Der Räte-Doktor

Der Arzt und Schriftsteller Werner Vogt hat seine Autobiographie geschrieben.

Es gibt einige Persönlichkeiten in der Geschichte der Zweiten Republik, die man als Antipoden dieses Staates bezeichnen kann. Einige Schriftsteller gehören dazu, wenige Musiker, noch weniger darstellende Künstler – und eine Handvoll Medizinerinnen und Mediziner. Ihre Namen sind bekannt. Die Namen der gar nicht so wenigen Arbeiter, Angestellten, Bauern, Putzfrauen und Pädagoginnen erfährt man nur durch Zufall. Werner Vogt ist einer dieser bekannten »Himmelsstürmer«. Von 1970 an prägte er wie kaum ein anderer ein Bild des Arztberufes jenseits von Standesdünkel, Geldgier und Herrenmenschentum. Der Begriff »Himmelsstürmer« geht auf Marx zurück, der die kämpfenden Pariser Kommunarden des Jahres 1870 mit diesem Namen auszeichnete. Einige Tausend Arbeiterinnen und Arbeiter, Arbeitslose, Lumpenproletarier, Kriegs- und Industrieversehrte, die ohne Chance gegen die französische und deutsche Militärmaschinerie ankämpften und eine neuartige Form der politischen Vertretung entwickelten, die die Rätebewegung mit strikter Basisdemokratie und imperativen, an die Vorgaben der Basis geknüpften Mandaten, entwickelten. Nicht zuletzt deswegen wird diese Form der Basisdemokratie heute noch mit medialem Feuer und Schwefel bekämpft.
Werner Vogt ist ein Räte-Doktor, ein Räte-Demokrat wie er in keinem Buche steht. Doch! In einem, in seiner jüngst erschienenen fulminanten Autobiographie, die den Nestroy´schen Titel »Mein Arztroman« trägt und schon in der Namensgebung des Buches auf einen Zusammenhang verweist, der in Österreich noch seltener ist als ein aufrechter politischer Gang, der Zusammenhang von Witz, Wissen, humaner Tat und künstlerischer Verdichtung. Im besten Sinn ist Werner Vogt ein humorloser Mensch, der über so viel Witz verfügt, daß er alle Theater- und Kleinkunstbühnen dieses Landes an die Proszeniumswände spielen könnte. Das Verhältnis von Witz und Humor ist ja, wie jenes von Kunst und Kultur, ein Bürgerkriegsverhältnis. Die Kultur ist der Todfeind der Kunst und der Humor ist der Antipode des Witzes. Im englischen Wort »wit« steckt das Wort Erkenntnis. In »humour« dagegen die »verspielte, gelassene Heiterkeit«. Das Hinweglächeln der Gaskammern. Das stille Einverständnis mit dem Bestehenden, die Aporie.
Dies ist mit ein Grund, warum Autorinnen und Autoren wie Elfriede Jelinek, Marlene Streeruwitz, Johann Nepomuk Nestroy sowie Robert Musil, Karl Kraus und der großartige Michael Scharang in Österreich nie populär und schon gar nicht heimisch werden. Ihr Witz schlägt die Wirklichkeit entzwei, während der kabarettistische Humor der Wirklichkeit, auch der schlimmsten, Kränze flicht und zur rechten Hand sitzet der Welt. Die im Besitz der Herrschenden ist. Glücklich ist, wer vergißt. was nicht mehr zu ändern ist. Was nicht mehr geändert werden soll, würden die Herrschaften Faymann und Hundstorfer hinzufügen.
Aus den skizzierten Gründen ist Werner Vogt kein Publizist oder Hommes de Lettres, er verfügt über Wissen, er macht sich niemals über Schwache lustig, er weiß um die zivilisationsrettende Dimension von Tabus und er kann diese Haltung mit glühender Leidenschaft und tollkühnem Witz auch in Worte fassen. Nicht zuletzt aus diesen Gründen ist er ein großer Schriftsteller.
Nach 1955 schlüpften fast alle von der NS-Zeit »belasteten« Ärzte bei der SPÖ unter, die die größten Mörder und Verbrecher, wie den Euthanasiearzt Gross, den Werner Vogt später bis zur angedrohten eigenen Existenzvernichtung bekämpfen sollte, mit Handkuß aufnahmen.
1955 versuchte eine kleine Gruppe antifaschistischer Ärzte um den Hautarzt und späteren Gesundheitsminister Kurt Steyrer, die Ärzte-Nazi aus dem Bund Sozialistischer Akademiker (BSA) hinauszudrängen. Sie scheiterten auf allen Linien, Steyrer wurde ausgeschlossen, Dutzende antifaschistische Ärzte zogen sich zurück. Die Nazi-Ärzte, unter ihnen der Kindermassenmörder Gross, siegten auf allen Linien und stellten bis Ende der siebziger Jahr die wichtigsten Ärztefunktionäre des BSA.
Werner Vogt beschreibt diese Entwicklungen, und er erzählt sie auf seinem Gebiet, dem Gesundheitssystem. Er kämpfte, oft genug um den Preis der eigenen und der Existenz seiner Familie gegen das unverschämte Fortwirken der Naziseilschaften, er tat dies, anders als die Herren mit der Vorliebe für gefüllte Kuverts, mit offenem Visier und auf eine beeindruckende Art unösterreichisch.
Primarius Gross, ein furchtbarer Mediziner, der hundertfach Kinder an der Klinik »Spiegelgrund« am Steinhof umbringen ließ, ein bodenloser Mensch, eine unübertreffliche Schande nicht nur für seinen Beruf, sondern für die Gattung, wurde nicht zufällig Werner Vogts Hauptgegner. Wenn es so etwas gab wie das Böse in Menschengestalt, Primarius Gross wäre in der Rangliste weit vorne, nicht weit hinter Mengele und Konsorten.
Nach dem Krieg waren nahezu alle in Österreich arbeitenden Ärzte ehemalige NSDAP oder SS-Mitglieder. Die jüdischen Kollegen hatte man vertrieben oder ins Gas geschickt. Nirgendwo ist die Reproduktionsrate eines Berufsstandes so hoch wie bei Ärzten, achtzig Prozent der Medizinstudenten haben Medizinnerinnen oder Mediziner als Eltern. Wenn die übergroße Mehrheit dieser Leute dem Nationalsozialismus anhing, hieß das, daß auch ihre Kinder in den weißen Kitteln, aus dem sogenannten dritten, dem deutschnationalen und faschistischen Lager, stammten – und nur die wenigsten sich davon emanzipierten. Das Gegenteil war die Regel: man übernahm die privilegierte, rassistische und herrenmenschliche Attitüde der werten Eltern.
Ein Bravourstück des Buches ist die Abschiedsrede an Primarius Böhler (Vogt nennt ihn aus rechtlichen Gründen Braun, der Text erschien im »Falter«):
»Da ich eigene und geliehene Erfahrungen im Umhang mit autoritären Spitalchefs, meist ehemaligen NS-Größen (der ältere Böhler! Anm.), Jagdfliegern (der jüngere Böhler! Anm.) und SS-Sturmführern in der Rede verarbeitet habe, sahen sich viele »durchschaut«, auch wenn ich sie gar nicht kannte. Der, den ich damit wirklich verabschieden wollte, Böhler, wollte mich klagen, zog aber zurück, als man ihm klar machte, daß  seine Identität mit der »literarischen Figur« nur durch das Eingeständnis der aufgezählten Untaten nachzuweisen wäre.«
Böhler habe mit Vogt in einer perfekten Feindschaft gelebt, schreibt der Autor. »Daß er mich nicht völlig ruiniert hat, verdanke ich zwei Umständen; daß ich schreiben und denken konnte, was ich wollte, und daß ich das öffentlich tat. Sie, Herr Braun, dachten anders als Sie redeten, und alles, was Sie gegen mich unternahmen, mußte heimlich, auf dem Weg einer Intrige geschehen, die Sie geleugnet haben.«
Der zweite Umstand, der Vogt das Überleben ermöglichte, waren die »endlosen Nachtgespräche mit meinen Freunden und die mehrmals demonstrierte Entschlossenheit, gegen Braun und seine Handlanger in Kämmerchen und Kammern anzutreten, öffentlich anzutreten.«
Vielen Kollegen erging es nicht so gut.
»Sie, Herr Braun, haben jedes Jahr mindestens einen Arzt ruiniert. Einige waren Ihren Aggressionen nicht gewachsen und wurden schwer krank, wurden spitalsreif unterdrückt.« Andere gaben den Beruf auf und verließen die Chirurgie, wieder andere wurden zu Verbandwechslern degradiert. …Die Liste Ihrer Opfer würde ein trauriges Heldendenkmal ergeben. Dabei spreche ich heute nur von Ärzten, verschweige die nicht minder stattliche Anzahl von Schwestern, Pflegern, Röntgenassistenten, Schreibkräften, die vor Ihnen, dem gefürchteten Chef, geflüchtet sind. … die Tatsache also, daß Sie viele, mache davon lebensentscheidend, ruiniert haben, gibt mir das Recht und macht es mir zu Pflicht, gegen die Verlogenheit der bisher gehörten Abschiedsreden anzutreten.«
Was scharf beginnt, geht materialistisch weiter.
»Meine Damen und Herren, nach dieser Einleitung verstehen Sie meine Parteilichkeit. Ich bin froh, daß Braun geht, weil seine in unserem Krankenhaus exekutierten Ordnungsprinzipien die Merkmale eines Rassismus tragen.«
So klar wurde seit Emile Zola Herrschaft nicht herausgefordert. Gleichzeitig konnte Werner Vogt für »seine Leute«, die Armen, die Alten, die migrantischen Leute, die Hackler, die behinderten Menschen, außergewöhnlich mitfühlend und immer ansprechbar sein. Wer in den weiten Gängen des Böhler Unfallsspitals Werner Vogt in seinem weißen Mantel näher schweben sah, war von Glück erfüllt. Der Satz: Werk und Mensch sind eins, sind eine untrennbare Einheit, gilt selten so radikal wie bei ihm. Wer sich einem empörenden und beglückenden Abenteuer aussetzen will, der lese dieses Buch.

Werner Vogt. Mein Arztroman. Edition Steinbauer, Wien 2013. 314 Seiten, Hardcover, Großformat, 24 Euro