Eine biografische Bemerkung vorweg: In musikalischer Hinsicht bin ich nicht gerade das, was man eine Bildungsbürgerin nennt. In meinem Elternhaus liefen Popsender statt Bach und Beethoven, ein Instrument – abgesehen von der obligatorischen Blockflöte in der Grundschule – habe ich nie gelernt und auch aus dem Musikunterricht am Gymnasium wenig von den Grundlagen mitgenommen, die dort ohnehin eher dürftig vermittelt wurden. Oper bereitet mir ähnlich großen Genuss wie ein Zahnarztbesuch und Jazz finde ich furchtbar – rein aus Geschmacksgründen und ohne dafür Adorno bemühen zu müssen.
Eigentlich müsste ich also zu jener Zielgruppe gehören, die die öffentlich-rechtlichen Sender seit einiger Zeit mit diversen Programmreformen »zu Kulturereignissen hinführen und vorbereiten« (WDR-Programmdirektorin Valerie Weber) wollen, um einen »Generationenabriss« beim Publikum der Klassikformate zu verhindern.
Nur: Das ist den Sendern im Lauf der letzten 20 Jahre auch ganz ohne »niedrigschwellige Angebote« gelungen, als ich auf der Flucht vor dem Gedudel des Formatradios immer häufiger bei den Kultursendern landete; mit Bach-Fugen in ihrer mathematischen Schönheit als Einstiegsdroge, Sendungen wie etwa dem »Musikfeuilleton« im Deutschlandfunk für das Hintergrundwissen zu Künstlerbiografien und Musikgeschichte sowie nicht zuletzt gelegentlich sogar Sendungen, die mein Interesse für Neue Musik weckten. Alles richtig gemacht, könnte man den Sendern also attestieren.
Zugegeben, etwas betulich und hochnäsig kam das Ganze oft daher, und eigentlich wäre es ja zu begrüßen, dass man sich neuerdings auch für Menschen öffnen will, die nicht schon mit fünf Jahren von ihren Akademikereltern zum Klavierunterricht geschleppt wurden. Leider verwechselt man in den Redaktionen aber offenbar »kulturfern« mit »dumm« und entsprechend gestalten sich die Programmvorgaben.
So reicht es etwa im vom Bayerischen Rundfunk gestalteten ARD-Nachtkonzert seit einiger Zeit nicht mehr aus, die gespielten Stücke ganz altbacken mit Komponist und Interpreten anzusagen, sondern es müssen locker-flockige Anmoderationen her: »Mozart am Morgen geht immer«, heißt es dann etwa[1], kurz bevor um sechs Uhr wieder die jeweiligen regionalen ARD-Sender übernehmen. Bei NDR Kultur in meinem Sendegebiet etwa ist man offenbar der Meinung, dass die Leute um diese Uhrzeit auf gar keinen Fall etwas anderes hören wollen als flotte Walzer oder die »Morgenstimmung« aus Griegs Peer-Gynt-Suite.
Im Tagesprogramm geht es zwischen den redaktionellen Beiträgen weiter mit den größten Hits des 17., 18. und 19. Jahrhunderts, gemischt mit Filmmusik – aber bitte nichts, was man nicht schon tausendfach gehört hätte – und Neoklassik, also jenem Inbegriff von musikalischem Kitsch, der stets so klingt, als habe jemand eine künstliche Intelligenz mit möglichst eingängigen Melodiebausteinen gefüttert und beauftragt, daraus die Hintergrundmusik für ein Wellness-Center zu komponieren.
Die Quasselstrippenzieher
Etwas besser wird es am Abend, wo man eher auf ein Publikum setzt, das sich nicht nebenbei berieseln lassen will, sondern gezielt einschaltet, um sich beispielsweise auch mal eine komplette Symphonie oder den Konzertabend eines Ensembles anzuhören, das man derzeit aus bekannten Gründen leider nicht live vor Ort erleben kann.
Allerdings hat die Coronapandemie auch hier einen Trend verstärkt, der an dieser Stelle als Podcastisierung bezeichnet werden soll: Als ob es nicht schon anstrengend genug wäre, dass mittlerweile jeder (das Maskulinum ist in diesem Fall nicht generisch zu verstehen), der über hinlänglich geeignetes Aufnahmeequipment verfügt, seine mehr oder minder geistreichen Unterhaltungen mit dem besten Kumpel aufzeichnet und ins Internet stellt, hat inzwischen auch das Radio das Format »Reden über Gott und die Welt« für sich entdeckt.
Und so reicht es für klassische Musiker*innen mittlerweile nicht mehr aus, ihr Instrument zu beherrschen, nein, sie müssen auch bereit sein, zwischen zwei Stücken zu erzählen, wie sich die Coronakrise auf ihr Leben auswirkt, wer ihr Lieblingskomponist ist und wie es dem Familienhund geht[2]. Hauptsache, nicht zu sehr in die Tiefe des Werks einsteigen, dessentwegen die Hörer*innen das Radio eigentlich eingeschaltet haben – dafür aber immer an den persönlichen Touch, das junge Publikum und natürlich die Emotionen denken. »Für welche Emotion steht Tschaikowsky für dich?« heißt es da etwa, oder auch: »Beschreibe deinen Klavierpartner mit drei Hashtags.« Das Sympathischste an derlei Dampfplauderei ist immer noch, wenn sich die solcherart Vollgelaberten anmerken lassen, wie unangenehm ihnen diese Pflichtübung ist.
Das ist nicht notwendigerweise die Schuld der Moderierenden: Wie sehr die Menschen am Mikrofon an die Vorgaben aus der Chefetage gebunden sind – und was zumindest einige von ihnen davon halten –, zeigt das Beispiel von Michael Stegemann, der im März dieses Jahres live »on air« seinen Abschied als Moderator der WDR-3-Sendung »Klassik Forum« ankündigte. Er fühle sich »wie ein Eisbär auf einer dahinschmelzenden Scholle«, erklärte der Musikwissenschaftler, der 34 Jahre lang für die Sendung tätig war. Zwei Wochen zuvor war bereits sein Kollege Kalle Burmester gegangen.
Im Interview mit der Musikzeitschrift »Van« wurde Stegemann noch einmal deutlicher: »Ausgehend von einer Hörerbefragung […] wurden Direktiven entwickelt, die von ganz oben […] an die WDR 3-Welle-Leitung, die Teamleitung Musik aktuell, die ›Klassik Forum‹-Redaktion und die Moderatoren weitergeben wurden. Die Inhalte dieser Vorgaben und die Entwicklung insgesamt halte ich für eine Katastrophe.« Konkreter: »Der bisherige Moderationsstil sei viel zu lang, wir seien in der Voraussetzung von Vorkenntnissen viel zu anspruchsvoll, Begriffe wie Libretto oder Hammerflügel müssten wir immer erklären, weil sie keiner kenne. […] Musik wird als ›Emotion pur‹ definiert und soll als solche von uns vermittelt werden: viel mehr von sich selbst erzählen, viel mehr Anekdotisches, viel mehr leichtes Mitnehmen auf einen Rezeptionsweg des ‚Easy Listening‘. Es soll alles vermieden werden, was irgendjemanden ‚abschrecken‘ könnte, WDR 3 zu hören.«
(Wohlgemerkt, die Rede ist von ebenjenem WDR, in dessen Studio für Elektronische Musik seinerzeit ein Karlheinz Stockhausen vor sich hinexperimentieren konnte, ohne dass ihn jemand ermahnt hätte, doch bitte mal Rücksicht auf das Massenpublikum zu nehmen. Lange ist‘s her.)
Klassik und Klasse
Insgesamt ist das sehr ausführliche Interview eine Abrechnung mit allem, was in den Kultursendern falsch läuft – von der Vorgabe, doch lieber Abstand von allen Formen von Gesang zu nehmen, weil die Leute das laut der erwähnten Befragung nicht hören wollen, bis hin zur Gängelung der Moderierenden.[3] Als besonders erhellend sei an dieser Stelle nur noch erwähnt, wie sich Stegemanns Vorgesetzte die anvisierte Zielgruppe vorstellen: »Als Idealtypus wurde uns auch mehrfach die ‚Tchibo-Hausfrau‘ genannt, oder ‚der Metzger, der abends im Konzert sitzt, aber keine Kenntnis von Musik hat‘.«
Daraus spricht zugleich eine Verachtung des Bildungsbürgertums als auch die als Rücksichtnahme getarnte Geringschätzung der »einfachen Leute«, denen man offenbar nicht zutraut, sich auf Ungewohntes einzulassen und sich musikalisch weiterzubilden. Was wiederum auf die gesellschaftlichen Prozesse verweist, vor deren Hintergrund sich die geschilderte Verflachung vollzieht. Schließlich ist die Ablehnung der vermeintlichen Eliten – womit letztlich stets Intellektuelle gemeint sind, ob diese nun eine Professur innehaben oder dem freiberuflichen Prekariat angehören – gepaart mit dem Verweis auf die »kleinen Leute« (die zufällig immer genau dort »abgeholt werden« sollen, wo diejenigen politisch stehen, die sich zu ihren Fürsprecher*innen aufschwingen) ein gemeinsames Kennzeichen der reaktionären Kräfte rund um den Globus, von den Trumpisten bis zu Sahra Wagenknecht.
Auch die Spitzenkandidatin der NRW-Linkspartei (die deren Umfragewerte nicht gerade beflügelt) imaginiert bekanntlich ein Proletariat, dem Dinge wie Gendersternchen oder Rücksichtnahme auf Minderheiten nicht vermittelbar seien. Dass den unteren Schichten auch migrantische, queere, feministische oder schlicht Menschen angehören, die ihre Ressentiments nicht teilen, passt ebenso wenig in ihr Weltbild wie in die Köpfe von Hörfunkintendant*innen die Vorstellung, dass sich beispielsweise eine Supermarktkassiererin für Neue Musik begeistern könnte.
Ohne Frage gibt es soziokulturell bedingte Unterschiede auch in Geschmacksfragen – aber eigentlich wäre es ja Aufgabe der Öffentlich-Rechtlichen, allen Bevölkerungsteilen Lust auch auf Ungewohntes zu machen, statt herablassend zu begründen, warum man den Pöbel mit Schonkost für die Ohren abspeist. Man kann Leute eben nicht an etwas »heranführen«, das man ihnen dann gar nicht bietet. Dabei heißt es doch eigentlich Bildungs- und nicht Berieselungsauftrag.
McMozart
Das soll niemandem das Recht absprechen, sich berieseln zu lassen – so wie ja auch an Fastfood nichts grundsätzlich Verwerfliches ist; man möchte es bloß nicht jeden Tag essen. Auch ich höre ja durchaus gerne Popmusik[4] und gestehe zu meiner Schande, dass ich, wenn mir Deutschlandfunk und NDR Kultur nur die Wahl zwischen Jazz und Oper lassen, sogar schon mal – so lange ich es aushalte – zu Klassik Radio flüchte, jenem Privatsender für das anspruchslose Publikum mit Distinktionsbedürfnis, dessen gnadenlos auf Durchhörbarkeit optimiertes Programm einen Vorgeschmack darauf gibt, wohin sich die öffentlich-rechtlichen Sender bewegen. Auch sind die Zeiten zum Glück vorbei, in denen Klassik etwas war, das man gefälligst stocksteif lauschend in unbequemer Abendkleidung zu konsumieren hatte, und überhaupt könnte die sehr deutsche Unterscheidung zwischen U- und E-Musik, die ja wiederum ein Ausdruck der kulturellen Klassengesellschaft ist, eigentlich langsam mal überwunden werden.
Diese Trennung wird allerdings nicht dadurch dialektisch aufgehoben, dass man den Hörer*innen nichts zumuten will, was über die abgenudelt-sten Mozart-Hits und das Star-Wars-Theme hinausgeht. Vielleicht aber, indem man statt auf den kleinsten gemeinsamen Nenner auf eine Vielfalt setzt, die sowohl Gelegenheitshörer*innen als auch einem Nischenpublikum etwas zu bieten hat – und vor allem neugierig auf mehr macht. Ganz im Sinne des 2015 verstorbenen langjährigen Leiters des Klassik Forums von WDR 3, Hans Winking, den Michael Stegemann in dem erwähnten Interview zitiert: »Jede Hörerin und jeder Hörer des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hat Anspruch darauf, wenigstens einmal am Tag überfordert zu werden.« Man wird ja noch träumen dürfen.