Dialektik im Quartett

Zur Geschichte der musikalischen Vernunft von Beethoven zu Adorno. Am 20. März beginnt in der Stadtwerkstatt eine Vortragsreihe mit Gerhard Scheit über das Streichquartett.

Beethoven der Klassik zuzuschlagen und Schubert der Romantik, den asketischen Arnold Schönberg mit dem sinnlichen Alban Berg zu konfrontieren oder Hanns Eislers Engagement vom Desengagement der kritischen Theorie Theodor W. Adornos abzugrenzen – so in etwa lauten die beliebten Klischees, in denen sich der musikalische Unverstand herumtreibt, um nicht die in den einzelnen Werken selbst vorhandenen Gegensätze zu begreifen. In der Vortragsreihe soll versucht werden, diesen Gegensätzen auf die Spur zu kommen, und zwar in Form von Kommentaren (für deren Verständnis musikalische oder musiktheoretische Vorkenntnisse nicht unbedingt nötig sind) zu ausgewählten Streichquartettsätzen bzw. Streichtrio- und -quintettsätzen der
genannten Komponisten.

1. Die Aushöhlung der Sonatenform: Beethoven und Schubert
2. Die Härte der Zwölftonkonstruktion: Schönberg und Berg
3. Die Kritik des politischen Engagements: Adorno und Eisler


Beethoven: Streichquartett F-Dur, op. 59/1; Streichquartett a-moll, op. 132
Schubert: Streichquartett d-moll, D 810; Streichquintett C-Dur, D 956
Schönberg: Streichquartett fis-moll, op. 10; Streichtrio op. 45
Berg: Lyrische Suite
Eisler: Streichquartett op. 75
Adorno: Stücke für Streichquartett op. 2

1.
Keine Form eignete sich vielleicht besser, die Gegensätze in konzentriertester Form zu entfalten, als das Streichquartett, von dem Goethe irrtümlich meinte, man höre »vier vernünftige Leute sich unter einander unterhalten, glaubt ihren Discursen etwas abzugewinnen und die Eigenthümlichkeiten der Instrumente kennen zu lernen«. Die Bemerkung könnte von Habermas sein, sie entspricht auch gar nicht Goethes eigenem Naturbegriff. In Wahrheit hört man schon bei Haydn, der diese Gattung bekanntlich ‚erfunden‘ hat, dass die Eigentümlichkeiten der Instrumente den Diskursen, welche die vernünftigen Leute im Publikum führen wollen, sich durchaus nicht anbequemen, sie vielmehr die Grenzen ihrer Vernunft fühlen lassen. Dass »bei dem großen Publicum die Quartettmusik«, wie Hanslick sich erinnert, »als kalt, finster und gelehrt in einigem Verruf« stand, mutet da wie eine Reaktionsbildung an. Um eine durchaus andere Kritik der reinen Vernunft handelt es sich als die von Kant, allerdings zeigt etwas wie Leichtigkeit oder desinvolture in den Quartetten Haydns und Mozarts diese Grenzen so, als ob die Versöhnung nur ein kleiner Schritt hin zur Natur wäre, Versöhnung liegt auf der Hand und in den Sinnen, ist Anschmiegen der Gegensätze, Nachlassen in der Herrschaft über die Natur, die außermenschliche wie die inwendige.

Das ändert sich bei Beethoven zunächst dadurch, dass die Vernunft selbst bis aufs Äußerste getrieben scheint. Ein ganzer Satz, dessen thematische Entwicklung, Rhythmus und harmonische Disposition, vermag aus einer einzigen »Grundidee« herausgearbeitet zu werden. Wie bei Hegel ist diese Idee also erst dadurch Idee, daß aus ihr das Konkrete entwickelt wird; aber auch: dass sie bereits im Hinblick darauf, was aus ihr folgen kann, gesetzt ist. Beethovens Musik kann jedoch dabei nicht das Leid des Konkreten, Einzelnen, verleugnen. Der Ausdruck des in der symphonischen Reprise Verdrängten verlangt förmlich nach der gleichsam intimen Form des Streichquartetts, dem Beethoven allerdings bisher Undenkbares zumutet. (Die Existenz des ersten Berufsquartetts der Musikgeschichte, des Wiener Schuppanzigh-Quartetts, ermöglichte es ihm.) Die Sonatensatzform erscheint in den letzten seiner Quartette schließlich wie ausgehöhlt und lässt umso kahler und unvermittelter die Gegensätze der Themen hervortreten; Entwicklung, soweit sie noch in thematischer Arbeit stattfindet, führt nicht unbedingt zu einem Ziel, das als solches noch nachvollziehbar wäre, vielmehr bewährt sich die Unterbrechung als das Moment, in dem das Subjekt als Individuum dem Subjekt des Idealismus ins Wort fällt. Und dennoch ist es, als ob der Einzelne doch noch aus dem Ganzen die Kraft ziehen kann, sich selbst gegen das Ganze zu wehren.

1940, im amerikanischen Exil, fragten sich Theodor W. Adorno und Eduard Steuermann, der wegweisende Pianist der Wiener Schule, woher es rühre, dass Schuberts Musik »so unvergleichlich viel trauriger sei als selbst die düstersten Stücke von Beethoven«. Steuermann meinte, »das käme von der Aktivität Beethovens«, und Adorno bestimmte diese Aktivität »als Totalität, als die unauflösliche Verschränkung von Ganzem und Teil. Die Schubertsche Traurigkeit hinge danach nicht allein am Ausdruck … sondern an der Freigabe des Einzelnen. Das befreite Detail ist zugleich das verlassene, so wie das befreite Individuum zugleich das vereinsamte und leidende, negative ist.« So wäre es vielleicht auch zu erklären, dass Schuberts Musik von Anfang an gerade aus der Sinnlosigkeit der Bewegung ihre größten Wirkungen gewann. Die unerschöpfliche Kantabilität in der Form des Liedes, in sich abgerundeter Ausdruck des verlassenen Individuums, ist möglich, weil die Entwicklung zugunsten der Wiederholung zurückgenommen wird. In den späten Werken für Streichquartett- bzw. -quintett geht aber der ‚Gesang‘ des Instruments über die von Kantabilität vorgegebenen Periodik eigentümlich hinaus – und das ermöglicht es auch den Begleitstimmen in einer Art Verzweiflung über die Homophonie hervorzutreten: kein ‚schöner Gesang‘ in der vorgegebenen Rundung, nur ein müdes oder aggressives Lebenszeichen nach so langer Zeit der Unterwerfung durch homophone Strukturen. Die Musik beginnt schließlich zu stocken, droht manchmal ganz zu verstummen.

2.
Solche Gegensätze scheinen erst nach der Aufhebung der letztlich immer noch fundierenden Dreiklangs-Harmonik ganz zu sich selbst zu kommen. Adornos Philosophie der neuen Musik, im Exil entstanden, macht sie zum springenden Punkt, von dem her auch das Werk seines Lehrers Alban Berg erschlossen werden kann: Denn Bergs ganzes Bestreben seit der Lyrischen Suite scheint darauf gerichtet, die Zwölftontechnik nicht merken zu lassen. Gerade die »glücklichsten« Teile seiner Oper Lulu seien, so Adorno, offensichtlich in Dominanzfunktion und chromatischen Schritten gedacht: »Die wesentliche Härte der Zwölftonkonstruktion ist bis zur Unkenntlichkeit gemildert. Man kann das Reihenverfahren kaum anders erkennen als daran, daß die Bergische Unersättlichkeit zuweilen nicht den unendlichen Vorrat an Noten zur Verfügung hat, dessen sie bedürfte. Die Starrheit des Systems macht sich bloß noch in solchen Beschränkungen geltend, sonst ist sie ganz überwunden.« Aber überwunden sei sie mehr durch Einpassung der Zwölftontechnik in die traditionelle Musik als durch eigentliche Aufhebung ihrer antagonistischen Momente. Bergs Schwäche sei, auf nichts verzichten zu können, während die Kraft aller neuen Musik im Verzicht liegt. »Das Unversöhnte am späten Schönberg – das sich nicht bloß auf die Intransigenz bezieht, sondern eben auch auf die Antagonismen in der Musik selber – ist der zu frühen Versöhnung Bergs überlegen, die unmenschliche Kälte der großherzigen Wärme. Die innerste Schönheit aber von Bergs späten Werken verdankt sich weniger der geschlossenen Oberfläche ihres Gelingens als ihrer tiefen Unmöglichkeit; dem hoffnungslosen sich Übernehmen …« Die Frage kann darin zugespitzt werden, wie sich die Lyrische Suite, unter solchen Voraussetzungen gehört, zu Schönbergs spätem Streichtrio op. 45 verhält, worin der nunmehr im amerikanischen Exil lebende ‚Vater‘ der Wiener Schule an die frühe expressionistische Phase anknüpft. Schönberg, der sich gerade von einer schweren Operation erholt hatte, sagte über dieses Werk halb im Scherz, er habe seine ganze Krankheit nebst Krankenpfleger hineinkomponiert.

3.
Aus der Konfrontation von Berg und Schönberg ergibt sich auch die Kritik an den Versuchen Hanns Eislers, die Gegensätze im politischen Engagement der Musik aufzulösen. Für Adorno, dessen eigene Streichquartett-Stücke op. 2 vom Kolisch-Quartett – dem wichtigsten Ensemble der Wiener Schule – uraufgeführt wurden, war das, was Eisler nach seinen ersten Kompositionen, die noch ganz im Zeichen seines Lehrers Schönberg standen, für die Arbeiterbewegung schrieb, kaum mehr als »Gemeinschaftsmusik«, wie sie damals in allen politischen Lagern gepflegt wurde. Eisler versuche dabei jedoch »die Antinomie«, die er bei Schönberg zu entfalten gelernt hatte, »durch eine Haltung zu lösen. Es ist die des Witzigen …« Ihre »Vorteile« lägen darin, »sich dem reinen kompositorischen Durchbilden durch jähe, plötzliche Wendungen« zu entziehen. Adorno sieht damit aber auch die »Möglichkeit, die Haltung des Witzigen in die gezielte Aggression zu verwandeln«. Im Reichtum an musikalischen Charakteren, der Eisler durch jene Haltung wie keinem anderen Komponisten der Zeit gegeben war, ist zugleich jedoch ein Erbe Mahlers, dessen Musik Eisler eigentlich gar nicht mochte. Und hier ergibt sich – sozusagen der politischen Intention entgegengesetzt – die Möglichkeit einer Wiederkehr der verdrängten Moderne, die ähnlich wie bei Brecht durchs politische Engagement hindurchgegangen ist: Das Mißlingen der Ichbildung, wie Adorno es an Eislers »Haltung des Witzigen« zu erkennen glaubt, könne in der Gegenwart auch zu »einer der Bedingungen von Kunst« werden; das »Apriori jenes clownhaften Moments«, das »Beckett dann nach außen setzte«, sei eben schon durchaus bei Eisler und Brecht vorhanden. Aber bei Eisler wie bei Brecht glückt dieser Einsatz des Apriori nur, wenn es nicht als bloßes Mittel zur Identifikation mit der politischen Macht und dem Kollektiv fungiert, und darum kann Adorno schreiben, dass bei Eisler das eigentliche Unglück geschah, als er dem Durchlaufenden, in sich Ungegliederten vor dem Komponierten den Vorrang erteilte. … Bei dem, was ihm widerfuhr, geht es gar nicht so sehr um Modernität der Klänge, Intervalle usw. als um das Unterdrücken der Differenziertheit. Diese wird vom Kollektivismus als unerträglich empfunden; es wird auf ein schlecht Allgemeines, das schrumm schrumm, nivelliert.« Als Eisler im Exil sein Streichquartett op. 75 schrieb, versuchte er diese Differenziertheit in der Besinnung auf Schönbergs Kompositionstechnik zurückzugewinnen. Denn die Frage »aller Musik«, die Adorno an Beethovens Musik zu stellen gelernt hat, lautet eben: »wie kann ein Ganzes sein, ohne daß dem Einzelnen Gewalt angetan wird«.

---------------------------------------------------------------------------------

DIALEKTIK IM QUARTETT

Vortragsreihe von Gerhard Scheit im Saal der Stadtwerkstatt

20. März, 19.30 Uhr: Beethoven und Schubert
24. April, 19.30 Uhr: Schönberg und Berg
22. Mai, 19.30 Uhr: Adorno und Eisler


Eine Veranstaltung aus der Reihe antidot mit Unterstützung der Kunstuniversität Linz.

Gerhard Scheit lebt als freier Autor in Wien. Er ist Mitbegründer der ideologiekritischen Zeitschrift sans phrase und veröffentlicht zu zahlreichen Themen aus dem Umkreis der Kritischen Theorie, darunter besonders zur Kritik der politischen Gewalt, der Kritik der politischen Ökonomie und der Kritik des Antisemitismus. Im August 2022 erschien sein neues Buch »Mit Marx. 12 zum Teil scholastische Versuche zur Kritik der politischen Ökonomie« im ça ira-Verlag.