Viv Albertines Autobiografie hätte ganz leicht eine Held_innengeschichte werden können. Die Nordlondonerin wächst in den 1960er Jahren in mehr als bescheidenen Verhältnissen auf, positioniert sich in den 1970ern als Kunststudierende (Mode & Textil, Hornsey & Chelsea School of Art) und Hausbesetzerin, pflegt dabei ein explizites Naheverhältnis zu jenen britischen und amerikanischen Punkbands, die es zu fame auf Major Labels und einem Ruf als beispiellose Ikonoklasten des Rock bringen sollten (siehe: Sex Pistols, The Clash, Johnny Thunders and the Heartbreakers), heuert 1977 schließlich selbst als Gitarristin in einer der wenigen sich zeitgleich formierenden all-female Punkgruppen an, bricht mit dieser Band, den Slits, mehr an Rock’n’Roll-Regeln, als den contemporary Bubenkombos generell so vorschwebt (fun fact: auf der gemeinsamen Tour werden die Slits wegen ihres skandalösen Auftretens des Hotels verwiesen, nicht aber The Clash, die Subway Sect, oder die Buzzcocks), nimmt im September des selben Jahres eine Peel Session auf, die einer ob ihrer Exzentrik und Energie heute noch die Haare zu Berge stehen lässt (Anspieltipp: »Love Und Romance«; rrrrrrr-rrrrrrr-rrrrrrr!), setzt zwei Jahre später mit dem Studioalbum Cut auf Island Records eine landmark in Sachen dub-infiziertem Postpunk, tourt bis in die frühen 1980er die Welt, fällt post-band-breakup in ein einjähriges, schwarzes Loch, entsteigt diesem 1983 als eine der ersten (und ersten erfolgreichen) Aerobic-Instruktorinnen der Spandex-Ära, kehrt – diesmal als Filmschaffende und Studierende feministischer Filmtheorien – an die Kunstuni zurück, arbeitet anschließend für BBC, heiratet, kriegt ein Kind, kriegt Krebs und Depressionen, zwingt Krebs und Depressionen in die Knie, wagt sich in den späten 2000ern als Mittfünfzigerin über Open Mic Gigs in der südenglischen Pampa zurück ins Musikmachen, schafft es gleichzeitig, sich aus ihrer sauer gewordenen Ehe zu verabschieden, veröffentlicht 2012 ein Soloalbum, und reist 2015 aus ihrer Autobiografie lesend – begleitet von beachtlichem Medienecho, und immer noch schick in Lederjacke und engen Hosen – durch Europa.
Umso überraschender zeichnen Albertines Memoiren genau nicht eine erfolgreiche Coming-Of-Age Entwicklungsgeschichte eines großen Subjekts nach – wie auch schon im fantastisch sperrigen, provokant seichten, seduktiv rhythmischen Titel des Werks Clothes, Clothes, Clothes. Music, Music, Music. Boys, Boys, Boys. deutlich wird. Im Gegenteil: Albertine präsentiert ihr Leben als einen Sisyphos-Parcours aus Probieren und Scheitern, in dem der Lauf der Dinge weniger durch den Willen oder das Vermögen der Einzelnen bestimmbar ist, sondern sich irgendwo zwischen schwierigen Umständen, gedankenlosem Hinpatzen, und dem Ergreifen von von Zeit zu Zeit unerwartet aufblitzenden Gelegenheiten geleemäßig einkocht. Für eine feministische Leser_in ist dies zweifach interessant: einerseits torpediert Albertine damit die (seit der bürgerlichen Moderne vorwiegend männlich konnotierten) Legende vom Genie, dessen außergewöhnliche Leistungen sich nur aus dem eigenen Geist speisen, und andererseits holt ihr langer Beobachtungszeitraum, der das Publikum am Leben der Musikerin weit nach ihrem vermeintlichen Abgang aus der (öffentlichen, glamourösen, erstrebens- und bewundernswerten) Welt der popkulturell Produzierenden teilhaben lässt. Um es mit Carrie Brownstein1 (Sleater-Kinney, Wild Flag) zu sagen: wir hören in Clothes... »a voice ... that’s seldom heard, [...] that of a middle-aged woman singing about the trappings of motherhood, traditions and marriage.... She places in front of you – serves you up – an image of the repressive side of domesticity, the stifling nature of the mundane, and turns every comfort and assumption you hold on its head. It raises questions that no one wants to ask a wife or mother, particularly one’s own… Because after a certain point, we’re supposed to feel settled, or at the very least resigned.«
In anderen Worten: Clothes... bugsiert uns in extrem obskures Territorium, das in Legendengeschichten genau deswegen einen so marginalisierten Status einnimmt, weil es an den im Offiziellen kusierenden, männlichen ‘Normal-‘Biografien gemessen so uncool erscheint.
Clothes... taucht sehr konsequent überkopf in diese Uncoolness ein, und übersetzt sie dabei in ein Register, das der informierten Leser_in aus vielen Second-Wave-geprägten feministischen Interventionen in die Kunstwelt bekannt vorkommen dürfte: die offensive Darbietung des tropfenden, wuchernden, ausdünstenden Körpers. Albertine verhandelt ihre Geschichte immer auch über die Fleischlichkeit des Daseins (wir lernen u.a.: Intimität unter 70er-Punks heißt, ein Naheverhältnis mit Filzläusen, Zipfelkäs, Menstruationsblut und Urin kultivieren zu lernen), des (weiblichen) Menschen Verletzlichkeit (extern – Messerattacken und Vergewaltigung – wie intern – In-Vitro-Fertilisation und Krebs), und das Unterworfensein alles Lebendigens unter das gnadenlose Fortschreiten der Zeit (nasty Alter gets us all). Sogar die Wahl ihrer ersten Gitarre erscheint bei Albertine als eine Frage der körperlichen Kompatibilität (S.93). Wie nachhaltig dergleichen Strategien eine weiße, männliche Popschreibe verunsichern können, zeigt sich zum Beispiel daran, dass die Slits bis in die 2000er Jahre hinein gerne auf ihre vermeintlich animalische Primitivität reduziert werden (unter anderem auch in Simon Reynolds’ Rip It Up and Start Again).
Wem das zu abgespaced ist: Jenseits aller Körper/Geschlechterpolitik bietet zumindest der erste Teil von Clothes... auch einen faszinierenden Einblick in die komische, kurze Phase, in der Punk ein Major-Genre und Punkmusiker_in sein – in allem Dilletantismus – eine Art (zumindest potentiell, temporär) brotschaffende Karriere war. Anders gesagt: Albertine illustriert die Seltsamkeiten, die aus dem Zusammentreffen von DIY-Rotzigkeit und Rock-Industriestrukturen der 1970er entwachsen – und die es laut Albertine »armen, gewöhnlichen Leuten« ermöglichten, »sich auszudrücken«.[2] So spielen die Slits zum Beispiel ihr erstes offizielles Konzert vor hunderten Menschen, im Edinburgh Playhouse, als Support für The Clash auf deren White Riot Tour. Die Generalprobe für diese Show findet mehrere Wochen zuvor statt, als die Frauen ein Pub in Islington stürmen, eine Bande Rockdudes von der Bühne tögeln, sich durch »Let’s Do The Split« jagen, und wieder abreissen – um danach zwei Major-Platten aufzunehmen. Faszinierend, weil aus einer gegenwärtigen Perspektive der kleinteilig Musikschaffenden betrachtet nahezu unvorstellbar.
Zusammenfassend: Ich bin versucht, das Attribut der ‚Authentizität’ in Bezug auf diese Autobiografie ausnahmsweise einmal lobend einzusetzen. Albertine betont im Buch, wie wichtig ihr es gewesen sei, dieses trotz mangelnder Skills in Sachen Schreiben selbst zu verfassen (und es nicht in die Hände einer zwanzigjährige Ghostwriterin zu legen, wie es ihrem Verlag ursprünglich vorgeschwebt war). Das Ergebnis ist struppig genug, um die Geschichte des kanonisierten britischen Punks der 1970er Jahre um eine tatsächlich illuminierende Perspektive zu erweitern. Darüber hinaus entwindet Clothes... das ‚Authentische’ seinem oft so konservativen Beigeschmack: Hier geht es nicht um die Legitimierung von Normalität, sondern darum, wie beschissen Erwachsenwerden und Sich-Im-Alter-Normalisieren-Müssen anfühlen kann. Happy End: Albertine kündigt ein Sequel für den Sommer 2016 an.
Viv Albertine: Clothes Clothes Clothes. Music Music Music. Boys Boys Boys. A Memoir. Faber & Faber 2015.