Heute klamm, morgen Glamour?

Im europäischen Kulturhauptstadtjahr des Ruhrgebiets tun sich gerade riesige kommunale Finanzlöcher auf. Derweilen bemüht das offizielle RUHR.2010 ein Zukunftsbild pulsierender Kreativquartiere. Von Andreas Kump.

»Streichkonzert der Städte«. Was wie ein Programmpunkt der Kulturhauptstadt klingt, offenbart hingegen die blanke Realität der Finanzen im Ruhrgebiet. Die Stadt Essen ist mit einem Defizit von 300 Mio. Euro und fast 3 Mrd. Schulden mehr als klamm. Und da »Essen für das Ruhrgebiet« steht, wie der Logozusatz von »RUHR.2010 – Kulturhauptstadt Europas« verrät, ist die Diagnose auch auf Gelsenkirchen, Bochum, Duisburg, Dortmund etc. übertragbar. Damit drohen nahezu allen öffentlichen Sektoren der 5,3 Millionen-Einwohner-Region im Nordwesten Deutschlands endgültig drastische Kürzungen und gravierende Veränderungen. Die Palette reicht von versiegenden Springbrunnen über Büchereischließungen bis zur Reduzierung der Kulturstättendichte.

79 Sparvorschläge für den nächsten Haushalt hat gar die Stadtverwaltung Essen Ende April ins Internet gestellt. Drei Wochen bekamen Bürger so die Gelegenheit, diese Vorschläge einzusehen und zu bewerten. Etwa die »Reduzierung des Verlustausgleichs Theater und Philharmonie Essen GmbH« um rund 17 Mio. Euro. Oder »Einsparungen bei den Kosten der Unterkunft bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung« um weitere 5,2 Mio. Insgesamt sollen auf diese Art 234,6 Mio. für den Etat gerettet werden. Hoffnungsfroher Titel der Aktion: »Essen kriegt die Kurve«.

Wer über RUHR.2010 reden will, muss angesichts solcher Finanzlöcher über Geld reden. Das wird besonders klar, wenn auf Brettern, die in diesem Jahr die Kulturhauptstadt Europas bedeuten, nach der Vorstellung eine Erklärung verlesen wird, die den Fortbestand des Theaters thematisiert. Gerade noch beklatschte das Publikum im Essener Grillo-Theater das Stück »Areteia« aus dem RUHR.2010-Reigen »Odyssee Europa«, schon steht es im Foyer an, um sich mit Unterschriften für den städtischen Kulturetat einzusetzen. Das »Streichkonzert« scheint so weniger Begleitmusik, denn zunehmend zum Grundton des Kulturhauptstadtjahres zu werden.
Hier holt die Region eine sich seit Jahrzehnten dahinschleppende Abwärtsentwicklung ein, der die Macher von RUHR.2010 mit ihrem Motto »Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel« progressiv begegnen wollen. Als wahrlich nicht die Ersten.

Einst durch Kohle- und Schwerindustrie, allem voran die heute fusionierten Konzerne Thyssen und Krupp, geprägt, ringt das Ruhrgebiet seit Schließungen der Kohlezechen und Deindustrialisierung seit 40 Jahren um eine neue Basis für das Glück seiner Städte.
Ein Ringen, das selten von Koordination und mit Weitsicht gesegnet war. Einerseits wurde oft erfolglos auf angesagte Modelle des Strukturwandels gesetzt, während der 80er-Jahre etwa auf Technologieparks. Andererseits betreiben die Gemeinden bis heute eine konkurrierende »Kirchturmpolitik«, die zu Parallelstrukturen bei öffentlichen Einrichtungen führte. Und das, obwohl im Ruhrgebiet die Kirchtürme eng aneinander stehen. Wobei dieser Tage ohnehin mehr von Leucht- als von Kirchtürmen die Rede ist. Gemeint sind Prestigeprojekte, von denen sich die Städte neue Strahl- und Anziehungskraft versprechen. In Essen kam mit der Erweiterung des Folkwang Museums gerade ein solcher »Leuchtturm« neu hinzu. Finanziert von der Krupp-Stiftung. Jedoch mit dem Pferdefuß jährlicher Unterhaltungskosten von rund 4 Mio. Euro, die allein die Stadt zu tragen hat. In Bochum, exakt 10 Zug-Minuten entfernt, hält man weiter an den Plänen für ein Konzerthaus fest, dessen Notwendigkeit sich angesichts der Finanzlöcher nicht einmal in den Sphären der Hochkultur allen erschließt.

Dies der Hintergrund zu einem Kulturhauptstadtjahr, das erstmals in der Geschichte des Formates an eine Region vergeben wurde. Ein Umstand, den die ausführende RUHR.2010 GmbH rechtfertigte, indem sie das Ruhrgebiet mit seinen 53 Städten zur »Metropole Ruhr« erklärte. Als quasi Anti-These zur Kirchturmpolitik und Vision eines großen, gemeinsamen Kreativquartiers. Denn zur Metropolendeklaration gehört, dass die heute vielerorts beschworene »Kreativwirtschaft« endgültig den vakanten Posten von Kohle und Stahl antreten soll. »Nie zuvor hat eine Kulturhaupt-stadt die Kreativwirtschaft zu einem ihrer Hauptthemen gemacht und sie gleichberechtigt in ein Programm neben die öffentlich finanzierte Kultur gestellt.« So steht es auf der offiziellen RUHR.2010-Website zu lesen. Elf Branchen, »von Film über Games bis Musik, von Literatur über Design zu den darstellenden Künsten«, hat man dazu »als treibende Kräfte gesellschaftlicher und sozialer Veränderungen erkannt«. Und mit dem Dortmunder U, einer adaptierten vormaligen Brauerei, hat auch die Kreativwirtschaft ihren standesgemäßen Leuchtturm erhalten. Ähnlich dem Areal des RUHR.2010-Fixationspunktes Zeche Zollverein konzentrieren sich in Dortmund fortan Hochschulen, Medienprojekte und -unternehmen, um eigene Geistesleistungen mit Synergieeffekten zu Wirtschaftsgütern werden zu lassen.

Strukturwandel, Metropole und Kreativwirtschaft. Dass hier ein weit reichender Masterplan ausgerollt wird, schlägt sich auch in der kritischen Auseinandersetzung mit RUHR.2010 nieder. Es ist aber weniger das Programm noch sind es Personalien, die dabei verhandelt werden. Die Kritik zielt auf Grundlegenderes ab. Der generelle Metropolenüberbau steht zur Diskussion, wie auch die Frage, ob sich das Versprechen »Kreativwirtschaft« auf lokale Verhältnisse übertragen lässt?
Es gibt nicht wenige, die das skeptisch sehen. Darunter auch Rainer Midlaszewski von der AG Kritische Kulturhauptstadt1 aus Bochum. Als freischaffender Grafikdesigner mit dem kreativen Berufsfeld bestens vertraut, hat Midlaszewski mit anderen Vertretern der Kleingruppierung ein vierseitiges, lesenswertes Thesenpapier zu RUHR.2010 verfasst. Souverän werden darin die gewachsenen Strukturpro-bleme der Region benannt, auf Globalisierungsprozesse umgemünzt und zudem die Crux an der Versprechung Kreativwirtschaft erklärt.

»Metropolenträume in der Provinz«, so der Titel, lässt sich dabei aber nicht allein für das Ruhrgebiet lesen. Vom Abwandern qualifizierter Bevölkerungsgruppen bis zu Leerstand und Schrumpfung: Das Thesenpapier verhandelt nicht weniger als den Status quo vieler europäischer Städte im nachhallenden Industriezeitalter. Und kommt dabei zu anderen Antworten als die RUHR.2010-Planer. Eine Konsequenz der Parameter, die für die AG nicht am »steifen Festhalten an der Vorstellung einer Rückkehr zur Vollbeschäftigung« liegen, sondern an der Honorierung einer »gesellschaftlichen Teilhabe« in Form eines bedingungslosen Grundeinkommens für alle.
»Hinter dem, was da jetzt so hochgejubelt wird, verbergen sich so viele prekäre, unsichere Arbeitsverhältnisse«, führt Midlaszewski im Bochumer Café Tucholsky gegenüber der VERSORGERIN aus. Tatsächlich belegt eine Studie der Wirtschaftsförderung Metropole Ruhr2, dass von den heute 86.000 Beschäftigten der Kreativwirtschaft im Ruhrgebiet, nur 44 Prozent ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis aufweisen. Wobei Midlaszewski sich ohnehin sorgt, dass mit Hamburg, Berlin und dem nahen Köln gewachsene Medienstädte um junge Kreative und Unternehmen buhlen. Angesichts der Tatsache, dass die Stadt Bochum laut Presseberichten sogar schon erwägt, aus Einsparungs-gründen die Temperaturen öffentlicher Schwimmbäder um ein Grad abzusenken, sehe Midlaszewski den 65 Millionen-Etat von RUHR.2010 anstatt in Kreativquartieren lieber in Maßnahmen investiert, die unmittelbarer »den Leuten zu gute kommen, die hier leben«. Das habe einmal schon vorbildlich geklappt: Als beim Langzeitprojekt Internationale Bauausstellung Emscher Park (IBA) zwischen 1989 und 1999 u. a. brache Industrieareale für die Bevölkerung geöffnet und alte Werkssiedlungen unter Beibehaltung der Mieterstruktur saniert wurden.

Dass nicht jeder Kreative ins Ruhrgebiet versetzt werden muss, sondern manche nie weggezogen sind, beweist die Internetplattform »Unprojekte 2010«3. Hinter dem gleichnamigen Verein steht mit u. a. Holger Gathmann, Gabriel Gedenk, André Michaelis, Stella Sotgia und Marcus Kroll ein umtriebiges Konglomerat an Personen, das sowohl als Werber wie auch als Betreiber der Bar »Banditen wie wir« schon bisher ihr Kreativquartier in Essen-Rüttenscheid hegte. Mit »Unprojekte 2010« haben sich diese Szeneakteure der vielen Ideen angenommen, die bei RUHR.2010 unter den Tisch gefallen sind. 107 Projekte sind aktuell auf ihrer Plattform zur Besichtigung und Bewertung ausgestellt. Ziel der Aktion ist vorhandenes kreatives Potenzial aufzuzeigen bzw. abgelehnte Projekte über Sponsoren doch noch zu verwirklichen. Was mit dem Brettspiel »aufRUHR!« und der mit 4 Meter größten begehbaren Tarzanskulptur der Welt (!) schon gelang.

Von 14. 8. bis 12. 9. 2010 hält man in Kooperation mit der Interessensgemeinschaft City Nord gleich ein ganzes Unprojekte-Festival im Bereich Nördliche Innenstadt ab. Leerstände werden dabei zu temporären Ateliers und einem Club, der öffentliche Raum mit dem Unprojekte-Netzwerk an Musikern, DJs und Künstlern bespielt. Damit bewirkt RUHR.2010 auch eine Vernetzung der anderen Art. Beim Unprojekte-Team hat der Spaß mit der Ablehnung scheinbar gerade erst begonnen.