Propaganda als umgekehrte Psychoanalyse

Till Schmidt porträtiert den Philosophen Leo Löwenthal, dessen Geburtstag sich 2020 zum 120sten Mal jährte. Seine Studie »Falsche Propheten« wurde nun neu aufgelegt.

Leo Löwenthal galt lange Zeit als Geheimtipp für an Kritischer Theorie Interessierte. Das sicherlich auch wegen seiner Ko-Autorenschaft bei den ersten drei Thesen der „Elemente des Antisemitismus“, die Adorno und Horkheimer im Vorwort der Dialektik der Aufklärung (1947) kurz erwähnten. Gerade Löwenthals Studie zu den Propagandatechniken US-amerikanischer Agitatoren der Zwischenkriegszeit erfuhr in den letzten Jahren verstärkte Aufmerksamkeit. Regelmäßig wurde dabei argumentiert, seine Untersuchung könne auch die Analyse des Rechtspopulismus dieser Tage erhellen.

Prophets of Deceit erschien erstmals 1949. Die Untersuchung war Teil der fünfbändigen Serie Studies in Prejudice des in die USA emigrierten Instituts fürs Sozialforschung (IfS), zu der auch die berühmten Studien zum autoritären Charakter (1950) gehörten. Erst 1982 wurde Falsche Propheten vollständig in deutscher Übersetzung veröffentlicht. Seitdem findet sich die knapp 150-seitige Studie in der vierbändigen, von Helmut Dubiel herausgegebenen Löwenthal-Schriftenreihe. Anfang dieses Jahres wurde Falsche Propheten vom Suhrkamp Verlag als eigenständiges Buch neuveröffentlicht. Dadurch scheint Löwenthals Klassiker über Fachkreise hinaus endlich größere Bekanntheit erlangt zu haben.

Alles aufnehmen, was anders ist

Löwenthals Biografie ähnelt in vielerlei Hinsicht dem Werdegang anderer Mitglieder des IfS. 1900 in Frankfurt am Main geboren, wuchs Löwenthal in einem jüdisch-assimilierten, von bürgerlich-aufgeklärtem Optimismus geprägten Elternhaus auf. Das Erlebnis des Ersten Weltkrieges und der daran anschließenden Revolutionen ließen ihn mit der elterlichen Bürgerlichkeit politisch brechen. Fortan versuchte Löwenthal, sozialistische Ideale und religiöse Bindung miteinander zu verknüpfen. Diese Zeit beschreibt Löwenthal im autobiographischen Gespräch „Wir hatten nie im Leben diesen Ruhm erwartet“ (1979)[1] als geprägt von „einer Art Bereitschaft, alles aufzunehmen, was anders ist“.

So führte Löwenthal zusammen mit seiner damaligen Ehefrau sogar eine Zeit lang einen religiös orthodoxen Haushalt. Dies allerdings, wie er rückblickend erläutert,  vor allem aus dem Bedürfnis nach Rebellion gegen das Elternhaus heraus, das für ihn damals schlicht für alles Abzulehnende stand: „schlechter Liberalismus, schlechte Aufklärung und doppelt Moral“. Ohne festes Ziel, aber mit philosophischem Schwerpunkt studierte Löwenthal ab 1918 in Gießen, Frankfurt und Heidelberg. An der Universität Frankfurt wurde er 1925 mit einer Dissertation über die Sozialphilosophie Franz von Baders promoviert. Ein späteres Habilitationsvorhaben scheiterte.

Seine erste bezahlte Anstellung erhielt Löwenthal in einer Beratungsstelle für ostjüdische Flüchtlinge, darüber hinaus arbeitete er für eine jüdische Wochenzeitung, als Dozent am Freien Jüdischen Lehrhaus sowie ab 1925 am damals noch von Carl Grünberg geleiteten IfS. „Ich bin durch Vermittlung von Kracauer, einem meiner ältesten Freunde, bei Horkheimer eingeführt worden“, erinnerte sich Löwenthal an seine Anfangszeit am IfS. „Teddie Adorno kannte ich schon seit seiner späteren Schulzeit. Und wir haben uns sofort sehr gut verstanden. Damals war ja offiziell Grünberg Direktor des Instituts, aber in Wirklichkeit waren Horkheimer und Pollock die Dirigenten. Aber sie hatten ja keinen großen Etat dafür. Ich war also viertel- oder halbzeitig da […]“, führte Löwenthal aus.

Es galt als ausgemacht, dass Löwenthal, sobald Horkheimer Direktor des IfS sein würde, vollamtlich in das Institut eintreten würde. In der Zwischenzeit arbeitete er als Lehrer für Deutsch, Geschichte und Philosophie im höheren Schuldienst sowie als künstlerischer Berater an der Volksbühne in Frankfurt am Main. Als Leo Löwenthal 1931 vollamtlich zum Institut kam, widmete er sich vor allem zwei Aufgaben: der geschäftsführenden Herausgabe der Zeitschrift für Sozialforschung sowie der Mitvorbereitung der Emigration des gesamten Instituts, die inzwischen, wie er es formulierte, „energisch betrieben“ wurde.

Dauerhafte Emigration in die USA

Den Anstoß für die Emigrationsbestrebungen gaben 1930 begonnene Erhebungen des IfS zu psychologischen und ideologischen Verhaltens- und Denkweisen von Arbeitern und Angestellten im Rheinland und in Westfalen. Bei der Bekanntgabe der Auswertungen sei den Institutsmitgliedern, so Löwenthal, „das Herz in die Hosen gefallen“. Denn bei den Probanden handelte es sich um Sozialdemokraten und linke Zentrumswähler, die zwar vordergründig liberal und republikanisch, auf der psychologischen Ebene allerdings größtenteils enorm autoritär eingestellt waren – und damit um jenes Milieu, in dem, so Löwenthal, der Widerstand gegen das „offenbar unaufhaltbare Anrollen des Nationalsozialismus“ eigentlich verankert gewesen sein müsste.

Löwenthal blieb als letzter Mitarbeiter des IfS in Frankfurt, um die möglichst reibungslose Übersiedlung des Instituts zunächst nach Genf und später in die Vereinigten Staaten zu organisieren. Ab 1934 im Exil in New York, arbeitete Löwenthal hauptsächlich an der Herausgabe der Zeitschrift für Sozialforschung, die noch einige Jahre auf Deutsch erschien. Zudem widmete sich Löwenthal mehreren eigenen Untersuchungen zu Autoritarismus und Massenkommunikation. Einen weiteren Schwerpunkt bildeten literatursoziologische Arbeiten, in denen er die gesellschaftliche Bedingtheit der Rezeption bestimmter Schriftsteller, ihre ideologischen Positionen sowie soziale Verschiebungen in der Geschichte einzelner Literaturgattungen untersuchte.

Anders als Adorno und Horkheimer, die später nach Deutschland zurückkehren und in Frankfurt das IfS wiederaufbauen, blieb Löwenthal in den USA, wo er sich Zeit seines Lebens heimisch fühlte. 1949 wurde Löwenthal Direktor der Forschungsabteilung des staatlichen Auslandssenders Voice of America. Ab 1955 war er Professor für Soziologie an der Universität Berkeley in Kalifornien. Dort lebte Löwenthal bis zu seinem Tod 1993 zusammen mit seiner zweiten Ehefrau Susanne Hoppmann, die zu Beginn der 1980er einen Teil seiner noch unveröffentlichten Arbeiten ins Deutsche übersetzte.

Umgekehrte Psychoanalyse

Falsche Propheten hat Leo Löwenthal zusammen mit dem Psychologen und Übersetzer Norbert Guterman verfasst. In der Studie arbeiten sie zentrale Mechanismen und Motive faschistischer Propaganda heraus, wie sie in Reden und Pamphleten US-amerikanischer Agitatoren ihrer Zeit zu finden waren. Da der Agitator seine Zuhörenden über „unbewusste Mechanismen“ manipuliere, „haben wir versucht, hinter die Kulissen des manifesten Inhalts seiner Reden und Pamphlete zu dringen, um ihren latenten Inhalt aufzuspüren“, beschreiben die Autoren ihr psychoanalytisch geprägtes Vorgehen.

Deutlich wird, dass die Agitatoren durchaus real existierende Ängste und Sorgen der von ihnen Adressierten aufgreifen, sie politisch für ihre eigenen Zwecke nutzbar machen und dem Publikum bestimmte Reaktionsweisen nahelegen. „Umgekehrte Psychoanalyse“, nennen Löwenthal und Guterman das, weil die Agitatoren nicht die Ängste der Einzelnen aufklären, um sie mündiger zu machen, wie es die Psychoanalyse tut – sondern weil sie, im Gegenteil, unbewusste Sehnsüchte der Zuhörer bedienen und ihre Triebimpulse in eine bestimmte Richtung lenken.

Ob der Agitator sich der wirklichen Bedeutung seiner Losungen bewusst ist und wie das Publikum dessen Propaganda tatsächlich rezipiert – unter welchen Bedingungen es etwa von der „Generalprobe fürs Pogrom“ direkt zur Mordtat schreitet –, sprenge den Rahmen der Untersuchung, halten Löwenthal und Guterman an verschiedenen Stellen fest. In jedem Fall aber bestehe die hauptsächliche Funktion der Äußerungen des Agitators in der „Auslösung von Bestätigungs- oder Frustrationsreaktionen, so dass seine Zuhörer sich willig seiner Führung überlassen“.

Aufforderung zum Kratzen

Ein zentraler gesellschaftstheoretischer Begriff in Falsche Propheten ist der des Unbehagens, das Löwenthal und Guterman mit einer juckenden Hautkrankheit vergleichen. Doch anstatt sich um einen Heilungsprozess zu bemühen, fordere der Agitator sein Publikum zu einem „irrationalen Akt der Selbstverstümmelung“ auf; dazu, dem instinktiven Kratzbedürfnis nachzugeben, was den Juckreiz letztlich aber nur verstärkt. Diesen auch „Malaise“ genannten „Grundzustand des modernen Lebens“ sehen Löwenthal und Guterman folgendermaßen gekennzeichnet:

„Das für den modernen Menschen charakteristische Bewußtsein der Isolation, seine sogenannte geistige Heimatlosigkeit, seine Verwirrung angesichts der scheinbar unpersönlichen Mächte und Kräfte, als deren hilfloses Opfer er sich erlebt, sein immer schwächer werdendes Wertempfinden – all diese Motive tauchen auch in modernen soziologischen Arbeiten immer wieder auf.“

Diese Malaise spiegele, so Löwenthal und Guterman, bestimmte „strukturell[e] Belastungen“, denen der Einzelne in der von ihnen konstatierten Periode des Zerfalls der klassischen bürgerlich-liberalen Ordnung und des Übergangs zum Monopolkapitalismus mit seinen tiefgreifenden Veränderungen in der Wirtschafts- und Sozialstruktur ausgesetzt sei: 

„Der Ablösung einer Schicht kleiner, unabhängiger Produzenten durch gigantische Konzernbürokratien, dem Zerfall der patriarchalischen Familienstruktur, dem Auflösungsprozess persönlicher Bindungen in einer zunehmend mechanisierten Welt, der Spezialisierung und Atomisierung des gesellschaftlichen Lebens und der Ablösung traditioneller Muster durch Massenkultur.“

Anregungen für neue Analysen

Löwenthal und Gutermann haben mit Falsche Propheten nicht nur eine detailreiche und methodisch innovative Analyse faschistischer Agitation vorgelegt, die über weite Strecken auch brillant formuliert ist. Ihre Studie haben die Autoren am Material des historisch-spezifischen Kontextes der modernen Massenkultur in den USA entwickelt, was in vielen Stellen des Buches mehr als deutlich wird. Daher lassen sich die Erkenntnisse aus Falsche Propheten nicht eins zu eins auf den deutschen Kontext, allgemein auf die heutige Zeit oder auf bestimmte gegenwärtige Phänomene der Massenverführung übertragen.

Darüber hinaus zeigen gerade Löwenthals und Gutermans Ausführungen zur „sozialen Malaise“, dass auch Falsche Propheten bestimmte theoretische und normative Prämissen zugrunde liegen, ähnlich wie das etwa Eva-Maria Ziege in Bezug auf die Studien zum autoritären Charakter herausgearbeitet hat.[2] Man muss diese Prämissen nicht oder nicht vollumfänglich teilen, ignoriert werden sollten sie in der Rezeption von Falsche Propheten jedoch nicht.

Nicht zuletzt agieren heutige Agitatoren unter anderen, auch stärker digitalen und besonders von sozialen Medien geprägten Bedingungen. Dazu kommt die islamistische Propaganda, die der Agitation alter und neuer Rechter in manchem ähneln mag, aber durchaus als eigenständiger Typ autoritärer Demokratiefeindschaft gefasst werden sollte. In jedem Fall aber muss eine Analyse heutiger Agitation, ähnlich wie in der Psychoanalyse, eng am je spezifischen zu analysierenden Material erfolgen. Es ist zu hoffen, dass Falsche Propheten zu eben solchen Forschungen inspiriert.

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Leo Löwenthal: Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation; Aus dem Englischen von Susanne Hoppmann-Löwenthal. Mit einem Nachwort von Carolin Emcke; Berlin: Suhrkamp 2021
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[1] Leo Löwenthal: „Wir hatten nie im Leben diesen Ruhm erwartet“ - Gespräch mit Matthias Greffrath (1979), in: ders: Schriften. 5 Bände - Band 4: Judaica, Vorträge, Briefe. Hg. von Helmut Dubiel. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1990, S. 299-326.

[2] Theodor W. Adorno: Bemerkungen zu ‚The Authoritarian Personality‘ - und weitere Texte. Hg. von Eva-Maria Ziege. Suhrkamp: Frankfurt am Main / Berlin 2019.