Vorzeitiges Debüt

Paulette Gensler über Marion Messinas Roman »Fehlstart«, der seinem Namen durchaus gerecht wird.

Marion Messinas Romandebüt „Faux départ“ erschien schon 2017 in Frankreich, und fand nun Anfang 2020 als „Fehlstart“ seinen Weg in die deutschsprachigen Buchläden. Der Roman folgt der in Grenoble bzw. Fontaine geborenen und aufgewachsenen Aurélie. Diese entstammt – platt gesprochen – der Unterschicht, dabei aber nicht, wie angemerkt wurde, aus „kleinbürgerlichen Verhältnissen“[1], sondern einem zumindest von väterlicher Seite proletarischem Milieu. Der Roman verfolgt [umfasst] zwei Jahre aus dem jungen Leben der anfangs 18-jährigen, gen Ende 20jährigen Protagonistin und demnach nur den Beginn des, laut Erzählerin, versprochenen „goldenen Zeitalters des Durchschnittswesteuropäers“; nämlich „die Jahre 18-25“. Jene beiden Jahre aber genügen der Protagonistin vollauf, um jegliche bis dato erworbenen und bewahrten Hoffnungen durch die jeweils erste Berührung mit der Realität zerplatzen zu lassen. „Verlorene Illusionen“ lautete der durchaus treffende Titel der Besprechung in der Jungle World, und tatsächlich folgt das Debüt dem Muster des balzacschen Romans, wenn auch unter deutlich anderen Vorzeichen. Da die Protagonistin aufgrund jener Illusionen lieber Rechtsgeschichte oder -kritik als Recht studiert hätte,[2] kann auch ein Umzug nach Paris nicht verhindern, dass die Abwärtsspirale ihren Lauf nimmt und sich beschleunigt.

 

Die meisten Besprechungen scheinen sich vorrangig mit der Frage zu beschäftigen, ob Messina denn nun wirklich die „Erbin Houellebecqs“ sei oder eher nicht. Gegen Vergleiche ist wahrlich nichts einzuwenden, steht ein solcher aber vor jeder Überlegung, anstatt aus innerer Notwendigkeit zu ihm zu gelangen, ist dies schon als vernichtendes Urteil zu betrachten, insofern man dem betrachteten Werk kaum ein Eigenwert zugesteht.[3] Um es kurz und schmerzlos zu machen: Messinas Debüt ist kein gutes Buch – teilweise ist es derart schwach, dass man sich fragt, wieso man überhaupt eine Besprechung verfassen sollte, da die Defizite zu offensichtlich sind, als dass man noch auf sie hinweisen müsste. Letztlich ist der Titel des Romans ein sehr passender Titel für dessen Besprechung; dass der Roman auch noch im Verlag „Le Dilettante“ erschien, der sich aktiv dem namengebenden Laientum verschrieb, ist dann noch ein Extra-Schmankerl. Die Übersetzung trifft nicht an allen Punkten,[4] ist aber nur bedingt verantwortlich für den Unmut beim Lesen. Vielmehr hat man den Eindruck, als sei niemals ein Lektor mit dem Originalmanuskript in Berührung gekommen. Ein solcher hätte zumindest die elendige Kursivsetzung streichen müssen, welche Klischees hervorheben soll, sie aber aus der Erzählung reißt, statt sie auch nur im Ansatz zu entfalten. Schon allein dieses nur mit Phantasie „stilistisch“ zu nennende Mittel, genügt vollauf, das Lesen zur Qual werden zu lassen und das Werk seiner stärksten Wirkungen zu berauben.

 

Der zentrale Schwachpunkt des Werkes hingegen ist die Identität von Autorin und Erzählerin sowie Erzählerin und Protagonistin, gegen die an sich natürlich nichts einzuwenden ist. Problematisch wird es hier, da die Autorin Dialoge nicht im Geringsten beherrscht. Besonders charakteristisch dafür ist das vierseitige „Gespräch“ gen Ende des Romans, in dessen Zuge die eine Seite das folgende von sich gibt: „Ja, das habe ich begriffen. Sorg dich nicht um mich. […] Das wird schon Franck. Du findest bestimmt jemanden.“ Nahezu jeder „Dialog“ im Werk ist unverkennbar nur ein fragmentierter bzw. externalisierter Monolog der Protagonistin und darüber vermittelt der Autorin. Ziemlich offenkundig jedoch ist es in erster Linie mangelnder Mut, aufgrund dessen sie Dialoge, für die sie kein Gespür hat, dringend benötigt. Besonders zutage tritt die narrative Scheu der Autorin, wenn die Erzählerin im gereihten Konjunktiv des „sie würde (….), würde (….), würde (…) ….“ über den unter unveränderten Umständen anstehenden Lebenslauf der Protagonistin berichtet, um genau im Mittelteil dieser Reihung das Fazit zu formulieren: „sie würde rechts wählen“. Die Protagonistin aber soll (noch) nicht rechts sein, weil die Autorin nicht als rechts gelten will.[5] Es ist jene mangelnde Distanz, in deren Zuge auch die Politcal correctness, gegen die der Roman oberflächig angeht, sich hinterrücks als Sprechortkitsch einschleicht. Die Autorin braucht die „ungefähr dreißigjährige madagassische Tamilin“, um ihr das Urteil über die Widerwärtigkeiten des Clansystems in Form des „Bei uns“ in den Mund zu legen, das unverkennbar der Trinität aus Autorin, Erzählerin und Protagonistin zugehörig ist, aber von dieser fast schon ostentativ ferngehalten werden muss. Dieselbe Funktion erfüllt der Kolumbianer Alejandro, dessen Beziehung zur Protagonistin (große Liebe) den Roman klammert und über dessen Denken die Erzählerin verkündet: „die mitleidigen Blicke der Europäer, die ihre eigenen Obdachlosen krepieren ließen, waren ihm (…) unerträglich.“[6] Er ist es dann auch, den die Autorin gegen Ende des Werkes die Kritik am Multikulturalismus verkünden lässt.[7]

 

Und doch, also all diesem Genörgel zum Trotz, versteckt sich im Mittelteil des Werkes eine Autorin, die wirklich schreiben kann. Zu Tage kommt sie ungefähr an jener Stelle, an der die Protagonistin in Paris anlangt und ihren Alejandro zumindest für einen Moment hinter sich gelassen hat. Wie unabsichtlich findet Messina für einen Moment ihren Ton, der sich schon in einigen Passagen des Beginns abzeichnete. Aurélie, die ihr Jurastudium nur mehr als Rechtfertigung des Verbleibs in Paris betrachtet, arbeitet mittlerweile als Empfangshostess in verschiedenen Unternehmen und Behörden:

 

„Ihre Arbeit bestand darin, zu lächeln, und zu hoffen, dass jemand sie bat, ein Taxi zu reservieren; die Nummer war im Telefon eingespeichert. Die heuchlerischste ihrer neuen beruflichen Verpflichtungen bestand darin, immer einen beschäftigten Eindruck zu machen. Die Hostessen hatten keine Aufgaben, aber die Kunden sahen nicht gern, dass jemand fürs Nichtstun bezahlt wurde. Sie mussten also auf den Computer ohne Internetverbindung starren und mit konzentriertem Gesicht endlos Solitär spielen, den Ordner öffnen und tun, als suchten sie ein Dokument, die Zeitansage anrufen, um am Telefon gesehen zu werden. In der Anzeige des Jobcenters, auf die Aurélie geantwortet hatte, stand, dass kein Bildungsabschluss unter Abitur akzeptiert werde.“

 

Besser könnte man die immer prekärer werdende Subsumierung unter die Repräsentations- oder eher Befriedungskosten des Kapitals kaum beschreiben, die von einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme nicht zu unterscheiden ist, und wo der Begriff der Ausbeutung jeden Sinn verliert, da diese – in Ermangelung irgendeines produzierten oder zumindest bewahrten (Mehr-)Wertes – immer sowohl 0% als auch 100% beträgt. Kurz nach dem oben zitierten heißt es plötzlich über gewisse Personen im Unternehmen: „die Energie ihrer Schritte offenbarte, dass sie wichtige Dinge zu tun hatten“, während der personalisierte Gegensatz – ihre Eltern, Freunde und eigentlich ganz Grenoble - „keine Entscheidungen“ zu treffen hatten. In solchen Momenten nimmt die Autorin die Entfaltung der allgemeinen Überflüssigkeit und Nutzlosigkeit wieder zurück, die sie an anderen Stellen des Romans so geschickt entfaltet, wenn beispielsweise die Protagonistin ihr Stipendium nur „zum Dank dafür, dass sie Verwaltungsangestellte und Juradozenten leben ließ“, erhält, oder aber explizit von „Posten“ erzählt wird, „die extra geschaffen waren, um […] die Illusion eines sozialen Aufstiegs zu verschaffen“, während die darauf Platzierten, „für das Wohlergehen ihres Unternehmens absolut verzichtbar“ sind.[8] Irgendwo zwischen diesen durch den Roman verstreuten Schnipseln entsteht fast ein stimmiges Bild des generellen Herumgeschobenwerdens bzw. Sichversteckens vor der Überflüssigkeit, das aber zu mosaikhaft bleibt, und letztlich einen ordentlichen Drall zugunsten Elitenkritik aufweist, die in Frankreich natürlich, das sei zugestanden, noch einmal eine andere Grundlage hat, die sich bis ins Bildungssystem zieht. Man darf bezüglich dieses Gehalts pedantischer sein, zumal die Autorin sich im Interview als Quasi-Avantgardistin „einer neuen, geradezu proletarischen Literatur,“ betrachtet, „die nun zu einer Strömung wird. Auch die Helden aus Houellebecqs Romanen sehen keinen Sinn mehr, aber sie sind zehn bis zwanzig Jahre älter als wir, gehören noch zum Bürgertum, kommen ganz gut über die Runden und langweilen sich einfach. Bei mir geht es um Menschen, die sinnfreie Jobs machen, die sich erniedrigt fühlen, müde und ausgebrannt.“[9] Derart verschwimmt ihr die reell-existente Differenz im Einkommen, und das heißt die relativ größere Entscheidungsfreiheit im Konsum, zu einer Differenz in der Sinnhaftigkeit bzw. -losigkeit der jeweiligen Tätigkeiten oder gar wirklich Entscheidungsfreiheit in diesen. Insbesondere die Unbestimmtheit dessen, was man bürgerlich, proletarisch und kleinbürgerlich zu nennen hätte, führt dazu, dass sie nicht erkennt, dass sie sich mit Houellebecq die Mittelklasse teilt.[10]

 

Die Abwehr jener Erkenntnis verbirgt sich in den Ausführungen über den vermeintlich trennenden Hosenanzug: „Sie fühlte sich mit allen Straßenkehrern, Schweißern, Gebäudereinigern, Toilettenfrauen, Busfahrern und Verteilern von Gratiszeitschriften verbunden […]. Ihr Hosenanzug schuf eine Distanz, sie hätte ihnen nur schwerlich erklären können, dass viele, die so herausgeputzt waren, auch nur Mindestlohn bekamen […].“  (m.H.)

 

Schön verrät sich hier, dass die Amalgamierung des Bezugs des Mindestlohns mit der – völlig unkritisch übernommenen – Aura des Proletarischen tatsächlich primär über das „Gefühl der Verbundenheit“, und nicht mehr, zustande kommt. Der Erfolg des Romans dürfte zu einem erheblichen Teil darauf beruhen, dass er die Sehnsucht einer Generation oder mittlerweile besser dieser Generationen ausdrückt, die nahezu ausschließlich aus Angestellten bestehen, deren einziger Bezugspunkt des Protests jedoch die Arbeiterbewegung ist. In diesem Sinne ist es kaum verwunderlich, dass die Erzählerin von dem gerade Zitierten über die Formulierung „die Arbeiter und ihresgleichen“ („les ouvriers et assimilés“), zu jenem Satz gelangt: „Wie ihr Vater in der Fabrik war sie eine gute Angestellte …“[11]; ein Satz also, in dem der Vater, der Fabrikarbeiter, zum Angestellten gemodelt wird, damit die Empfangs-Hostess nicht bemerkt, dass sie in deutlichster Weise eine Nachfahrin der dienenden Klasse darstellt, die heutzutage aus ihrem direkt dienenden Verhältnis gerissen und generalisiert ist. In jener Bewusstlosigkeit wäre der Roman durchaus als Gelbwesten-Roman zu bezeichnend, was aber auch heißt, dass er bewusstlos ein Roman über die tendenzielle Bewusstlosigkeit eben jener Bewegung ist; deren Wahrheit wiederum darin besteht, dass sie in Verhältnissen zustande kommt, an denen nichts mehr wirklich zu verstehen ist.[12]

 

Ohne die Autorin, die das Werk schließlich selbst produziert hat, völlig aus der Schusslinie zu nehmen, ließe sich doch anmerken: Eben jene Autorin nicht gegen ihre eigenen Entgleisungen, ihre im schlechten Sinne Collage aus experimentellem Einfällen und Urteilsfetzen, gestärkt zu haben, und stattdessen das höchstens halbgare Produkt auf den Markt geworfen zu haben, ist vor allem Verdienst des Lektorats eines Verlages, der seinen Namen allzu wörtlich nahm, und darauf verzichtete, das Werk beispielsweise einer Schärfung der Erzähltechnik und narrativen Stimmigkeit zu unterwerfen. Es wäre vermutlich auch dann ein Roman geworden, der an gewissen Debüt-Krankheiten gelitten hätte, die auch Houellebecqs „Ausweitung der Kampfzone“ drastisch von seinem restlichen Werk abhebt. Dass die Autorin nun fast alles Lesenswerte durch Ungeschicklichkeiten wieder einreißt, heißt jedoch im Gegensatz zu den zahllosen Neuautoren ohne jegliches Talent, die schlicht und ergreifend gar nicht schreiben können, dass sie erst einmal Sätze hervorbrachte, die sich überhaupt ruinieren lassen, wie man an dem folgenden Satz vielleicht sehen kann: „Nach den zwei Stunden dieser ersten Vorlesung hatte sich Aurélie wie ein frisch defloriertes Mädchen gefühlt, sie konnte es nicht fassen, dass etwas so lange Erträumtes so fade, unnütz und endlos sein konnte“, den der völlig unnötige Folgesatz sogleich zunichtemacht: „Die Frustration ließ ihren Unterleib schmerzen.“

 

Der fragwürdige Erfolg ihres Debüts, dürfte ihr zumindest eine zweite Chance einräumen. Man darf gespannt sein, ob sie sie zu nutzen wissen wird. Im Falle von „Fehlstart“ jedoch zahlt man für einen Roman, an dem man leider höchstens das Potenzial, das in ihm versteckt ist, genießen kann; und das heißt, dass man dafür zahlt, dass man das Werk gedanklich nachlektoriert. „Fehlstart“ ist letztlich vor allem ein Fehlkauf.

 

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Marion Messina: Fehlstart.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Hanser Verlag, München 2020
166 Seiten, 18 Euro

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[1] https://jungle.world/artikel/2020/05/verlorene-illusionen
[2] Bzw. dachte, dass das Eine automatisch Bestandteil des Anderen sei.
[3] Heraus kommt eine Kritik, die die Werbung des Verlags nur verdoppelt, die das Werk der Autorin im Klappentext in eine Reihe mit Houellebecq und Despentes stellt – oder ihr zumindest auf den Leim geht. Eben jene Werbung geht ferner auf, egal wie sich der Rezensent entscheidet, denn jedes dieser Urteile, ja selbst der Hinweis darauf, wie hier, dass der Vergleich grundlegend fragwürdig ist, muss ihn erst einmal wiederholen und somit zumindest ins Un- und Vorbewusste schieben – Chapeau! Bezeichnenderweise hat sich das Feuilleton den Nachvollzug der potenziellen Gemeinsamkeiten mit Despentes gleich gespart.
[4] „goldene Fall-“ statt Rettungs“schirme“; die Verwechslung von „Üben“ statt Lernen für eine „Theorieprüfung“ oder aber „Tag“ statt „Tageslohn“.
[5] In diesem potenzielle Rechtswerden als Drohung erscheint die Protagonistin wahrlich als Personifikation der Gelbwestenbewegung, der die Autorin erklärter Weise nahesteht.
[6] Wenig überraschend stößt man im Interview mit der Autorin auf den Satz: „Aber man kann doch für die Haushaltsdisziplin nicht mehrere Millionen Menschen auf der Straße verrecken lassen.“ https://www.freitag.de/autoren/linkerhand/wir-lieben-es-tabus-zu-brechen
[7] Er, der zwar durchaus als Unsympath geschildert wird, ist letztlich doch der edle Wilde, der als eine Art Korrektiv des dekadenten, moralisch korrupten Frankreichs fungiert. „Alejandro wies sie mit einem >Ich bin kein Weichei wie die europäischen Männer< zurück. Sie ärgerte sich über die vulgäre, aber zutreffende Bemerkung.“
[8] Beispielsweise auch: „Für die übergroße Mehrheit der jungen Franzosen war die Universität eine Wahl mangels Alternativen, ein Universum, in dem sie geparkt wurden, um die Arbeitslosenzahlen nicht explodieren zu lassen.“ Oder: „Der Staat förderte das Handwerk als größten Arbeitgeber Frankreichs, aber die Gymnasiallehrer benutzten die Berufsausbildung als Müllhalde für schlechte Elemente.“
[9] https://www.freitag.de/autoren/linkerhand/wir-lieben-es-tabus-zu-brechen m. H.
[10] Die Deindustrialisierung ist in Frankreich besonders drastisch, da dort der sekundäre Sektor nur mehr um die 20 % der Erwerbstätigen beschäftigt, die zudem nur 17% des BIP erwirtschaften. (Zum Vergleich: Deutschland 25% der Beschäftigten / 30% des BIP; Österreich 25% der Beschäftigten / 28 % des BIP)
[11] „Comme son père à l’usine, elle était une bonne employée, discrète, toujours disponible.“
[12] as treffendste ist demnach auch der Rückblick in die Familiengeschichte; jener gar nicht uncharmante individualisierte Nachvollzug der Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse der Trente Glorieuses und deren Ausklingen. Die große Stärke liegt hierbei gerade darin, dass nie klar wird, ob es die Erinnerung an einen Mythos oder eine Realität, an eine „Zeit, als ein anständiges Proletarierleben noch möglich war“, ist.