Niederwasser

Auszug aus dem Roman »Atemnot« von Eugenie Kain.

Abends schloß Therese die Tür. Sie legte Prahas Gitarre vorsichtig auf den Gitarrenkoffer.
Sie setzte sich an den Schreibtisch. Sie schob Max Prahas Papierstoß zur Seite. Die Nacht gehörte ihr. Papier, Kugelschreiber, Bleistift, Farbstifte, Notizblock, Schreibheft, ein großer Bogen Papier, dicke Filzstifte, Bildschirm, Tastatur und die Stadtpläne. Das Werkzeug lag bereit. Aber die Bilder, die in Thereses Kopf immer präziser wurden, fanden keine Sprache. Therese setzte Striche, malte Spiralen, ein Wort, noch ein Wort, vielleicht ein ganzer Satz, der gleich wieder verworfen war, ein dicker Balken, zwei Rechtecke, schmalseitig nebeneinander stehend, durch Längs- und Querstriche in gleichförmige Kästchen aufgeteilt, und später hämmerte der Zeigefinger auf die Löschtaste. »Wenn ich mich getötet haben werde«, war gerade noch am Bildschirm zu lesen gewesen, ein fremder Satz und deshalb gelöscht. Zurück blieb DESIREEEE

Stadt an der Donau mit 4 Buchstaben. Baja, Melk, Ruse, Ybbs, Wien. Linz. Industrie. Elektronische Kunst. Zwerge. Therese nahm den Stadtplan in die Hand, Großraum Linz, die aktuelle Ausgabe. Eine Stadt mit vier Buchstaben und sieben Hügeln. Kein Palatin weit und breit kein Monte Ghiro, sondern Pfenningberg, Gründberg, Pöstlingberg, Römerberg, Froschberg, Freinberg. Behäbige Namen, dumpf ihr Klang wie die Farben und Geräusche im Nebel, wenn die Sonne und die letzten Stockwerke der Hochhäuser tagelang verschwanden und das zähe Licht den Hall der Schritte dämpfte. Der Föhn plagte andere Städte. Während auf den umliegenden Höhen das Licht längst die Pupillen schnitt und Schatten auf hellgrüne Felder warf, zeigte sich die Sonne in der Stadt als kalte weiße Scheibe auf einem fernen Himmel. Linz, das war Inversion und Zeitverzögerung. Die Hauptstraße eine LANDstraße, die HAUPTstraße Strecke zwischen zwei Busstationen. Eine gläserne Halle im Glasscherbenviertel, ein Vierkanter auf dem Schloßberg. Inversion.
Therese starrte auf den Plan, bis sich Farben, Linien und Bezeichnungen auflösten und durcheinanderwirbelten. Es entstand kein neues Bild der Stadt. Der Pirggenpostel blieb der Zwergenberg und auch der Engbrifpenng lag am Donauknie. Der Strom oszillierte zwischen Do a nu und A nu do, nahm Fragen mit und schwemmte keine Antworten an.

A nu do? Was hatte Desiree in den 20. Stock getrieben, was in die fremde Wohnung, was auf den Balkon, was den Bergen zu? War es dieselbe Kraft, die Therese trieb, anderer Leute Ängste und Hoffnungen aufzuspüren und ein neues Orientierungssystem für die Stadt zu schaffen? Hatte Desiree sich eingeknüpft ins Netz der Sehnsucht oder war sie grußlos gegangen? Es gab keine fremden Antworten. Therese mußte sich einlassen auf diese Sackgassenstadt, um fortzukommen. Sie mußte eintauchen in diese Nebelstadt, um klar zu sehen. Und von Desiree mußte sie ablassen, damit sie sie finden konnte.

Im Norden, Osten und Westen hielt die Landschaft die Stadt im Zaum. Das Grau des bebauten Gebietes staute sich an den Flanken der Hügel und leckte zu den Kuppen hinauf. Im Süden und Südwesten schwappte es mit seinen Gevierten und Achsen ins Gelbe und Grüne des Flachlandes hinaus und verkrustete zu harten Rändern.
BINDERmichl
AUwiesen
KLEINmünchen
OED
DOPPL
HART

Ein Kind mit strähnigem Haar schlug lautlos auf dem Waschbeton vor den Wohntürmen auf.

Es wird nicht, sagte Therese zu Marie. Es sperrt sich. Die Geschichte von Desiree wird nicht erzählt werden, nicht von mir. Ich kann nicht. Desirees Geschichte wird unbeachtet bleiben wie ein wandernder Stein am Grunde der Donau. Was denkst du, hat sie das Meer geliebt?
Sie war eine gute Springerin.
Auch das wird in einigen Tagen vergessen sein.

Früher schossen sie als Wasserleiche mit einiger Geschwindigkeit talab, und ließen dabei so manchen Stromkilometer hinter sich. Wenn sie heut ins Wasser gehen, kommen sie nicht weit.

DO-KA-WE nannte Max Praha den Dreizeiler, der obenauf lag in einer Mappe aus Zeichenpapier, auf die Max Praha »Donaugschicht‘n und Gedichte« geschrieben hatte. Therese sah, dass ihr das Mädchen mit dem gelben Haar und der großen Nase endgültig entglitt, ein schiefes Lächeln hielt sich noch einen Moment an der Oberfläche des Bewußtseins. Dann riß es die Strömung der Gedanken fort. Zurück blieben Bilder aus der Zeit der Hochwasser.

(...)

Hochwasserschauen I

Treibende Säue
Getriebene Wampen
Das Weiße im Kuhaug´
staunet nicht schlecht.

Im selben Sommer mußte Max Praha Hose und Hemd in einen Nylonsack gestopft haben und in die Hochwasser führende Traun gestiegen sein. Er war flußaufwärts Richtung Marchtrenk gerannt, bevor er im kalten Wasser in die Knie ging und sofort mitgerissen wurde. Die Traun hatte das Flußbett verlassen und wälzte sich durch die Au und über die schottrigen Felder. Max Praha überließ sich der Strömung. Breite Wogen schoben ihn an den stillen Erlen und Weiden vorbei und immer wieder schrie Max Praha »ich lebe, ich lebe« in den weiten Himmel über dem Trauner Becken.
Max Praha kämpfte sich ans Ufer und lief nach Traun, wo in einem Zimmer eine neue akustische Gitarre der Marke Framus stand. Max Praha hatte sie für seine Fender-Stromgitarre eingetauscht, weil die neuen Akustikgitarren in den neuen Beatles-Liedern der Musik eine bis dahin unbekannte Dimension eröffneten. Er mußte
sie einspielen um ihr seine Sprache zu geben.

Prahas Erzählung war längst ein Teil von Thereses Erinnerung. Sie roch das Wasser, sie spürte die entfesselte Strömung, sah die bernsteinfarbene Maserung des Gitarrenholzes und sie hörte das Gleiten der Fingerkuppen auf den Stahlsaiten.

Die Zeit der Hochwasser war die Zeit der Ausnahmen. Die Zille plötzlich ein wichtiges Fahrzeug. Werkzeuge und Möbel wurden auf
den Dachboden getragen, wo in einer Ecke noch immer die Volksgasmaske hing.
Bei Niederwasser hatte das Kind auf den glitschigen Steinen der Schotterbank einmal ein Bajonett gefunden. Die Scheide war verrostet, aber der Stahl der Klinge darunter blitzte. Auch mit dem Hochwasser kam der Krieg zurück. In der Zeit da die Donau neuen Ufern zuströmte, brach der Damm.

Sie trafen sich in Gummistiefeln mit Schrotflinten und Luftdruckge-wehren im Salettl des Donauwirtshauses zum Schießen. Sie zielten auf die Ratten, die das Wasser aus den Kellern in die Strömung trieb. Die Männer schossen, tranken und schossen. Zumindest beim Ratten-schießen zu Hochwasserzeiten waren sie sich laut einig, daß nicht
alles schlecht war damals.
Zur Zeit der Hochwasser war noch nicht absehbar, daß es am Ufer einer trägen, aufgestauten Donau keine Ratten mehr brauchte, um sie einig zu sehen, wenn sie dem Raum ihr »hab ich nicht recht?« aufdrängten. »Die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit« sollte einer der ihren mit schmalen Lippen verkünden. Der Druck in Thereses Brust nahm zu.

Hochwasserschauen II

Bau!
Mmmmau!!
Schau
Hhau!!!

Max Praha schrieb seine Gedichte mit der Hand. Eine großzügige, ruhige Schrift setzte Skulpturen aus Worten, Zeilen und Strophen in den weiten Raum des weißen Blattes, ganz anders als Thereses geduckte Schrift, die Zentimeter um Zentimeter gegen die Sprachleere anzukämpfen schien.

»Auf alten Stadtplänen spüre ich verschwundenen Plätzen und Straßen nach, an vorauseilenden Schatten erkenne ich zukünftige Knoten und Einlagerungen in Bauernland. Wohnblöcke wachsen aus Feldern, die Schritte der Mägde verstummen auf frischem Asphalt, der Enkel des Knechtes betritt den Aufzug und stellt sich fortan in den Glutatem des Hochofens, während in den vornehmeren Gegenden der Stadt das Fortschreiten der Zeit weiter an der Blüte des Magnolienbaumes abzulesen ist.«

Ich werde versuchen Desiree eine Stimme zu geben, sagte Therese zu Marie. Desiree wird eine Geschichte erzählen. Es wird nicht die
unsere sein.

Auszug aus: Atemnot
1. Auflage Linz-Wien, Resistenz, 2001

 

Doch den Mond in der Sicht

Katharina Kain und Alenka Maly gestalten am 28. November 2013, 20.00 Uhr, in der Stadtwerkstatt einen »Abend der Hinterlassenschaften«, lesen aus Eugenie Kains Roman »Atemnot« und begleiten Songs mit geerbten Gitarren von Gust Maly und
einer Luftgeige.

Die Stadtwerkstatt als Ort der Erstaufführung ist für Kain und Maly nicht Location allein, sie spielt auch eine nicht unbedeutende Rolle in der Familiengeschichte.

2014 geht das Programm auf Tour durch die Bundesländer.