Sie sind sowohl in Österreich als auch an der EU-Außengrenze mit der Situation vertraut. Beginnen wir vielleicht mit Österreich. Mein aktueller Eindruck ist: Je furchtbarer die Situation in den diversen Herkunftsländern der Geflüchteten wird, desto rigider wird die Asylrechtsprechung in Österreich.
Bei der Rechtsprechung möchte ich sehr klar zwischen BfA [Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Anm.] und Bundesverwaltungsgericht sowie Verfassungsgerichtshof unterscheiden. Das BfA ist sehr politisch orientiert. Das haben wir 2016 sehr genau beobachten können, als der EU-Deal »Joint Way Forward« mit Afghanistan abgeschlossen wurde. Von da an haben die Afghan*innen zu 60% bis 70% vom BfA einen negativen Bescheid bekommen. In vielen Fällen gestaltete es sich dann sehr arbeitsintensiv und auch finanziell intensiv, mit einem Rechtsanwalt in die zweite Instanz zu gehen. Hinzu kommt die Frage, wie die Länderfest-stellungen aufbereitet sind. Die Richter und Richterinnen können nur mit dem arbeiten, was sie vorliegen haben. Mein ehemaliger Kollege Wolfgang Salm von »Fairness Asyl« konnte nach mühevoller Recherche feststellen, dass viele Länderberichte und Länderfeststellungen sehr mangelhaft sind.
Aktuell ein gravierendes Beispiel: In Afghanistan wird die Situation täglich schlechter. Vor kurzem fand ein Anschlag auf eine Schule statt, bei dem es 55 Tote, hauptsächlich Schülerinnen, zu beklagen gab. Wenig später starben 12 Menschen bei einem Anschlag auf eine Moschee in der Nähe von Kabul. Aber der österreichische Innenminister verzieht keine Miene, Abschiebungen sollen weiter stattfinden. Die Bundesregierung argumentiert dann damit, die Hilfe vor Ort zu verbessern. Das ist aber lächerlich. Außer Bemühungen dahingehend, dass die Abschiebeflugzeuge sicherer landen können und die Frontex-Polizisten sicherer sind, gibt es keine Hilfe vor Ort. Auch die Hilfe für »freiwillige Rückkehrer« ist aktuell durch Corona sehr dezimiert.
Hat es während der Pandemie ununterbrochen Abschiebungen nach Afghanistan gegeben?
Zu Beginn waren die Abschiebungen einige Monate ausgesetzt. Später wurden sie, unter großem Protest der Menschenrechtsorganisationen und NGOs, wieder aufgenommen. Außerdem liefen während der Pandemie die Besprechungen zum neuen »Joint Way Forward«-Vertrag mit Afghanistan, der schließlich auch unterzeichnet wurde. Es wird alles daran gesetzt, auch während der Pandemie abschieben zu können. Es wird von österreichischer Seite z.B. argumentiert, dass es ja gar nicht so viele Corona-Fälle in Afghanistan gäbe. Fragt man aber Afghanistan- Experten wie Friederike Stahlmann oder Thomas Ruttig, wird klar, dass dort viele Corona-Fälle einfach nicht registriert werden.
In Österreich wird von verschiedenen Seiten gefordert, Flüchtlinge aus den griechischen Lagern aufzunehmen.
Hervorzuheben ist der Hashtag »Wochenende für Moria«, ein Projekt, das in Innsbruck begonnen hat, durch die Initiative von Nik Neureither, einem Schauspieler, der sich mit dem Zelt alleine auf den Domplatz gesetzt hat, um gegen die Zustände in Moria 2 zu demonstrieren. Mittlerweile gibt es diese Aktionen »Wochenende für Moria« flächendeckend in vielen Gemeinden Österreichs. Erwähnenswert ist, dass es gelungen ist, viele NGOs mit der Bischofskonferenz, mit privaten Vereinen, mit Musiker*innen und Künstler*innen zu verbinden – anders als früher, als es zwischen den einzelnen Initiativen immer noch Berührungsängste gegeben hat. Das ist doch ein starkes Zeichen. Es wäre schön, wenn es da eine gemeinsame Website gäbe, die die Zusammenarbeit von so vielen plakativ aufzeigt.
Wird der Druck irgendwann so groß sein, dass er auch die Regierung tangiert?
Diese Regierung tangiert gar nichts. Aber vielen ÖVP-Mitgliedern, auch Landesrät*innen, wie man gesehen hat, auch Bürgermeister*innen, macht die Situation Kopfzerbrechen. Für Menschenrechtsbruch interessieren sich die wenigsten. Ich glaube, der Bundeskanzler will das, wie so vieles, einfach aussitzen. Man muss ihm immer die Antwort darauf geben, dass Aussitzen nicht geht, es ist also Konfrontation angesagt. Es ist ja immer so, wenn jemand die Wahrheit bewusst verzerrt, muss man selber konsequent mit der Wahrheit arbeiten. Wenn wir jetzt hören, dass es verboten ist, dass Journalist*innen in diese Camps gehen, ist das ein Beweis für den Druck, unter dem die Regierungen stehen. Wenn die Politiker*innen zu dem stehen könnten, was sie verbreiten, dann könnte man ja herzeigen, dass die Kinder trotz einer angespannten Situation z.B. gut betreut werden. Was natürlich nicht der Fall ist. Die ÖVP phantasiert immer noch von einem SOS-Kinderdorf auf Lesbos, wo 500 Kinder betreut werden sollten. Das hat das SOS-Kinderdorf schon einsehen müssen, dass es nicht geht. Aber das sind natürlich alles Nachrichten, die beruhigen jemanden, der keine Ahnung hat: Lieb, der Bundeskanzler bemüht sich jetzt um 500 Kinder hier auf Lesbos. Man muss aber immer ganz genau hinterfragen: Warum darf der ORF nicht hinein, warum darf das ZDF nicht hinein?
Wie gestaltet sich die humanitäre Situation nun auf Lesbos, speziell nach dem Brand und der Evakuierung der Flüchtlinge?
Grundsätzlich war es furchtbar, wie die Leute im Lager in Moria zusammengepfercht wurden. Es war ja ursprünglich ein Aufnahme- und Registrierungslager für zwei- bis dreitausend Personen. In Spitzenzeiten haben dort 23.000 Menschen gelebt. Das hat sich dann so ausgeweitet, dass sich die Leute in den »jungles« genannten Olivenhainen Hütten gebaut haben; es gab zu wenig sanitäre Anlagen etc., weiß man ja alles. Der Brand musste früher oder später kommen. Wenn man Menschen so in die Enge und in die Verzweiflung treibt, eskaliert es irgendwann. Innenminister Nehammer hat das sofort zum Anlass dazu genommen, zu sagen, dass kriminelle Asylwerber bei uns nichts verloren haben. Das ist Zynismus pur, man kann nicht einen Menschen so lang peinigen, bis er die Nerven verliert, um dann zu sagen, er sei kriminell. Man muss fragen: Was ist kriminell? Familien so unterzubringen, oder die Brandstiftung in diesem Fall, die ja nicht wirklich aufgeklärt wurde? Danach war auf jeden Fall die Situation katastrophal, 23.000 Menschen haben quasi auf der Straße und in den Olivenhainen gelebt. Dann wurde ein weiteres Camp auf Militärboden errichtet. Dort hat es am Anfang weder Toiletten noch Duschen gegeben. Die Menschen haben sich im Meer gewaschen. Insofern hat es sich nun etwas verbessert, denn es gibt jetzt Duschen. Das ist aber eigentlich auch schon alles. Und es gibt auch ein bisschen mehr Strom. Der Winter war eine Katastrophe. Die Zelte sind reihenweise unter Wasser gestanden, die Familien haben am nächsten Tag nichts Trockenes mehr gehabt. Es gab und gibt nur unzureichend medizinische Versorgung. Und jetzt ist eingetreten, was wir befürchtet haben: die europäischen Politiker*innen sagen, der Winter ist vorbei, das Camp ist stabilisiert... Man spricht eben nicht über das, was fehlt. Man spricht nicht darüber, dass hier Kinder sind, die zwei bis drei Jahre keine Schule gehabt haben, dass die Eltern am Rande ihres Fassungsvermögens sind, dass sie von der Kälte in die Hitze kommen. Es hat jetzt in den Zelten 38 Grad am Tag. Man stelle sich das einmal vor, auf neun Quadratmetern, mit drei, vier Kindern, vielleicht noch einem Säugling (Dreiviertel der Bewohner sind Familien), es gibt draußen keine Schattenplätze. Es gibt ein paar Bäume im Camp, aber sonst ist alles in der prallen Sonne. Das Essen ist ebenso nicht adäquat. Es gibt keine Kühlschränke. Die Menschen gehen mit dem spärlichen Geld, das sie bekommen, zum nahegelegenen Lidl einkaufen. Aber man kann nichts einkaufen, was verderblich ist. Außerdem fressen sich die Ratten durchs Camp. Die Menschen fürchten sich. Auf Samos ist jetzt ein Flüchtling aus Somalia gestorben, er ist von Ratten angeknabbert worden. Also wenn man dann über das Projekt von SOS Kinderdorf für 500 Kinder spricht, und diese Dinge nicht erwähnt ...
Es sind mittlerweile Drainagen gelegt worden. Das heißt, es wird im Winter nicht so viele Überschwemmungen geben. Aber die Zelte sind dann immer noch nicht geheizt.
Zur psychologischen Betreuung: Hier arbeitende Psycholog*innen sind schockiert. Hier werden Menschen gebrochen, systematisch. Manche Personen haben hier bereits sechs Monate Asyl und noch immer keinen Termin, ihren Konventionsreisepass [Reiseausweis für Flüchtlinge, Anm.] abzuholen, um die Insel verlassen zu können. Warum macht man das alles? Neun Quadratmeter für eine Familie. Zwei Familien teilen sich ein Zelt, eine billige Plastikwand als Trennwand, man hört jedes Geräusch. Im Winter keine Minute, in der man sich aufwärmen kann, im Sommer keine Minute, in der man sich abkühlen kann. Die Frauen können sich während einer Periode oder nach einer Schwangerschaft nirgends vernünftig waschen.
Das Camp ist eine riesige Baustelle. Da fahren Riesentrucks durch das Camp, alles ist staubtrocken, die Kinder haben dauernd den Sand in den Augen. All das zermürbt Menschen. Dann nützt es nichts, wenn die ÖVP verlautbart, sie hätten so und so viele Zelte hergeschickt. 180 davon sind aber in ein ganz anderes Camp gekommen. Sie haben es aber als Lesbos-Hilfe verkauft!
Haben die Asylberechtigten, von denen Sie sprechen, vom griechischen Staat Asyl zugesprochen bekommen?
Ja, hier im Asylum Office werden die Entscheidungen gefällt. Das ist eine Asylentscheidung, die könnte man sofort in allen anderen europäischen Ländern anerkennen, man könnte sie in diesen Ländern aufnehmen und bräuchte keine Verfahren mehr führen. Man könnte die sofort wegholen. Aber ich will eines sagen: Ich will nicht nur, dass hundert Familien hier wegkommen. Solche Camps gehören evakuiert.
Wissen Sie, in welchen Umständen die in Griechenland anerkannten Flüchtlinge am griechischen Festland leben?
Da kenne ich einige Personen persönlich. Es gibt eine Organisation »Helios«, die ein Abkommen mit der griechischen Regierung hat. Wenn die Flüchtlinge aufs Festland kommen, kommen sie maximal fünf Monate in das Programm von »Helios«, sie bekommen z.B. ein Zimmer und Griechischkurse. Ich erzähle jetzt einen Fall, damit man sich besser vorstellen kann, wie das läuft. Ich kenne hier einen Afghanen, der der Onkel einer 21-Jährigen ist, die hier mit ihrem minderjährigen Bruder hergekommen ist. Die Mutter der Kinder ist an der iranisch-türkischen Grenze verlorengegangen. Bei einem Angriff, bei dem geschossen wurde. Man weiß jetzt, dass sie zurück ist im Iran. Der Onkel ist mit den Kindern nach Griechenland gekommen. Jetzt haben die beiden Kinder Asyl bekommen, der Onkel noch nicht, denn man hat sie getrennt. Die beiden sind also aufs Festland gekommen und waren dort im Programm von »Helios«. Und nach vier Monaten hat man gesagt: Sie müsse jetzt mit ihrem Bruder die Unterkunft verlassen und einen Job und eine Wohnung suchen. In einem Land, indem 18% Arbeitslosigkeit herrscht, dessen Sprache ich nach drei Monaten Griechischkurs nicht spreche, wo ich meinen minderjährigen Bruder betreuen soll... Das sind die Zustände hier! In Griechenland herrscht ja ohnehin große Armut, die Hilfsbereitschaft hier ist nicht berauschend. Man vermietet z.B. nicht gern an Menschen mit Asylstatus, weil man genau weiß, dass die irgendwann kein Geld mehr haben. Man müsste also eine europäische Perspektive finden. Deutschland und Österreich verlautbaren jetzt ja, dass sie Geld nach Griechenland schicken, damit man die Menschen mit Asylstatus in Hotels einquartiert. Aber was davon kommt an? Alles geschieht nach dem Motto: Wir waschen unsere Hände in Unschuld, wir schicken wieder ein paar Millionen, weil wir nicht wissen, wohin die letzten Millionen hingeflossen sind, und danach kann man sagen, man habe ja eh alles unternommen. Bundeskanzler Kurz hat oft gesagt: Wir werden uns an hässliche Bilder gewöhnen müssen. Interessant, denn wenn wir diese Bilder zeigen wollen, werden wir gleich von der griechischen Regierung zurückgepfiffen, auch von Österreich: keiner will es dann sehen. Die NGOs werden kriminalisiert. Uns wird dann vorgeworfen, wir würden maßlos übertreiben, wir würden emotionalisieren... aber wie kann man die Situation, wie hier Kinder und Familien leben müssen, nicht emotional sehen ...?
Wie schaut Ihre Arbeit vor Ort aus?
Bei einer internen Besprechung haben wir gerade festgestellt, dass wir – obwohl alles sehr zäh ist – im Großen und Ganzen zufrieden sind. Im Winter haben wir über 1000 Familien mit Kleidern und mit Schuhen versorgt. Wir haben jeder Familie ein Lebensmittelpaket von 15 kg zukommen lassen. Wir haben Schulen unterstützt. Wir haben Solarduschen gekauft. Wir haben die Medical Volunteers und die NGO »Home for all« unterstützt. Wir haben die Küche für »Home for All« umgebaut, denn diese Vereinigung kocht für Diabetiker*innen und besonders vulnerable Personen. Wir liefern vierzehntägig Lebensmittel-pakete an Flüchtlinge mit Status, die auf der Insel leben. Wir haben Häuser und Wohnungen gemietet für Menschen, die sonst obdachlos wären. Ich muss sagen, wir sind unheimlich dankbar für die tolle Unterstützung, die wir hier in Form von Spenden bekommen. Wir sind auch stolz auf das Erreichte. Obwohl wir wissen – und das ist uns extrem wichtig, dass wir das immer wieder dazusagen –, wir sind ein Tropfen auf den heißen Stein und wir wollen die Evakuierung dieses Camps. Aber es verhält sich hier wie mit den Löschteichen, von denen es früher am Land immer viele gegeben hat.
Wenn ich will, dass er eingezäunt wird, weil schon zwei Kinder aus dem Mühlviertel dort ertrunken sind, muss ich dort zwei Wächter platzieren, bis dieser Zaun kommt. Und unser Ziel, das wir konsequent verfolgen werden, ist, dass es solche Camps in Europa nicht mehr gibt. Dass es menschenwürdige Unterbringung und faire Asylverfahren gibt. Aber solange es das nicht gibt, fühlen wir uns verpflichtet, den Menschen Erste Hilfe zu leisten.
Sie haben zuerst von der Einschüchterung von Journalist*innen und Fernsehteams gesprochen. Ist diese Repression willkürlich, oder kann sie sich auf Gesetze stützen?
Sie baut auf Gesetzen auf, die schnell erlassen wurden. Hier gibt es eine Parallele zu Österreich während der Pandemie: Es wurden sofort spezielle Erlässe für Traiskirchen [Flüchtlingslager in Niederösterreich, Anm.] diktiert. Die ÖVP spricht ja immer davon, dass sie Integration wolle. Eine Vorbedingung von Integration ist, dass man alle gleich behandelt. In Traiskirchen waren aber für die Flüchtlinge doppelt so strenge Corona-Maßnahmen, doppelt so strenge Ausgangsbeschränkungen vorgesehen. Darüber, dass Corona auch viel von draußen nach drinnen herangetragen wurde, auch z.B. über die Polizei, spricht man nicht. Die Repressionen hier in Griechenland sind willkürlich und dienen einer Abschreckungspolitik. Aber natürlich müssen vernünftige Corona-Maßnahmen befolgt werden! Wir haben zum Beispiel vorgeschlagen, es solle sofort Teststationen im Camp geben. Aber nein, es wird nur getestet, wenn jemand freiwillig mit Fieber oder Kopfweh zum Arzt geht. Aber wenn ich es ernst meine, dann mache ich Teststationen in den Camps; und biete den Leuten eine bessere Aufklärung. Denn viele Asylwerber hier kommen aus Ländern, in denen Corona totgeschwiegen wird. Sie haben also einfach weniger Einblick. Aber nur zu sagen, »jetzt sperren wir sie ein und machen ein bisschen Maskenpflicht« – das ist zu wenig! Und bei den Journalist*innen hat man zusätzlich die gute Ausrede, dass die Privatsphäre der Refugees vor der Presse geschützt werden soll. Doch das ist kein Schutz der Privatsphäre, sondern ein Schutz der Politiker*innen, die den Menschenrechtsbruch begehen. Ich kenne niemanden – egal ob Kardiologe, Psychotherapeutin, Sozialarbeiterin, Volunteer, Christoph Riedl von der Diakonie –, der hier wegen der Zustände im Camp nicht extrem geschockt ist. Uns wird auch gedroht: Keine Fotos von Verteilaktionen aus dem Camp, sonst darf unsere griechische Partner-NGO gar nicht mehr ins Camp. Das ist Erpressung!
Von welcher Seite gehen die Drohungen konkret aus?
Von der griechischen Politik. Aber sie werden von Österreich weitertransportiert, Nehammer betont ja, wie gut er sich mit dem griechischen Innenminister versteht.
Für Herbst wurde der Bau eines neuen Lagers versprochen, das höheren Standards genügen soll.
Das glaubt ja niemand. Wir sind seit September 2020 mit kurzen Unterbrechungen hier. Es soll mir mal ein intelligenter Mensch erklären, warum ich an einem alten Standort Millionen investiere in Pseudo-Umbauten – Erde von A nach B schieben, Drainagen bauen, frische Kabeln ziehen –, warum also investiert man in so einen Platz so viel Geld, wenn man vorhat, bis September ein neues Lager zu bauen, das ist ja lächerlich. Man renoviert ja auch nicht ein Haus um Millionen, wenn man weiß, dass man bald auszieht.
Noch einmal zur Corona-Situation im Camp: Ist es wenigstens gelungen, die Seuche halbwegs aus dem Camp rauszuhalten?
Ja, im Camp ist die Gefahr eigentlich geringer als außerhalb. Es wird hier auf der Insel alles sehr sonderbar und lasch gehandhabt, was mich wundert, weil es eine sehr überalterte Insel ist. Sie haben ein sehr kleines Spital für 86.000 Einwohner. Im Camp haben wir von Anfang an festgestellt, dass es anders ist. Eine NGO hat sehr viele Freiwillige engagiert, die mit Sprühflaschen herumgelaufen sind und den Menschen im Vorbeigehen die Hände desinfiziert haben; es hat Stationen gegeben, wo man eine Maske bekommen hat, wenn man sich die Hände gewaschen hat; auch meine Organisation hat für 3000 Euro Masken gekauft. Den Schutzsuchenden war schnell bewusst, womit sie es hier zu tun haben. Es war ihnen auch bewusst, dass sie im Spital als Letzte an die Reihe kommen würden. Und viele haben auch Angst vor der 10-Tages-Quarantäne. Im Camp gibt es einen eigenen Quarantänebereich, wo sich jetzt aktuell 100 Menschen befinden. Man muss sich das so vorstellen: Es gab ein Zelt mit Single-Müttern, wobei eine davon Corona hatte, und somit alle Bewohner*innen dieses Zelts in Quarantäne mussten. Heute habe ich gehört, dass zumindest nun die Alten und besonders Vulnerablen für Impfungen registriert werden. Wir und die NGOs sind sehr darauf bedacht, dass wir es nicht hineintragen. Wir haben eine große Verantwortung. Denn man muss das Leben der Schutzsuchenden dort kennen: Sie kommen zwei, drei Stunden am Tag aus dem Camp, gehen mit der Maske zum Lidl und kommen wieder zurück. Dass sich die jetzt irgendwo anstecken, ist schwer möglich. Im Asylum Office habe ich da z.B. schon mehr Angst, mit den Mitarbeiter*innen, mit der Security. Es haben ja auch zwölf Polizisten im Camp Corona gehabt. Es gibt aber hier kaum geschlossene Räume, schon alleine deswegen gibt es weniger Gefahrenquellen. Aber wir z.B. besuchen niemanden im Zelt drinnen. Wir tragen immer Handschuhe und FFP2-Maske im Camp. Und vorher desinfizieren wir uns quasi von oben bis unten. Alle NGOs halten sich daran. Meines Erachtens geht die größere Gefahr von der Polizei aus.
Sie sprechen ja öfters davon, dass das alles hier ein Verbrechen ist. Wo sitzen die Verbrecher?
In der europäischen Politik und in der der einzelnen Mitgliedstaaten. Jeder einzelne Mitgliedstaat hätte jetzt die Möglichkeit, Griechenland wegen einer Vertragsverletzung zu klagen. Darum macht sich jeder Staat eines Verbrechens schuldig, der das nicht tut. Aber es macht niemand, weil alle happy sind, dass sich hier die Griechen die Hände schmutzig machen. Das ist die juristische Seite. Und moralisch machen wir uns mitschuldig, wenn wir dazu schweigen. Wenn neben mir jemand so behandelt wird, dass ich weiß, dass es gegen unsere Gesetze verstößt, und ich spaziere weiter, dann mache ich mich mitschuldig.
Sie sind auch beteiligt am Projekt »frontex-investigation.eu«. Worum geht es dabei? Und ist auch Griechenland an Pushbacks beteiligt?
Brauche ich hier nicht aussprechen, dass Griechenland in Pushbacks verwickelt ist. Das ist allgemein bekannt. Es gibt jetzt auch einen Untersuchungsausschuss im Europäischen Parlament, zum Thema Frontex, den es nicht geben würde, wenn man davon ausgehen würde, dass hier immer alles mit richtigen Dingen zugegangen ist. Und letztens hat ja auch das Bundesministerium für Inneres so schön getwittert: ein Foto einer Polizistin, die jetzt in Griechenland im Frontex-Einsatz ist. Das heißt, auch Österreich ist beteiligt. Pushbacks sind illegal. Es hat jeder hier theoretisch das Recht auf ein faires Asylverfahren. Aber wenn man das ganze schon einen Kilometer vor der Küste abblockt und die Menschen zurückschleppt...
Es hat ja auch eine lustige Facette: Man redet davon, die Schlepper zu bekämpfen, und schleppt die Leute selber zurück. Alles grotesk, oder? Frontex mutiert zur paramilitärischen Einheit für die Abschottung Europas.
Weitere Information: Verein Doro Blancke – Flüchtlingshilfe, doroblancke.at