In Barbet Schroeders Psychothriller »Single White Female«, der 1992 in die Kinos kam, spielt Jennifer Jason Leigh die junge Hedra Carlson, die als Untermieterin bei Allison Jones (Bridget Fonda) einzieht. Allison hat sich von ihrem Freund Sam getrennt und wünscht sich eine Mitbewohnerin, um ihre Tage nicht allein verbringen zu müssen. Zunächst ist sie von Hedra begeistert, doch dann beginnt diese, sich immer aufdringlicher in Allisons Leben einzumischen. Jedes Date, zu dem Allison sich verabredet, wird von Hedra mit freundlicher Perfidie verhindert. Als Hedra sogar beginnt, Allison Kleidung und Frisur zu imitieren und auf diese Weise eines nachts mit Sam, der wieder zu Allison zurückkommen möchte, im Bett landet, weil er sie für seine Ex-Freundin hält, wird Allison endgültig klar, dass ihre Untermieterin psychisch gestört ist. Im Laufe einer gewalttätigen Konfrontation bringt Hedra Sam um, indem sie ihm den Absatz eines Schuhs ins Auge rammt, woraufhin sie von Allison in Notwehr getötet wird.
Obwohl Schroeders Film stark an Alfred Hitchcock anknüpft, stellt er mit Hedra und Allison zwei weibliche Sozialcharaktere in den Mittelpunkt, die Hitchcocks Filme noch nicht kannten. Der Typus der jungen, weißen, alleinstehenden Mittelstandsfrau existiert in »Single White Female« in zwei Varianten, die spiegelbildlich gegenübergestellt werden: Allison ist die erfolgreiche Freiberuflerin, beliebt, aber wegen ihrer selbstverordneten Flexibilität psychisch instabil, im Privatleben wie in der Arbeit gut vernetzt, aber gerade deshalb einsam. Hedra ist ihr ähnlich, doch weil ihr die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung des Scheins sozialer Konformität fehlt, ist sie Allisons Gegenbild. Wie jeder Widersacher vermag Hedra sich in das Gefühlsleben ihrer Rivalin einzufühlen und nutzt die Fähigkeit zur anteilnehmenden Beobachtung, um sich an die Stelle derjenigen zu setzen, die sie beneidet und hasst. Sieht man den Film als Inszenierung einer Spaltung, in der eine psychisch gesunde, aber labile Person der manifest pathologischen, aber in ihrer Krankheit starken Wiedergängerin ihrer selbst begegnet, erscheint der Film als Auseinandersetzung mit einem Persönlichkeitstypus, der seit den Siebzigern von der Populärpsychologie zum Trivialmythos erhoben wurde: dem narzisstischen Charakter.
Narzissmus wird heute ebenso denen attestiert, die der asketischen Moral der Nachhaltigkeitsgesellschaft widersprechen, wie denjenigen, die mit ihr konform gehen; als Narzissten werden ebenso die Abziehbilder des Social-Media-Betriebs wie diejenigen verdächtigt, die sich diesem entziehen; Männer, die rücksichtslos auf ihre erodierten Privilegien pochen, gelten genauso als narzisstisch wie Frauen, die solche Privilegien öffentlichkeitswirksam kritisieren. Als Donald Trump amerikanischer Präsident war, konnte man sich jegliche Begründung der Kritik an seinem Regierungsstil mit dem Hinweis ersparen, er sei ein pathologischer Narzisst; im Kampf gegen machtbewusste Frauen ist es im Berufsleben noch immer aussichtsreich, ein paar Bemerkungen über »weiblichen Narzissmus« fallen zu lassen. Und um diejenigen, die man nicht leiden kann, rhetorisch niederzumachen, genügt überall der Hinweis auf den Narzissmus des Opponenten.
Verglichen mit solcher Trivialisierung der Narzissmus-Diagnose ist Schroeders Film weitaus genauer. Er begreift Narzissmus in seiner Ambiguität, als Normalität und Pathologie, am Beispiel des weiblichen Sozialcharakters. Psychoanalytisch bezeichnet Narzissmus sowohl eine Konstitutionsbedingung dessen, was Freud die normale Entwicklung nannte, wie eine Charakterstörung, in der eine im primären Narzissmus angelegte Pathologie sich verselbständigt und gegen das Subjekt wendet. Um ein kritisches und eben deshalb widerständiges Selbst auszubilden, bedarf das Subjekt des Anderen als Spiegel des eigenen Selbst, das zugleich das Ideal-Selbst und eine virtuelle spätere Selbstidentität vorstellt. Der Andere fungiert bei der gelingenden Subjektkonstitution notwendig als ein gebrochener Spiegel: Er erfüllt seine Funktion nur, wo er dem Selbst das eigene Ideal entstellt zurückspiegelt, als Bestätigung und eben darin auch als Korrektur des Bildes, das das Subjekt sich von sich selber macht. Erst in der Reflexion auf die Kluft zwischen Selbstbestätigung und Selbstveränderung in dem durch den Anderen aufs Subjekt zurückgeworfenen Bild vermag das Subjekt die Konturen seiner Selbst verändernd zu schärfen und sich zu entwickeln: Es wird sich der Fähigkeit zur Selbstveränderung als Bedingung der Möglichkeit freier Selbstidentität bewusst.
Narzisstische Charakterstörungen sind dadurch gekennzeichnet, dass die Reflexion des Subjekts auf sich selbst im Spiegel des Anderen stillgestellt ist und aus der Entwicklung ein Zirkel wird. Der Andere wird nicht als Spiegel, sondern als Echo des eigenen Selbst begehrt, weshalb alles, was aus dem Anderen einen wirklichen Spiegel machen würde – die Brechungen und Umdeutungen, durch die sich das vom Anderen reflektierte Bild vom Selbstbild unterscheidet –, abgewehrt wird. Im Fall von Allison und Hedra ist die Differenz offenkundig: Während Allison Hedra in dem Moment abzulehnen beginnt, da deren anteilnehmende Identifikation ins Bedürfnis umschlägt, den Unterschied zwischen sich und Allison zu tilgen, attackiert Hedra Allison in dem Moment, als sie bemerkt, dass diese sich Ähnlichkeit statt Verschmelzung wünscht. Normaler, psychisch stabiler Narzissmus begehrt im Anderen ein abweichendes und gerade darin bestätigendes Bild seiner selbst; pathologischer Narzissmus begehrt im Anderen die eigene Verdoppelung. Weil in der weiblichen Sozialisation Beruf, Erfolg und Selbstbestätigung im Spiegel einer der Privatsphäre entgegenstehenden Öffentlichkeit lange Zeit schwieriger zu erlangen waren als in der männlichen, tritt die Problematik des Narzissmus in weiblichen Biographien besonders schroff zu Tage. Der Unterschied zwischen psychischer Stabilität und Devianz zeigt sich in »Single White Female« am Konkurrenzkampf Hedras um Sam, den Mann, den sie Allison nicht etwa wegnehmen, sondern in dessen Augen sie an die Stelle Allisons treten will. Weil sie sich den Spiegel ohne Spiegelndes, die Wiederholung der eigenen halluzinierten Subjektivität ohne wiederholendes Objekt wünscht, greift sie statt auf Verführung, Betrug oder Hochstapelei auf pure Zerstörung zurück.
In seiner Studie »Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus« von 1975 hat Otto F. Kernberg narzisstische Charakterstörungen in ihrem Unterschied zu Neurosen, Psychosen, aber auch zur Borderline-Störung beschrieben. Eine entscheidende Differenz sieht er darin, dass narzisstische Charakterstörungen aufgrund der mangelnden Einsichtsfähigkeit der Erkrankten in den pathologischen Charakter ihres Verhaltens besonders schwer therapierbar sind. Die mangelnde Einsicht hat systematische Gründe. Weil Personen mit einer narzisstischen Pathologie so lange, wie sie sich ihre Partner, ihr berufliches Umfeld und ihre Freunde nach Maßgabe der Verdoppelung des eigenen Selbstbildes aussuchen können, sozial konform leben, empfinden sie sich als psychisch gesund und werden darin von ihrem Umfeld bestätigt. Nur Phasen, in denen der Mechanismus narzisstischer Verdoppelung Risse bekommt, weil sich das Umfeld – sei es in einer Liebesbeziehung, sei es in der Arbeit – in seiner widerständigen Objektivität bemerkbar macht, eignen sich als Ankerungspunkte für die Therapie. Kernberg beschreibt die anormale Konformität narzisstischer Persönlichkeiten so: »Narzißtische Persönlichkeiten fallen auf durch ein ungewöhnliches Maß an Selbstbezogenheit im Umgang mit anderen Menschen, durch ihr starkes Bedürfnis, geliebt und von anderen bewundert zu werden … Ihr Gefühlsleben ist seicht; sie empfinden wenig Empathie für die Gefühle anderer und haben – mit Ausnahme von Selbstbestätigungen durch andere Menschen oder eigene Größenphantasien – im Grunde sehr wenig Freude am Leben; sie werden rastlos und leiden unter Langeweile, sobald die äußere Fassade ihren Glanz verliert und momentan keine neuen Quellen der Selbstbestätigung mehr zur Verfügung stehen. … Die mitmenschlichen Beziehungen solcher Patienten haben im allgemeinen einen eindeutig ausbeuterischen und zuweilen sogar parasitären Charakter; … hinter einer oft recht charmanten und gewinnenden Fassade spürt man etwas Kaltes, Unerbittliches. Häufig werden solche Patienten als ‚sehr abhängig‘ angesehen, weil sie so stark auf … Bestätigungen durch andere angewiesen sind, aber im Grunde sind sie völlig außerstande, eine echte Abhängigkeit zu entwickeln, d.h. sich auf einen anderen Menschen wirklich zu verlassen«. (Kursiv MK)
Obgleich bei Kernberg Narzissmus keine Metapher eines falschen gesellschaftlichen Verhältnisses ist, zeichnen seine Fallstudien präzise nach, worin narzisstische Persönlichkeitsstörungen objektiven gesellschaftlichen Tendenzen entgegenkommen. Während für die auf außerhäuslicher Erwerbsarbeit des Vaters basierende bürgerliche Gesellschaft neurotische und hysterische Charakterstörungen signifikant waren, korrespondieren die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, die Diffusion familiärer und beruflicher Hierarchien sowie die Aufwertung der Dienstleistungsberufe und anderer mit Kommunikativität und Empathie eher als mit Autorität und Selbstdisziplin konnotierter Tätigkeiten mit einer Charakterstruktur, in der Selbstbezüglichkeit und taktisches Einfühlungsvermögen, Unerbittlichkeit und Weichheit, Abhängigkeit und Autonomie verschmelzen. Was Kernberg am narzisstischen Charakter als Unfähigkeit beschreibt, »eine echte Abhängigkeit zu entwickeln«, bezeichnet diesen objektiven Schwund individueller Freiheit: Sowohl Momente von Selbstmächtigkeit wie frei gewählter Passivität schrumpfen dem narzisstischen Charakter zu Elementen taktischen Selbsterhalts eines leeren und zugleich »ausbeuterischen«, rudimentären und zugleich hypostasierten Selbst. Während die Pathologien des bürgerlichen Zeitalters auf einen schmerzhaft unaufgelösten Widerspruch zwischen Objekt und Subjekt verwiesen, zeugt die narzisstische Persönlichkeitsstörung eher von einer schmerzhaften Verschmelzung zwischen Subjekt und Objekt.
Die Korrespondenzen des narzisstischen Charakters mit objektiven ökonomischen und sozialpsychologischen Entwicklungen hat Christopher Lasch 1979 in seinem Buch »Das Zeitalter des Narzißmus« zu einem Gesellschaftspanorama ausgebaut, in dem Narzissmus als Erklärung für alle möglichen, oft nur scheinbar neuen Zerfallsformen der modernen Gesellschaft avancierte. Damit hat er, obwohl er den Begriff trennschärfer verwendet als heutige Kulturkritiker, den Anstoß für die Neigung gegeben, soziale Phänomene psychologisch, statt psychische gesellschaftlich zu erklären. Irreführend ist das in mehrfacher Hinsicht. Zum einen bezeichnen psychoanalytische Begriffe wie der des Narzissmus übergesellschaftliche Konstituenten der Subjektgenese. Obwohl sie nicht einfach Anthropologisches meinen, lassen sie sich ebenso wenig gesellschaftlich ableiten. Dass bestimmte Pathologien wie Hysterie, Neurasthenie, Psychose oder eben Narzissmus charakteristisch für bestimmte soziale Konstellationen sind, bedeutet nur, dass sie durch jene Konstellationen begünstigt und zu Emblemen von Epochen geworden sind; die psychische Struktur, auf die sie verweisen, geht aber nicht in Gesellschaft auf.
Zum anderen impliziert die Diagnose des Narzissmus spätestens seit den achtziger Jahren immer ein moralisches Werturteil. Wenn Kernberg von der Selbstbezogenheit, Kälte oder vom manipulativen Charakter pathologischer Narzissten spricht, verbleibt er auf der Ebene der Deskription, getreu der Freud‘schen Maxime, dass nur die geduldige Darstellung, nicht die moralische Verurteilung, dem Patienten zur heilenden Erkenntnis seiner selbst verhelfen kann. Heute aber ist die Diagnose des Narzissmus ausschließlich als Vorwurf denkbar: entweder an den anmaßenden Einzel-nen, der seine Zeitgenossen mit hypertrophen Ansprüchen überfordert, oder an die Welt, die oberflächlich und banal, wie sie ist, die Menschen um ihr Eigenstes bringt. Selbst wo sie den Moralismus in Politik und Alltag anprangert, ist die Kritik des Narzissmus immer moralisierend, nicht erklärend. Statt sie weiter endlos fortzusetzen, wäre es nützlicher, mit Freud und mit Kernberg am Unterschied zwischen deutender Beschreibung und moralischem Urteil festzuhalten. Das aber ist anstrengend, denn genau diese Unterscheidungsfähigkeit wird von allen Feinden der Psychoanalyse als unmoralisch, kalt und konservativ geschmäht.