dessen Gruppe »Praktizierende Israeliten«, die sich neben den religiösen Pflichten als Hilfsorganisation auch in Not geratenen Juden widmete und so gut es ging versuchte, deren Lage zu verbessern. Wie auch Varian Frys Schilderungen der Rettungsaktionen, schildert Poliakov die Wirren des Krieges, des Lebens im Untergrund bzw. im Widerstand gegen die deutsche Judenpolitik in Frankreich mit einem erstaunlich sanften, humorvollen Ton.

Es ist eine Geschichte, die, da sie sich im Westen Europas zutrug, nicht von Deportationszügen, Selektionen und dem Leben in den Vernichtungslagern handelt, obwohl all dies die drohende Kulisse ist, vor der die kleinen Geschichten von Zufällen, von klandestinen Operationen und auch der glücklichen Fügungen sich abspielen. Es sind die Geschichten, die für einige Juden die Rettung vor dem Schicksal der Ermordung in den Vernichtungslagern in Polen bedeuten. Es sind vor allem die Auseinandersetzungen mit Schneerson, der als orthodoxer Rabbiner auch angesichts der bedrohlichen Lage in Frankreich nichts von einer Aufweichung jüdischer Praxis wissen wollte, die der Schilderung Poliakovs eine komische Note verleihen. Poliakov selbst entging den ersten Deportationswellen aus Frankreich, denen vor allem staatenlose und polnische sowie sowjetische Juden zum Opfer fielen. Er fand Unterschlupf bei Freunden auf dem Lande. Poliakov kam in Marseille zur Résistance, und war bei der Rettung von zahlreichen Juden beteiligt, für die er gefälschte Papiere und Verstecke besorgte. Auf diese Aktivitäten bezieht sich der Titel »Musikantenwirtschaft«, der auf den im Untergrund entwickelten Code für die Rettung von Juden anspielt.

Poliakovs Memoiren sind deswegen auch eine Geschichte des Widerstands in Frankreich. Die Rettungsaktionen, an denen er beteiligt war, sind bis heute von der deutschen Forschung kaum wahrgenommen worden, so z.B. die spektakuläre Rettung von mehreren tausend Juden aus Nizza, in das schätzungsweise 25.000 Juden nach dem Rückzug Italiens aus Frankreich geflohen waren. Ebenso bemerkenswert ist die erstaunliche Geschichte der Region Le Chambon-sur-Lignon, einem abgelegenen Hochplateau, in dem sich eine streng protestantische Enklave über mehrere Jahrhunderte gehalten hatte. Durch die Hilfe vor Ort überlebten zwischen 3000 und 5000 Juden.
Wie eingangs erläutert wurde, kam Poliakov nicht aus akademischem Interesse zu seinem Thema, der Verfolgung der Juden. Es war die Erfahrung der Verfolgung, des Widerstands und des Überlebens, die ihn zum Historiker werden ließ. Wie Wulf war auch er Autodidakt, anders als Wulf allerdings konnte er eine akademische Kariere machen. Wulf blieb als Historiker in Deutschland ein Außenseiter.
Léon Poliakovs Lebensweg, vom in Russland geborenen Kind, über den Wehrdienst in der französischen Armee zum Resistance-Kämpfer und Teilnehmer an den Nürnberger Prozessen, ist nicht der Weg eines gewöhnlichen Historikers, es ist die Geschichte, wie sie nur die Verfolgung schreiben kann. Sie unterscheidet sich so grundsätzlich von denjenigen, die die deutschen Historiker vorzuweisen hatten. Es nimmt nicht wunder, dass Leute wie Poliakov in der deutschen NS-Forschung lange Zeit misstrauisch auf Abstand gehalten wurden, war diese doch damit beschäftigt, sich eine breite deutsche Widerstandsbewegung auszudenken und im wagnerischen Duktus den Nationalsozialismus samt seiner Verbrechen als überirdisches Schicksal, das über die Deutschen kam, zu verklären, und eben nicht analytisch klar zu erforschen. Diese Arbeit leisteten jüdische Pioniere wie Poliakov, dessen Memoiren, die sich streckenweise wie ein Kriminalroman lesen, zeigen, warum er diesen Weg ging.

Léon Poliakov: St. Petersburg - Berlin - Paris. Memoiren eines Davongekommenen, Edition Tiamat, Berlin 2019, aus dem Französischen von Jonas Empen, Jasper Stabenow und Alexander Carstiuc.

Léon Poliakov im Juli 1952 während einer Konferenz im Schloss von Cerisy-la-Salle. (Bild: Gemeinfrei)