Flüchtlingskrise und Israelsolidarität

Über die heutigen Reserven zur Herstellung des allgemeinen Chaos.

Was für Deutschland (und Österreich) in der Finanzkrise ein Vorteil ist, der sich in niedrigen Arbeitslosenquoten und hohen Exportraten ausdrückt, wird in der Flüchtlingskrise zum Nachteil: dass es einen allen Bürgern der Eurozone bzw. der EU gemeinsamen Staat eben nicht gibt und dennoch die Staaten halb und halb ihre Souveränität verlieren. So kann Griechenland mittels Brüsseler Institutionen und EZB behandelt werden, als hätte es überhaupt keinen eigenen Staat, wäre gewissermaßen ein insolventes Unternehmen oder eine pleitegegangene Privatperson. Aber es existieren kaum so probate Mittel dagegen, dass jene, die vor Krieg und äußerstem Elend flüchten, nun ausgerechnet dort am Reichtum partizipieren wollen, wo er sich konzentriert: in Deutschland (und Österreich). Da die EU kein Staat ist, können sie auch nicht gleichmäßig verteilt werden, und es schlägt sich jetzt unmittelbar im deutsch-österreichischen »Kerneuropa« nieder, was in der europäischen Außenpolitik – aus demselben Grund – getan bzw. nicht getan wurde: »Wäre 2012 die Flugverbotszone in Syrien durchgesetzt worden, dann wären die Flüchtlinge jetzt nicht hier«, so Thomas von der Osten-Sacken kurz und bündig in einem Interview (Wiener Zeitung, 12. 1. 2016). Inzwischen ist es offenkundig soweit, dass österreichische Polizisten im Nicht-EU-Staat Mazedonien eingesetzt werden, um Griechenland auch noch als eine Art EU-Flüchtlingslager zu benutzen.

Die Flüchtlingskrise weckt ebensowenig wie die Finanzkrise den begründeten Wunsch nach einem gesamteuropäischen Staat, vielmehr floriert die nationale Sehnsucht nach verlorener eigener Souveränität. Es ist aber etwas Anderes, ob Pegida und FPÖ in diesem Sinn die Schließung der Grenzen verlangen, oder ob der Zentralrat der Juden in Deutschland und der Präsident der IKG in Wien feststellen müssen, dass man um Obergrenzen in ihren Staaten nicht herumkommen werde. Sub specie des Antisemitismus sind Juden auf keineswegs vergleichbare Weise von der terroristischen Gefahr wie auch alltäglicher physischer Bedrohung durch nicht unbedingt djihadistisch gesinnte Muslime betroffen, beides wird sich im Laufe weiterer Einwanderung verschärfen, und die wahnhafte »Willkommenskultur« kann vor diesem Hintergrund als Kompromissbildung gedeutet werden. Bei aller unerlässlichen Empathie mit den einzelnen Flüchtenden ist jedenfalls Misstrauen gefordert, ob der Rechtsstaat die so gerne als »jüdische Mitbürger« Etikettierten auch ausreichend schützen kann.

Ein moderner Staat basiert auf dem nationalen Konsens über die Größe der industriellen Reservearmee, auf den die Klassengesellschaft im Rahmen von Gewaltenteilung und Meinungsfreiheit sich immer wieder einpendeln muss. Bleibt der Konsens aus, entscheidet der Souverän über den Ausnahmezustand. Als die Lehren aber, die aus der Vergangenheit zu ziehen seien, wurde ausgegeben, dass Asylrecht keine Obergrenzen kennen dürfe. Verdrängt wird damit die Voraussetzung dieses wie jeglichen Rechts: dass der Staat, der es allein garantieren kann, per se auf Ausgrenzung beruht. Zusammen mit dieser Voraussetzung findet sich – und hier liegt die gefährlichste Konsequenz der neuen deutsch-europäischen Ideologie vom Entschwinden des Souveräns – indirekt auch die Notwendigkeit bestritten, die als einzige Lehre den Juden nach der Shoah zu ziehen blieb: Es muss einen eigenen Staat geben, dessen Grundgesetz lautet, dass jeder Mensch jüdischer Herkunft jederzeit einwandern kann. So macht die Flüchtlingskrise nebenher die Gegenprobe auf den Zionismus. Sie führt vor: wer auch immer flüchtet und egal aus welchen Gründen, es bleibt aus seiner Sicht letztlich Zufall, ob er noch Zuflucht in einem anderen Land findet.

Von dieser letzten Konsequenz, dieser ultima ratio aus kann allein Flüchtlingspolitik beurteilt werden. Erst wenn – im Sinne des kategorischen Imperativs nach Auschwitz – der Staat der Juden und nicht der eigene als Priorität gilt, stellt sich die Frage dieser Krise und der Souveränität in Europa wirklich anders als bei Pegida und FPÖ mit ihrem Gegröl und Geblök von Abschottung und Abschiebung. Aber sie ist dadurch auch wesentlich schwieriger zu beantworten – und nicht nur, weil die Aporie zwischen Israel und Diaspora sich nicht auflösen lässt, die im Ernstfall lautet: Was zur Sicherheit Israels beiträgt, trägt nicht unbedingt zur Sicherheit der Juden in Europa bei.  

Durch Abschiebung möglichst vieler Flüchtlinge sich auch des islamistischen Potentials zu entledigen, heißt in den meisten Fällen, es in eine Region zurückzuschieben, wo es die mittelbar oder unmittelbar gegen Israel gerichtete Katastrophenpolitik auf Dauer noch verstärkt. So erweisen sich die Flüchtlingslager der Region als Pflanzstätte antizionistischer Kräfte: Ungehindert können sich hier islamistische NGOs betätigen und zusammen mit Nahrungsversorgung und Waisenfürsorge ihr Bildungsprogramm umsetzen, das im Kern aus Israel- und Judenhass besteht. Doch das Problem betrifft keineswegs nur die Flüchtlingslager selbst, das demonstriert die geänderte europäische Politik gegenüber der Türkei: Je mehr man hier durch neues Entgegenkommen die Flüchtlingsströme einzudämmen sucht, desto weniger Bedeutung kommt noch dem Umstand zu, welche Politik diese Macht im Übrigen verfolgt. Die Bewältigung der Flüchtlingskrise wird so in der Außenpolitik zum Freibrief für die denkbar übelsten politischen Ambitionen – was etwa die Lage der Kurden oder eben Israel betrifft. Dass seit neuestem die IHH – eine Organisation, die in Deutschland wegen Unterstützung der Hamas verboten ist und die schon die Gaza-Flottille von 2010 organisierte – ein Flüchtlingslager an der syrisch-türkischen Grenze eröffnet hat, ist nur die Spitze des Eisbergs.

In Europa wären an sich die Bedingungen noch immer besser, einerseits durch Reeducation unter den Flüchtlingen etwas im Sinne der Aufklärung zu bewirken, andererseits mit sämtlichen zur Verfügung stehenden Machtmitteln gegen jene vorzugehen, die hier den Djihad organisieren wollen – mag sich dabei auch die Linke nicht entblöden, regelmäßig vom nationalistischen oder gar faschistischen Ausnahmezustand zu phantasieren, sobald nur die dringendsten Schritte unternommen werden, die nächsten Anschläge zu verhindern. Dazu die Möglichkeiten polizeilicher und strafrechtlicher Verfolgung auszuschöpfen, hätte freilich die Registrierung der Flüchtlinge beim Grenzübertritt zur Bedingung.

Während aber der Slogan der Kanzlerin »Wir schaffen das« Flüchtlingsaufnahme ohne Registrierung an den Grenzen und mit mangelnden edukativen wie restriktiven Maßnahmen bei der Betreuung decken muss (selbst gegen salafistische Hilfsorganisationen wird nicht effektiv vorgegangen), wirft der Imperativ: dass es zuallererst Israel schaffen können soll, die Frage auf, ob es eine solche Flüchtlingspolitik geben könnte, die konkret zu dessen wirklicher Entlastung beizutragen vermag. Das Naheliegende wäre, religiös motivierte Gewalttäter und Hassprediger eben keineswegs abzuschieben, sondern dafür zu sorgen, dass sie im Immigrationsland ihre Strafe vollständig verbüßen. So wie heute schon bei denen, die Staatsbürger sind, der Versuch der Ausreise nach Syrien geahndet wird, könnten auf diese Weise immerhin vor Ort – da doch, horribile dictu, kein europäisches Guantanamo zur Verfügung steht – Djihadisten außer Gefecht gesetzt und solche, die es womöglich werden wollen, durch Abschreckung und Erziehungsmaßnahmen vielleicht doch noch zur Umkehr bewegt werden. Das würde aber voraussetzen, dass die europäischen Länder bereit wären, gemeinsam zu handeln wie eine Macht, die – den USA in ihren besseren Zeiten vergleichbar – Hegemonie besitzt oder erringen möchte und als solche im Nahen Osten regulierend eingreift. Gerade das ist jedoch nicht der Fall.

Die Beteuerung, Israel sei Teil der deutschen Staatsräson, bleibt ein Lippenbekenntnis nicht so sehr deshalb, weil die Souveränität eines fremden Staats grundsätzlich nur phasenweise Teil der Staatsräson zu sein vermag, sondern weil die deutsche Staatsräson als solche erfahrungsgemäß darin besteht, sich selbst außer Kraft zu setzen zugunsten eines anderen Prinzips: das des potentiellen »Gegensouveräns« (Manfred Dahlmann), der das deutsche Volk heißt und dessen Nutzen zu mehren und von dem Schaden abzuwenden, die Politiker ihren Eid ablegen. Ihm geht es am wenigsten um Hegemonie im klassischen Sinn (siehe hierzu die Diskussion über den »Euro und seinen Staat« in sans phrase 7/2015). Das Bedrohliche zeigt sich also nicht darin, dass Deutschland, nach landläufiger antideutscher Auffassung, Hegemonie anstrebt wie die USA – dann würde es ‚Vereinigte Staaten von Europa‘ wohl schon geben – sondern dass Deutschland sie nicht anstrebt und eben dadurch expandiert und überall mitmischt. In Gestalt der EU hat dieses Bedrohliche seine neue äußere Form gefunden, und in ihr betreibt der deutsche Staat an der Spitze der nur ephemer widersprechenden EU-‚Mitregenten‘ das Appeasement gegenüber dem Iran-Regime oder die Strategie der Nichtintervention in Syrien: Er forciert kontinuierlicher als jeder andere der westlichen Welt die Katastrophenpolitik. Deren innere Massenbasis zeigt sich in diversen Umfragen zur Meinung über Israel oder, wenn man einen Blick auf die Horden der Pegida wirft. Auf dieser Basis können abermals die »Reserven zur Herstellung des allgemeinen Chaos« mobilisiert werden, die Karl Kraus schon vor dem Ersten Weltkrieg als Reserven der apokalyptischen Tendenz deutscher Ideologie ausmachte. Und so gesehen erscheint es bereits wie eine konzertierte Aktion, wenn – à la Merkel – die Grenzen für Flüchtlinge ohne Registrierung geöffnet und – à la Seehofer (und Mikl-Leitner) – Djihadisten ohne Verfahren wieder an ihre für Israel gefährlicheren Einsatzorte verbracht werden.

Nicht nur, dass demgegenüber die Rede von der Islamisierung Europas unfähig macht, die Flüchtlinge als Einzelne noch wahrzunehmen, sie hat selbst auch etwas contre cœur Verharmlosendes, soweit sie nahelegt, auf diesem Boden könnte ein stabiles Kalifat quasi nach alter Tradition, etwa mit Dhimmi-Status für Nichtmuslime, wiedererstehen. Die pure Entfesselung der Gewalt um ihrer selbst willen, die stattdessen droht, kommt nicht zuletzt daher, dass ein solches Herrschaftsgebilde unter modernen Bedingungen eben keineswegs mehr möglich ist. Es fungiert als bloßes Deckbild nicht nur für viele kleine kriminelle ‚Kalifate‘ inmitten der Rechtsstaaten – wie No-go-Areas in den Städten oder ‚mildernde Umstände’ vor Gericht, wenn Untaten von der Sharia motiviert sind –, sondern vor allem für fortgesetzte terroristische Aktivitäten. Dieses »allgemeine Chaos« in Europa bietet aber seinerseits mehr und mehr Sukkurs für die Kriege der Terror-Rackets im Nahen Osten, bei denen die künftige Atommacht Iran nur noch die beste Gelegenheit zum finalen Schlag gegen das »zionistische Krebsgeschwür« abwarten muss.

Zum Thema dieses Artikels erscheint im Juni in der Zeitschrift sans phrase (8/2016) ein umfassender Text des Autors.

Gerhard Scheit lebt als freier Autor in Wien. Er ist Mitbegründer der ideologiekritischen Zeitschrift sans phrase und veröffentlicht zu zahlreichen Themen aus dem Umkreis der Kritischen Theorie, darunter besonders zur Kritik der politischen Gewalt, der Kritik der politischen Ökonomie und der Kritik des Antisemitismus. Im August 2022 erschien sein neues Buch »Mit Marx. 12 zum Teil scholastische Versuche zur Kritik der politischen Ökonomie« im ça ira-Verlag.