Geistige Wüstenbildung

Svenna Triebler über »Kreativität« als semantische Allzweckwaffe.

Wenn das letzte Jahrzehnt irgendeine Erkenntnis hervorgebracht hat, dann diese: Wer Wert darauf legt, mit irgendeiner schöpferischen Tätigkeit ernst genommen zu werden, sollte schleunigst das Weite suchen, wo immer der Begriff »kreativ« fällt. Führte das Wort einstmals eine harmlose und bescheidene Existenz in seinem angestammten Habitat von Kindergärten und Volkshochschul-Töpferkursen, ist es in den Labors der Marketingindustrie zur semantischen Allzweckwaffe mutiert, deren Einsatz maßgeblich zur geistigen Wüstenbildung beiträgt, die in den urbanen Landschaften Mitteleuropas zu beobachten ist.
Beispiel Hamburg: Hier existiert - neben Messen, Onlineplattformen und anderem Gedöns mit dem inflationären K-Wort im Namen - seit 2010 die »Hamburg Kreativ Gesellschaft (sic), Förderagentur für Kultur- und Kreativwirtschaft der Stadt Hamburg«. Es kann kein Zufall sein, dass ungefähr gleichzeitig eine regelrechte Massenflucht Hamburger Kunst- und Kulturtätiger mit Hauptrichtung Berlin eingesetzt hat, darunter neben zahllosen weniger prominenten Namen beispielsweise die Band Kante sowie die Tocotronic – respektive Blumfeld-Köpfe Dirk von Lowtzow und Jochen Distelmeier.
Man könnte auf den Gedanken kommen, dass dies möglicherweise etwas mit der Entwicklung der Mieten (und ganz allgemein der Bewohnbarkeit der laut Selbstauskunft schönsten Stadt der Welt) zu tun hat, aber dafür ist die »Hamburg Kreativ Gesellschaft« ja nicht zuständig: Ihr Existenzzweck ist es, Sprechblasen von der »Kreativwirtschaft als einem der zukunftsfähigsten und innovativsten Wirtschaftszweige« abzusondern, und die Erfolge können sich sehen lassen: Gefühlt einmal pro Jahr wird ein neues Musicaltheater in die Landschaft gestellt, zu den kulturellen Highlights des Jahres, dem Schlagermove und dem Hafengeburtstag, wälzen sich Hunderttausende bis Millionen Konsumenten durch die Straßen. Gelegentlich muss wieder mal ein kleiner, feiner Club schließen, aber das hat nachgelassen, weil kaum noch welche übrig sind.
Aber hey, dafür laden die öffentlichen Mülleimer[1] mit launigen Sprüchen à la »Eine müllde Gabe bitte« zur Benutzung ein, an denen ein paar junge Kreative sicherlich lange gefeilt haben. Und im Hafenbecken thront ein Konzertspukhaus vor sich hin und wirbt samt seinen Baukränen für Olympia.

Nun hat es also auch die Stadt Linz erwischt: Sie wurde als »Unesco City of Media Arts« in das »Creative Cities Network« der UN-Kulturorganisation aufgenommen. Wikipedia informiert mich, dass diese Auszeichnung außerdem in den Kategorien Film, Design, Handwerk, Literatur und, man höre und staune, Gastronomie vergeben wird. Das erweitert doch gleich den kulturellen Horizont, denn außer vom schwedischen Östersund hatte ich von den Titelträgern noch nie gehört. Ein Posten in dem Gremium, das die gastronomische Kultur in Florianopolis (Brasilien), Jeonju (Südkorea) oder Tsuruoka in Japan zu bewerten hat, klingt aber durchaus erstrebenswert.
Welche kulinarischen Spitzenleistungen an diesen exotischen Orten vollbracht werden mögen, entzieht sich leider meiner Kenntnis. Etwas mehr weiß ich über Mannheim, das sich mit dem Titel »Unesco City of Music« schmückt. Alleinstellungsmerkmal, wie es in diesen Kreisen wohl heißt, der 300.000-Einwohner-Stadt ist die 2003 gegründete »Popakademie Baden-Württemberg«. Dieser ist unter anderem ein gewisser Xavier Naidoo entlaufen, den man wenigstens nicht mehr so oft im Radio hören muss, seit er vom christlichen Fundamentalismus ins Montagswahnmachen- und Reichsbürgerfach gewechselt ist.
Na gut, Hannover, ebenfalls »City of Music«, hat eine renommierte Jazzszene vorzuweisen. Das macht allerdings nicht wieder gut, was Heinz-Rudolf Kunze, die Scorpions, Fury in the Slaughterhouse, Scooter und Lena Meyer-Landruth der Welt angetan haben. Alles in allem scheint die Ernennung zur »Creative City« also für Städte ungefähr das zu sein, was im Dorfleben die Wahl zur Wein- oder Grünkohlkönigin ist.

Ich muss gestehen: Von Linz weiß ich nicht viel mehr als seine ungefähre geographische Lage. Unter »Media Arts« kann ich mir ebenfalls nicht allzuviel vorstellen - benötigt nicht schließlich jede Kunst irgendeine Form von Medium? Fällt ein wenig vom Glanz der Unesco-Auszeichnung vielleicht sogar auf die Versorgerin? Vermutlich sind aber wohl elektronische Medien gemeint. Falls mir entgangen sein sollte, dass Linz besonders viele begabte Youtuber beheimatet oder heimliche Hochburg der österreichischen Kulturbloggerszene ist, freue ich mich über sachdienliche Hinweise aus der Leserschaft.
Eine immerhin weiß, wofür so eine Ehrung vergeben wird: Wirtschaftsstadträtin Susanne Wegscheider. Für sie ist »der Titel Unesco City of Media Arts […] eine Riesenchance für den Kreativstandort Linz«, ein »Meilenstein für das internationale Branding von Linz«. Und nicht zuletzt: »Der Rohstoff Kreativität wird auch für den Wirtschaftsstandort Linz immer wichtiger.«
Natürlich ist so etwas auch immer eine Riesenchance für die Honoratioren des Standorts, sich bei Sekt und Schnittchen mit BWL-Textbausteinen wichtigzumachen, aber das Geblubber enthält immerhin ein Körnchen Substanz: In der Regel sind bekanntlich die Rohstoffproduzenten diejenigen, die am wenigsten vom Gewinn abbekommen. Das gilt nicht nur in chinesischen Kohleminen, sondern auch für das kulturelle Prekariat Europas.

Vorausgesetzt, der Rohstoff eignet sich überhaupt zur Verwertung. Graffiti und Garagenbands mögen zum Flair einer Stadt beitragen, weniger hingegen zur realen Wirtschaftsleistung. Daran ändert sich auch nichts, wenn solche nicht- oder niedrigkommerziellen Lebensäußerungen plötzlich als »immaterielles Kapital« entdeckt werden.
Schlimmer noch: Was geschieht, ist der hinlänglich bekannte Vorgang der Gentrifizierung. Diese wird oft beschrieben wie ein Angriff der Dementoren bei »Harry Potter« - finstere Wesen in Gestalt von Irgendwasmitmedienmachern und Eventmanagern fallen, angezogen von der Wortkombination »kreativ« und »Standort«, über zuvor blühende subkulturelle Landschaften her, saugen ihr »innovatives Potential« aus und lassen Städte als seelenlose Hüllen zurück, - aber eine so simple Trennung zwischen Gut und Böse existiert natürlich nicht.
Zum einen bilden gerade die brotlosesten Künstler selbst die Vorhut der Entwicklung, indem sie Viertel attraktiv machen, die zuvor kein Mensch mit einem Einkommen über Hartz-IV-Niveau freiwillig betreten hätte. Den reflektierteren unter ihnen ist das durchaus bewusst: Das 2009 von Hamburger Kulturherstellern veröffentlichte Manifest »Not In Our Name, Marke Hamburg« beispielsweise war eine Reaktion auf die Pläne des Senats, diesen Aufwertungseffekt gezielt zu nutzen und sein kreatives Humankapital mit temporärer Leerstandsnutzung und Mietzuschüssen in die heruntergekommenen Viertel zu locken, die unter dem Schlagwort »Sprung über die Elbe« zur Wertsteigerung ausersehen sind. Nun kann man aber noch so viele Manifeste unterzeichnen - wenn man sich etwas anderes als die Veddel oder Wilhelmsburg schlicht nicht mehr leisten kann, zieht man eben dorthin. Oder halt nach Berlin (»Unesco City of Design«, falls jemand fragt).
Zum anderen kommen auch junge Wilde irgendwann in ein Alter, ab dem man einen gewissen Lebensstandard zu schätzen lernt und möglicherweise auch noch Nachwuchs miternähren muss. So werden aus Songschreibern Werbetexter, und wer beim Abschluss an der Filmhochschule noch vom Kurzfilm-Oscar träumte, findet sich in der Tristesse des Lokalfernsehens wieder. Wer weiß, vielleicht stehen hinter dem Dauerfeuer an Hohlphrasen, das unseren Abschnitt des Spätkapitalismus kennzeichnet, gar keine PR-Zombies, die ihre eigene Hirnleere durch einen Wohnsitz in einer hippen, angesagten Stadt zu kompensieren suchen, sondern durchaus kluge und zutiefst frustrierte Menschen, die sich auf diese Weise für ihr entgangenes Leben an der Welt rächen.

Aber auch diejenigen, die noch so etwas wie Widerstand gegen die herrschenden Produktions- und Geistesverhältnisse für sich reklamieren, sind nicht immun gegen das Auf-Teufelkommraus-Kreativseinwollen. Es begann damit, dass irgendwann keine linke Demonstration mehr ohne eine Trommelgruppe auskam (wie in Antifa-Kreisen gerüchtete, bestand der ursprüngliche Zweck darin, dem Schwarzen Block auf die Nerven zu gehen), seither korreliert der Niedergang der Linken auffällig mit einer Zunahme von »bunten und kreativen Protestformen«: Deutlicher könnte man das Signal »Die tun nichts, die wollen nur spielen« kaum vermitteln als mit »Pink & Silver Blocks« und »Clownsarmeen«.
Bestenfalls führt so etwas dazu, dass man nicht ernst genommen wird und Mitdemonstranten in Fremdscham versinken; im schlechtesten Fall ist man zutiefst empört, wenn die Polizei sich als Spaßverderber mit Knüppel und Pfefferspray erweist, obwohl man doch so klar auf die eigene Harmlosigkeit hingewiesen hat.
Ein jüngerer Trend in der Selbstinfantilisierung des Alternativmilieus besteht darin, den öffentlichen Raum - »Guck mal, Mami, ich habe einen Topflappen gemacht!« - mit Selbstgestricktem und -gehäkeltem zu beglücken und dies allen Ernstes auch noch als »Guerilla Knitting« zu bezeichnen. Der rebellische Selbstanspruch der Selbermach-Szene ist ohnehin schon fragwürdig genug, und auch mit der Frage, was bunte Textilgirlanden um zur Fällung vorgesehene Bäume oder, wie in Hamburg-Altona, am Treppengeländer des Sozialamts zu einer besseren Welt beitragen, lassen uns die anonymen Künstler alleine.
Immerhin aber die Kreativmanager des Stadtmarketings wird es freuen.

[1] österr.: Mistkübel (keinen Dank an die Wiener Justiz für diesen Beitrag zur Völkerverständigung. S.T.)