Spektakel und Kritik

Stephan Grigat über Guy Debord und die Situationistische Internationale.

Der Begriff des Spektakels hat durch die in den 60er Jahren formulierten Überlegungen Guy Debords Eingang in die Sozial- und Kulturwissenschaften und in die materialistische Kritik gefunden. Debord gehörte zu den zentralen Figuren in der Situationistischen Internationale, einer Vereinigung von Gesellschaftskritikern, Künstlern und Anti-Künstlern, die von 1957 bis 1972 existierte. In der Politikwissenschaft wird der Spektakelbegriff heute vorrangig zur Kritik des Medien-, Kultur- und Sportgeschehens gebraucht, wodurch sein gesellschaftssprengendes Potenzial verloren zu gehen droht. Bei Debord steht er für den Versuch einer Reformulierung der Marxschen Kritik im Angesicht des Scheiterns der revolutionären Emanzipationsbestrebungen des Proletariats, das sich im Siegeszug des »konzentrierten Spektakels« von Stalinismus und Faschismus ebenso ausdrückte wie im »diffusen Spektakel« des consumer capitalism samt sozialdemokratischer Integration des Proletariats, und das sich im »integrierten Spektakel« nach der Auflösung der Systemkonfrontation ab Ende der 1980er Jahre in der scheinbaren Alternativlosigkeit kapitaler Ausbeutung und staatlicher Herrschaft fortschrieb.
Debords Beschreibung der Totalität der Gesellschaft in unmittelbarer Anlehnung an das Marxsche »Kapital«, dessen ersten Satz er in seinem Hauptwerk paraphrasiert: »Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln.« Im Begriff des Spektakels ist bei Debord der Begriff des Kapitals aufgehoben. Das Spektakel sei das Kapital in einem solchen Grad der Akkumulation, dass es zum Bild mutiere. Debord begreift das Spektakel als gesteigerte Form des Fetischismus, der sich im Spektakel vollende. Marx hat die Verwandlung menschlicher Beziehungen in die Beziehungen von Dingen beschrieben. Debord greift dies auf und beschreibt die Verwandlung der menschlichen Beziehungen in die Beziehung zwischen Bildern, die den Menschen noch äußerlicher erscheinen als die Dinge.
Das Spektakel ist nach Debord »die Selbstherrschaft der zu einem Status unverantwortlicher Souveränität gelangten Warenwirtschaft und die Gesamtheit der neuen Regierungstechniken, die mit dieser Herrschaft einhergehen.« Das Spektakel, das die Menschen auf die Rolle von Zuschauern reduziere, wird als materielle Wiederkehr des Vorgängers des Warenfetischs begriffen, als »materieller Wiederaufbau der religiösen Illusion.« Ein Grundmoment des Marxschen Warenfetischs, die Substituierung menschlicher Beziehungen durch die reale wie scheinhafte Beziehung von Dingen, ist bei Debord konstitutiver Bestandteil des Spektakels: »Der fetischistische Schein reiner Objektivität in den spektakulären Beziehungen verbirgt deren Charakter als Beziehung zwischen Menschen und zwischen Klassen: eine zweite Natur scheint unsere Umwelt mit ihren unvermeidlichen Gesetzen zu beherrschen.«
Debord denkt die Totalität im Spektakel immer im Zusammenhang mit der politischen Gewalt. Er konstatiert zwar eine Verselbständigung der Ökonomie vom bewussten Handeln der Menschen, aber keine Verselbständigung der Wirtschaft vom Staat in dem Sinne, dass der Staat als positiv eingreifender Regulator angerufen werden könnte – was heute in der Antiglobalisierungsbewegung gängige Praxis geworden ist. Die spektakuläre Gesellschaft basiert zwar auf Verselbständigungen, aber gerade über diese Verselbständigungen konstituiert sie ihre Einheit. Debord reflektiert die notwendige Trennung der politischen Gewalt von der Ökonomie, die sie zu garantieren hat, ohne diese Gewalt positiv aufzuladen oder für autonom zu erklären. Gegen das staatsfetischistische Ausspielen vom Markt gegen den Staat richtet sich Debord mit dem Verweis auf die gegenseitige Abhängigkeit dieser beiden, die gesellschaftliche Totalität des Spektakels konstituierenden Instanzen: »Von jeder der beiden läßt sich sagen, daß sie die andere in der Gewalt hat. Sie einander gegenüberzustellen, zu unterscheiden, worin sie vernünftig und worin sie unvernünftig sind, ist absurd.«

Das im Spektakelbegriff gebannte Kapital ist bei Debord nicht primär als selbst bewusste Macht, sondern als automatisches Subjekt gegenwärtig, als »sich selbst bewegende Wirtschaft«. Im Spektakel ist eine ähnlich irre machende Gleichzeitigkeit von Wirklichkeit und verkehrtem Schein gegenwärtig wie sie Marx bereits in der einfachen Warenform aufgezeigt hat: »Das Spektakel, das das Wirkliche verkehrt, wird wirklich erzeugt.« Das Spektakel ist bei Debord nicht nur eine Folge der Denkabstraktion, sondern der Realabstraktion, die dem Prozess kapitalistischer Warenproduktion zugrunde liegt. Während im Wert von jeder Gesellschaftlichkeit abstrahiert wird, obwohl er Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse und ihre Vermittlung mit sich selbst ist, abstrahieren die Bilder des Spektakels von allem Lebendigen, das Debord als positiven Gegenpol zur spektakulären Herrschaft betrachtet.

Da im Lebendigen der positive Gegenpol zur toten, unmenschlichen Abstraktion gesehen wird, droht Debord zeitweise in Vitalismus, Anthropologie und Lebensphilosophie abzugleiten. Wohl nicht zuletzt durch die Absage an die Kunst, die mitunter notwendige Distanz zu ermöglichen vermag, steht Debord vor dem Problem, dem Spektakel mit einem Konkretismus zu begegnen, der aber merkwürdig abstrakt bleibt. Was das Lebendige ausmacht, was das demnach tote Spektakel negieren soll, bleibt unklar. Debord postuliert ein vermeintlich richtiges Leben inmitten der falschen Gesellschaft als subversive Strategie. Er überschätzt die Verpflichtung der an Emanzipation interessierten Menschen, jetzt und hier anders zu leben und gelangt in seinem autobiographischen »Panegyrikus« zu einer Selbsteinschätzung, die sämtliche sich notwendigerweise ergebenden Ambivalenzen und Paradoxien einer kritischen Existenz in der spektakulären Gesellschaft ausblendet, ja negiert: »Ich habe jedenfalls bestimmt so gelebt, wie ich gefordert habe, daß man leben müsse«.
Der größte Mangel von Debords Spektakelbegriff besteht in seiner Ignoranz gegenüber dem Nationalsozialismus und seinem Vernichtungsantisemitismus. Debord erörtert zwar in knappen Worten den Beitrag des Faschismus zur Herausbildung des modernen Spektakels, kann ihn aber nur mit einem totalitarismustheoretischen Vokabular beschreiben. Die gleichzeitige Kritik an faschistischer und stalinistischer Herrschaft verweist auf eine Parallele zur Kritischen Theorie Theodor W. Adornos und Max Horkheimers, aber die Ausblendung des nationalsozialistischen Antisemitismus markiert eine der deutlichsten Differenzen der Situationisten zu den Frankfurtern.
Debords Spektakelkritik impliziert ein erkenntniskritisches Diktum, wonach die »Wahrheit dieser Gesellschaft nichts anderes ist als die Negation dieser Gesellschaft«, was in seiner Allgemeinheit ebenso richtig ist wie es nach dem Nationalsozialismus, der barbarischen Negation der bürgerlichen Gesellschaft, falsch wurde. Die Negation orientiert sich hier am Marxschen, bereits 1844 formulierten kategorischen Imperativ, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«, nicht aber am Adornoschen, der in Reflexion auf die Katastrophe fordert, alles Handeln so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole. Die Spektakelkritik, die immer auch eine Kritik der real existierenden Linken implizierte, teilte mit großen Teilen dieser Linken die Ignoranz gegenüber dem kapitalentsprungenen Antisemitismus, was ihr auch ein Verständnis des Zionismus als Notwehrmaßnahme gegen diesen Antisemitismus von vornherein unmöglich machte. Neuere Arbeiten zur Spektakelkritik stellen die fehlende Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Antisemitismus als zentralen blinden Fleck der situationistischen Kritik heraus. Sie versuchen, einen materialistischen Begriff des Zionismus in die Kritik spektakulärer Warenwirtschaft zu integrieren. Die Bekämpfung des globalen Antisemitismus in all seinen Gestalten durch die Proletarisierten in Allianz mit bürgerlich-zivilisatorischen Elementen wird dabei als eine der zentralen Aufgaben einer aktualisierten Kritik des Spektakels auszuweisen sein.

Zum Weiterlesen:

Biene Baumeister Zwi Negator: Situationistische Revolutionstheorie. Eine Aneignung, Stuttgart 2005
Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996 (1967)
Guy Debord: (Panegyrikus. Erster Band, Berlin 1997 (1989)
Stephan Grigat: Fetischismus und Widerstand. Guy Debords Rezeption der Kritik der politischen Ökonomie und die Schwierigkeiten der Gesellschaftskritik nach Auschwitz, in: Stephan Grigat/Johannes Grenzfurthner/Günther Friesinger (Hg.): Spektakel – Kunst – Gesellschaft. Guy Debord und die Situationistische Internationale, Berlin 2006
Anselm Jappe: Politik des Spektakels – Spektakel der Politik. Zur Aktualität der Theorie von Guy Debord, in: Krisis. Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft, Nr. 20, 1998.

Veranstaltungstipp

Am Montag, den 17. April, 19.00 Uhr, hält Stephan Grigat in der Stadtwerkstatt (Servus-Clubraum) den Vortrag »Reden über die Revolution – Schweigen über den Antisemitismus. Die Situationistische Internationale und ihre Bewunderer«.