Hinlänglich durchs Feuilleton gereicht wurde das Bestiarium Adornos: die Gazellengiraffe Gretel, das Mammut Max, die mütterliche Nilfpferdstute und er selbst als Nilpferdkönig Archibald. Indem Adorno seine Nächsten in Tiere verwandelte, würdigte er in ihnen das von böse gewordener Zivilisation noch nicht Verwüstete. Diese romantische Ader ist nicht Lapsus, sondern Kern Kritischer Theorie. Sie wird an entscheidenden Stellen animistisch und dieser Animismus läuft dem Gestus der »Ausrottung des Animismus« durch den »Anthropomorphismus« der Aufklärung zuwider.1 Für Kritische Theorie war das Doppelverhältnis von Reflexion und Verdrängung am Tier ein Schlüssel zum Verständnis gesellschaftlicher Gewalt. Adorno schreibt im Fragment »Menschen sehen dich an«: »Die stets wieder begegnende Aussage, Wilde, Schwarze, Japaner glichen Tieren, etwa Affen, enthält bereits den Schlüssel zum Pogrom. Über dessen Möglichkeit wird entschieden in dem Augenblick, in dem das Auge eines tödlich verwundeten Tiers den Menschen trifft. Der Trotz, mit dem er diesen Blick von sich schiebt – ‚es ist ja bloß ein Tier’ –, wiederholt sich unaufhaltsam in den Grausamkeiten an Menschen, in denen die Täter das ‚nur ein Tier’ immer wieder sich bestätigen müssen, weil sie es schon am Tier nie ganz glauben konnten.«2
Der gestiefelte Kater tötet den Zauberer, weil der sich in Tiere verwandelt. In solchem Pogrom folgt die Trennung von Mensch und Tier der Identifizierung von (anderen) Menschen und Tieren nach. Der Totemismus heiligt das Tier, stellt es in seiner spirituellen Verwandtschaft als Ahnherren über den Menschen. Darwin hat diese Position säkularisiert wiederhergestellt, indem er das Tier als wirklichen Ahnherrn des Menschen erkannte und damit den Menschen als Tier. Tiere wiederum erschienen Darwin durch seine Beobachtungen immer menschlicher.3
Aus der Naturkunde keimte der Tod Gottes gleich zweimal. Nur zehn Jahre nach Darwins »The Descent of Man« suchte Sigmund Freud, von den Schriften des Evolutionsforschers zum Medizin- und Zoologiestudium inspiriert, in den Bäuchen hunderter aufgeschnittenen Aale nach männlichen Geschlechtsorganen. Er wandte sich der Psychologie zu und schrieb »Totem und Tabu«, in dem geliebte Götter einst gehasste Väter waren.
Kurz darauf arbeitet ein gewisser Franz Kafka an der »Verwandlung«, in der nicht mehr der patriarchale Vater, sondern der geknechtete Sohn und Angestellte in ein Tier mutiert, ein hilfloser Halbgott, ein von Äpfeln angeschossener Käfer, Mahnbild für die geschundene Autonomie in der Angestelltengesellschaft.
Mythologie war mit dem Empirismus der Naturforschung nicht erledigt, wie schon der monotheistische Mythos von der Krone der Schöpfung nicht den Totemismus liquidierte, der in den Tieren der Bibel vom Wal bis zum »Lamm Jesu« fortlebt. Tiervergleiche spüren der Diskontinuität von Mensch und Natur nach und darin der Frage nach der Entstehung des Geistes als von Natur Geschiedenem. Das Mensch-Tier-Problem bestand trotz und wegen Darwin fort, das Tier Mensch blieb mit Geist begabt, Nicht-Tier, aber weil auch Tiere Nicht-Tiere sind, vermag das Spiel von Nichtidentität weiter zu irritieren, wo es Unversöhntes blieb. Kritische Theorie gibt das Geistproblem nicht zugunsten des naturalisierenden Empirismus preis, der von der »Vielheit der Gestalten« nur Faktum und Materie übrig lässt, und erweist sich stattdessen als »solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes«.4 Totalitär werdende Aufklärung hingegen richtet noch den Aberglaube ihrer eigenen Werte – Geist, Wahrheit, Menschenrechte – als »animistischen Zauber« hin.5 Wo alles Andere »nur Tier« ist, ist auch der Mensch bald »nur ein Tier«. Dagegen, dass Menschheit kein »Massenracket in der Natur werde«6, und letztlich sich selbst bewusstlose Natur wird, soll »Natur erinnert« werden, wohlweislich ohne Vorbild und Ziel zu werden.7
Das synchron verlaufende Misstrauen gegen die manipulative Inszenierung von Tieren präzisiert Kritische Theorie in Passagen von der »Tier-, Natur- und Kinderfrommheit des Faschisten«, unter dessen tätschelnder Hand die Natur schon zum »Dreck« gemacht wird.8 Gegen das propagandistische Potential verkitschter Tierfilme spottet Kracauer: »Das Bedürfnis, sich von Tieren ansehen zu lassen, ist bei uns neuerdings zur Sucht geworden. Ein bekanntes Verlagsunter-nehmen führt im Inseratenteil seiner Zeitungen dem Publikum immer wieder Tiere vor, die das eine oder andre Erzeugnis des Verlags bewundern müssen […] und dass es eine Filmwochenschau gäbe, in der keine Tiere vorkommen, ist völlig unmöglich. Meist tauchen sie zwischen einer Explosion und einem Sportfest oder einem Sportfest und einer Explosion auf. Nicht genug damit: auch die Expeditionsfilme haben sich in der jüngsten Vergangenheit stark vermehrt, und handeln sie nicht von primitiven Völkern, so nehmen sie doch bestimmt exotische Tiere aufs Korn. Um allen Ansprüchen zu genügen, werden übrigwer Regel mit jenen zusammengemixt. […] Heißt es zum Beispiel in einer Wochenschau »Babies bei der Wäsche«, so darf man sicher sein, dass riesige Dickhäuter mit Wasser begossen werden.«9
Das trifft jenen Boom der Zoowärterfilme, der in den letzten Jahren als Instrument von Integration verdrängter Jagdlust und verlorener Mütterlichkeit eher denn als Aufklärung aufgebaut wurde. Kracauer spricht nicht umsonst vom »Anzüchten« der Infantilität:
»Was beweist dieser Ton? Er beweist, dass sich die Lust an den netten und niedlichen Tieren aus der Infantilität erklärt – einer Infantilität, die entweder in gewissen Bevölkerungsschichten vorhanden ist oder die ihnen doch angezüchtet werden soll. Man will nicht den Blick auf unsere soziale Lage richten, will verhindern dass sich Erkenntnisse durchsetzen, die eine gefährliche Unruhe erzeugen – und so entwickeln sich reife Menschen ins infantile Stadium zurück. Das Wesen, das aus den Tieren gemacht wird, ist ein Merkmal der Flucht.«10
Kritische Theorie hat den Wert der Flucht und des Eskapismus stets gewürdigt. Adorno floh ins Bestiarium der Freundschaften, in die Schimpansensendung »Daktari«, den Frankfurter Zoo bat er gar, ein Pärchen Wombats anzuschaffen, weil ihn dies an seine Kindheit erinnere. Heute entstehen Kindheitserinnerungen an Wombats in den von Jagdlust nie freien Online-Safaris. Durch Kameras und das Internet zum Massenphänomen geworden, erkundet Hobby-Ethologie in der Tradition der wieder florierenden Anthropomorphien der Aufklärung Grenzbereiche von überkommenen Dichotomien, sie relativiert die Alterität des Menschen. Aufklärung und Massenbetrug gehen aber in Kulturindustrie nebeneinander her, wie der Blick auf das blaue Förderband Facebook enthüllt, das unerbittlich Nachrichten von oben nach unten schiebt.
Frauendemonstrationen in Indien, Erdbeben in Tibet, Genozid in Armenien – und plötzlich springen da Meerkatzen auf ein Buschschwein wie flüchtige Bankräuber auf ihre Pferde, der Zwischenschnitt suggeriert eine afrikanische Jagd, und das Schwein hetzt im Schweinsgalopp mit seinen parasitären Passagieren davon. Funktional ist solche Flucht ein comic relief, chaotisch, unorganisiert. Das unterstreicht gerade die Drastik des Ernsten, stellt kurzes Einverständnis her, dass es ein Anderes geben muss. Erstaunliches, den Schein des Naturgesetzes Durchbrechendes geht im Tierreich vor sich, wie jene Gepardin, die ein aus dem Leib der soeben erbeuteten Mutter gekrochenes Affenjunge adoptiert, der Husky, der 15 Wörter auf Befehl jaulen kann, die Vögel, die komplizierte Mechanismen knacken um an ein paar Sämereien zu gelangen. Hobbyethologie in dieser Form ist versöhntes Erblicken von Menschlichem in Natur. Was aber bei anderen Leuten aus dem Blauen kommt, ist weniger lustig, es ist Opium seiner Quantität nach: Katzen, die sich in Gefäßen verfangen haben, Katzen, die Hunde quälen, Katzen in Anzügen, Katzen mit noch mehr Katzen…
E. T. A. Hoffmann zeichnet seinen Kater Murr als eitle Parodie des Bildungsbürgers, dem es doch an kritischem Genie mangelt. Diese selbstgefällige, niedliche Sphinx, in »Hello Kitty« zur Reinstform geronnen, fragt nicht mehr, was der Mensch ist, sie hypnotisiert und macht stumm. Einige Politclowns haben dieses Potential des Catstorms erkannt und sabotieren Diskussionen mit Unmengen an Katzenbildern – mit Erfolg, die Diskussion rutscht ins Lächerliche, stirbt ab. Das Potential der Katze ist der auf sie projizierte Narzissmus, den Freud notierte. Maligner Narzissmus kennt kein Anderes, er vernichtet es oder frisst es auf. Kafka lässt seine Katze die ihre auswegslose Situation erkennende Maus fressen wie das System das atomisierte Individuum, freilich nicht ohne die Maus noch zu verhöhnen: »Du musst nur die Richtung ändern.«
Die Wissenschaft von der Änderung der Richtung im Eindimensionalen ist Kritische Theorie. Ihr Zentrum bildet das Verhältnis des Menschen zur Natur. Als Beherrschende treibt sie ihn in die Mimesis, wo er sie beherrscht, errichtet er ein Regime über sich selbst, das brutaler wird als Natur es je vermochte. Das Mantra Kritischer Theorie gegen dieses »Verhextsein« von Verhältnissen ist: Versöhnung. Einen aufgeklärten, versöhnten Animismus zweiter Stufe herzustellen ist eine praktische Konsequenz Kritischer Theorie gegen den totalitären Zug der Aufklärung. Der Kleinbürger in seinen Katzengewittern, der Pinguinfilm während der türkischen Proteste, die Safari-, Zoo-, und Survivalsendungen inmitten des Unrechts führen zu Kracauers Marxismus. Der Satz des zum Internetstar gewordenen kleinen Luiz Antonios – »nobody eats chicken« – und seine rührende Weigerung, Tintenfischringe zu essen, weil sie auch Augen haben, führt zu Adornos Animismus. Beide sind wahr. Kritische Theorie muss nicht zwangsläufig auf den totemistischen Konflikt hinauslaufen, ob wir Tiere essen sollen, weil oder obwohl sie Tiere sind. Gegen gesellschaftlich als Männlichkeitsbeweis, ödipaler Triumph und totemistische Praxis inszenierten Fleischverzehr hält sie aber allemal zur gequälten Kreatur.