Zweites Hauptstück: Von dem Kommentar
Was ist der Kommentar?
Der Kommentar ist der Seufzer der bedrängten, wie der bedrängenden Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, der Geist geistloser Zustände, kurz: Meinung. Aber nicht irgendeine, sondern die Manifestation der Ideologie von der Vierten Gewalt als demokratiepolitisches Korrektiv.
Der Kommentar ist ein Wuchtgewicht zum Tarieren der Blattlinie, der aber weniger kostet als aufwändige Recherche. Er wurzelt in der Überzeugung, dass Expertise in der Dokumentation des tagespolitischen Handgemenges nicht nur zu dessen Bewertung befähigt, sondern auch zur moralischen Kompassnadel macht. Kurz: Dass sich die genaue Kenntnis der Müllhalde nahtlos in Recycling-Empfehlungen übersetzt. Ungeachtet seines Anspruchs, eine Instanz zur sittlichen Orientierung zu sein, ist er volatil (flüchtig) und wechselhaft („was schert mich mein Geschwätz von gestern?“).
Wie vielerlei ist der Kommentar?
Zweierlei: Es gibt, wie man sagt, den äußerlichen und den innerlichen Kommentar. Zwar sind beide öffentlich vernehmbar – der äußere ist aber wirkungsvoller: Der äußere Kommentar ist Handhabe jener, die zwar Geld und Einfluss haben, denen zuviel davon aber nicht genug ist. Er ist wirksam, weil dieser Baalsdienst auf die hinter ihm stehende Konzernmacht und das Mittel des Schmähklatsches bauen kann, um Werbeschaltungen zu bekommen. Äußere Kommentare verfügen über hohe Auflage, worin ihre Sanktionsgewalt liegt.
Der innerliche Kommentar dagegen gleicht einem Selbstgespräch: und zwar dem jener, die über weniger Macht verfügen und darauf auch hinweisen, um Integrität zu demonstrieren. Der innerliche Kommentar ist der Ruf eines Vögelchens in der Wüste, das sein Schnäbelchen zwar auch in den Anzeigenpool tauchen möchte – aus der trockenen Kehle aber eine Zier zu machen weiß: Innere Kommentare haben Weis- und Wahrheit zwar nicht gepachtet (ziehen also keinen finanziellen Ertrag), aber doch zumindest einen Leasing-Vertrag mit ihr. Der innere Kommentar wird zwar nur vom eigenen Schwarm der journalistischen Peers (dem Medienkarrussell) registriert, tut aber in mehrerlei Weise so, als würden seine Deklarationen Ausdruck und Teil des public sentiment sein – oder sogar von Staats- und Industrieoberhäuptern erwartet. Wir widmen uns in Folge detaillierter dem innerlichen Kommentar.
Wie viele Arten des innerlichen Kommentars gibt es?
Es gibt seiner drei: Die Betrachtung, welche sich ganz besonders für die eignet, die journalistisch am Anfang stehen; der zweite ist der Kommentar der Bekehrung, welcher voraussetzt, dass man schon einige Fortschritte gemacht hat; der letzte ist jener der Belehrung, welcher nach dem gewöhnlichen Laufe der journalistischen Vorsehung für die Vollkommenen gehört, obgleich sich manchmal auch Neulinge dahin erheben können – bzw. sich von einem gerade gelandeten „scoop“ dorthin tragen lassen.
Was ist die Betrachtung?
Ein innerlicher Kommentar, der Untersuchungen anstellt und die journalistischen Wahrheiten erwägt. Er bescheidet sich nicht mit bloßer Darstellung und geht über Berichterstattung hinaus, seine Kritik ist aber meist nah am Material und zieht Schlüsse aus dessen Analyse. Da derart unaufgeregtes Vorgehen nur eingeschränkt zu Klickgenerierung taugt, befindet sich diese Form des Kommentars tendenziell auf dem Rückzug, bzw. wird er ausgelagert und der akademischen Selbstdarstellung überantwortet.
Was dient der Betrachtung am besten zum Stoffe?
Sie speist sich aus dem prallen Fundus journalistischer Erfahrungen und reicht vom Abschöpfen dessen, was auf Pressekonferenzen eingeflößt wird, bis hin zu beinharten Undercover-Recherchen hinter feindlichen Linien im Dienste der Wahrheit.
Wie stellt man die Betrachtung an?
Je nach Geisteshaltung fällt sie strebsam aus (Fakt-Checking als Ausdauersport) oder abgeklärt (Nihil sub sole novum! Nichts Neues unter der Sonne!).
Wie viel Zeit soll man zur Betrachtung verwenden?
Solange der Redaktionsschluss noch nicht überschritten ist, gar keine – danach übernimmt das Baukastenprinzip, bei dem aus anderen Arbeiten geschöpft wird (etwa einer geplanten Buchveröffentlichung zum Thema).
In welcher Leibesstellung soll man Betrachten?
Die klassische Position bei den strebsam vor der Tastatur Sitzenden ist die des durchgestreckten Rückens und in die Luft gereckter Nase: Sie verdankt sich dem Stolz, auf detaillierte Recherche und mühsame Einarbeitung ins Thema bauen zu können. Die Fraktion der Abgeklärten tendiert traditionell eher zur legeren Gonzo-Positur mit Schnappsglas-Kralle, deren Griff mit zunehmendem Dienstalter immer verkrampfter und zittriger wird. In jüngerer Zeit legt die gestiegene Gefahr, per „Posting“ unmittelbaren Publikumsreaktionen ausgesetzt zu sein, eine Kopf-in-den-Sand Haltung nahe, um nicht gänzlich um den Verstand gebracht zu werden.
Durch welche Versuchungen wird man gemeiniglich vom Kommentar abgehalten?
Kommentare (v.a. äußere) lassen sich einerseits durch Zuwendungen in Form von Werbeschaltung nicht nur in seiner Richtung beeinflussen, sondern auch verhindern. Dieser Ueberdruß ist durchaus Teil seiner Mission. Die Geistesdürre dagegen verspüren jene, die beständiger aria fritta ausgesetzt sind und sich fragen, warum sie noch einen Kommentar abgeben sollen, nachdem nicht nur alles gesagt wurde, sondern auch schon von allen – und das mehrfach. Besonderer Frustrationstoleranz bedarf, dass der Kommentar letztlich der Verfügungsgewalt der Chefredaktion unterliegt.
Was haben die zu beobachten, welche mündlichen Kommentar verrichten?
In früheren Zeit war der mündliche Kommentar (im Radio) oft dazu verdammt, als Windhauch in Vergessenheit zu geraten (was durchaus Vorteile bot). Mittlerweile ist auch der mündliche Kommentar Bestandteil der crossmedialen Ökumene: Ein Podcast ist ein Zeitungsartikel – ist ein Blogeintrag – ist ein Social-Media-Post (siehe auch Baukastenprinzip oben).
Journalismus ist kompliziert, darum hat die Versorgerin dazu eine mehrteilige Serie gestartet. Das kommende dritte Hauptstück handelt vom Kommentar der Bekehrung und der Belehrung.