Die schmale Linie zwischen Chaos und Kosmos

Philip Hautmann hat zwei neue Bücher geschrieben. Im Interview erzählt er über die Abbildung der Realität und die Mittel einer kontrollierten Aleatorik – soll auch heißen: über Chaos, Zufall und ein ebenso intensives wie rätselhaftes Leuchten.

Nach seinem vielgelobten Roman »Yorick – Ein Mensch in Schwierigkeiten« hat Philip Hautmann die Romanform weitgehend hinter sich gelassen und die sprechenden Titel seiner neuen Bücher auch in relativ unkategorisierbare textliche Formen gegossen: Sowohl »Der uninterpretierbare Traum« als auch »Das Buch vom seltsamen und unproduktiven Denken« stellen Überlegungen, Bewusstseins- und Sprechströme an, die frei flottieren – zwischen Kosmos und Chaos.

»Der uninterpretierbare Traum« ist die Geschichte von Rompf. Diese bewegt sich, so schreibst du eingangs: »[…] entlang jener Linie, diesseits derer der Kosmos und jenseits derer das Chaos liegt. Das Wichtigste, das es zu verstehen gibt, ist, dass der Geist zunächst dem Raum selbst gleicht, das Ego hingegen einer Krümmung, einer Schwerkraft, unter deren Wirkung alle Ausformungen des Geistes abgelenkt und nach innen gezogen werden, hin in das endliche Zentrum unseres pathologischen Verhaltens […]«. Du stellst also diese größtmöglichen Gegensätze her – Kosmos, Chaos. Außerdem legst du als weiteren Gegensatz Geist und menschliches Ego an.

Nachdem mein erster Roman »Yorick« inhaltlich ziemlich umfangreich war, obwohl ich vorher nie Literatur geschrieben habe, bin ich nachher vor dem großen Problem gestanden, was ich als nächstes mache. Dann sind mir diese zwei Sätze im Traum erschienen: Ich möchte die Geschichte von Watt erzählen. Die Geschichte von Watt bewegt sich entlang jener Linie, diesseits derer der Kosmos, und jenseits derer das Chaos liegt – ich habe im Traum Becketts »Watt« gelesen, der in Wirklichkeit anders anfängt. Da habe ich gewusst: Mit diesen beiden Sätzen, immerhin, soll der Nachfolgeroman anfangen.

Man kann sagen, die Linie zwischen Chaos und Kosmos ist die Bewegung der frei flottierenden Kreativität. Archaisches Auftauchen von Ideen oder Impulsen aus einem dunklen Grund, die dann die Grundlage für eine Architektonik bilden. Die, wenn die Bewegung sehr kreativ ist, in sich wandelbar ist und sich selbst transformiert. Man kann auch sagen, das ist die grundlegende Bewegung alles Schöpferischen in der Welt, evolutionär gesehen als auch kosmologisch. In der Nachzeichnung eines solchen kreativen Prozesses erscheint auch die Nachzeichnung der großen Prozesse in der Welt möglich.

Zweitens habe ich dann festgelegt, dass die Figur nicht Watt sondern Rompf heißen wird, eine Anlehnung an den Namen Roman. Im weiteren Nachdenken dann eben der Satz mit dem Gegensatz zwischen Geist und Ego. In »Yorick« war ja zentrales Thema die Gefängnishaftigkeit der menschlichen Subjektivität, das tragikomische Kreisen der Menschen um sich selbst und um das, was man Ego nennt. Eine Abrechnung also mit der menschlichen Unvollkommenheit. Es ist eines meiner zentralen Themen, wie sich menschliche Unvollkommenheit beseitigen lässt. Das ist mein zentrales ethisches, philosophisches Thema. Das Thema des Romans ist die Überwindung des Egos durch die Hinwendung zur Moral, die Zuwendung zum Mitmenschen, zum Kosmos.

Bei einer Lesung zuletzt hast du von Energie und Entropie gesprochen. Entlang dieser Linie lässt du sämtliche Erkenntnis- und Erfahrungssyssteme aufeinander treffen – Kunst, Wissenschaft, Intellekt, Innen, Außen, lichte Höhe, Abgrund. Was passiert nun, auch hinsichtlich dessen, dass sich am Ende die Anfangssätze wiederholen, um hinzuzufügen: »All das Leben eine Traum, uninterpretierbar«. Mir kommt vor, der Text erzählt quasi von einer einzigen Krümmung und Ablenkung nach innen – in ein gleichsam traumhaftes System?

Ich habe festgelegt, der letzte Satz soll »All das Leben ein Traum, uninterpretierbar« lauten. Über diese Grundelemente habe ich mir eingebildet, dass ich sozusagen ein Koordinatensystem habe, über das sich ein Raum aufspannen lässt, in dem Dinge passieren, ein Universum letztendlich. Über den Traum erweitern sich die Möglichkeiten, die Realität darzustellen. Umgekehrt lässt sich dann der phantasmatische, magische, mystische, hintergründige Charakter der Realität widerspiegeln. Ja, es ist mir darum gegangen, das Buch als ein grundsätzliches System zu errichten. Das Schreiben und die Abbildung der Realität über das Mittel einer kontrollierten Aleatorik.

Ich möchte Rimbaud heranziehen, den du zuletzt bei einer deiner Lesungen sinngemäß zitiert hast, nämlich dass der Dichter ein Seher sein soll. Dies ist damit wahrscheinlich auch eine Frage nach dem metaphysischen Künstler. Oder nach dem Zusammenhang zwischen Kunst, Geist, Metaphysik und Transzendenz.

Rimbaud hat die Losung ausgegeben, der Dichter solle »Seher« sein, ja. Man kann sagen, oder ich stelle mir das so vor, einer der tief ins Universum schaut, um neue Objekte zu entdecken, beziehungsweise um neue, tiefere Einblicke zu erhalten, wie das Universum funktioniert. Das ist also eine metaphysische Bewegung, die es ja in der Dichtung immer gegeben hat. Baudelaire hat sich so ausgedrückt, man müsse versuchen, auf den Grund des Unendlichen zu blicken und neue Formen heraufschleudern. Paul Claudel, bei dem ich das gelesen habe, hat dagegen opponiert, ich glaube, seine Position war, Dichtung habe den Alltag und die Menschenwelt darzustellen. Claudel war Katholik, sein Grundthema war, als Genie, ein ethisches: der Mensch, der sich der guten Sache opfert. Indem er Katholik war, war für Claudel sozusagen der metaphysische Rahmen klar. Ein »gottloser« Metaphysiker will jedoch in einer anarchischen Bewegung in die Dinge eindringen, um ihren Wert zu ermitteln, und um ihnen Glanz zu verleihen. Rimbaud war, wie Kafka oder Beckett, einer, bei dem man das Gefühl hat, er arbeitet an der letzten Schicht, direkt am Geheimnis der Dinge. Über diese Bewegung des metaphysischen Sehens will man hinter das Geheimnis der Dinge kommen. Ergebnis ist dann eine Dichtung, die ebenso intensiv wie rätselhaft leuchtet.

»Das Buch vom seltsamen und unproduktiven Denken« handelt auch vom Genie. Um nicht zu sagen, die zentrale Auseinandersetzung ist eine mit dem Genius und seinem »seltsam unproduktiven« und natürlich auch produktiven Denken. Du beschreibst das Außergewöhnliche sozusagen fast in Geiselhaft der Durchschnittlichkeit. Mir scheint außerdem, auch Genies sind nicht unbedingt frei von der »Krümmung des Egos«, das den Geist psychopathologisch nach innen zieht. Aber hier die Frage: Wenn Intelligenz und Genie nun innere Kategorien einer persönlichen Veranlagung darstellen – welche Rolle spielen deiner Meinung nach Glück und Zufall, also Kategorien der äußeren Welt, für eine Verwirklichung des Geistes?

Wie gesagt, scheint mir das zentrale Thema meiner Bücher zu sein, wie sich menschliche Unvollkommenheit überwinden lässt. Da landet man schließlich beim Genie, beim Heiligen (dem ethischen Genie), dem Buddha, dem Übermenschen als Gipfelpunkt der menschlichen Existenz, beziehungsweise Kategorien, die über das Menschliche tatsächlich hinausgehen. Große Geister und Künstler mögen ein großes Ego haben und manch Erleuchteter vom Erleuchtungsdünkel erfüllt. Ich finde so was, bestenfalls, schade. Daher beschäftige ich mich mit dem, was ich (einstweilen) transzendentes Genie nenne, das den Gipfelpunkt der Intelligenz, der Kreativität und der Gewissenhaftigkeit und des Anti-Egozentrismus darstellt.

Große Genies hatten meistens dort, wo das Ego sitzt, eine Art Leerstelle, man denke an Einstein. Wittgenstein als das andere exemplarische Genie des 20. Jahrhunderts hat das Ego aktiv bekämpft. Wenn man Wittgenstein, Beckett oder van Gogh betrachtet, so ist die Art, wie sie ihr Leben gelebt haben und wie sie sich verhalten haben, ebenso bedeutsam wie ihr Werk. Es hat sich bei ihnen um Heilige gehandelt. Eine Frau, die Kafka gekannt hat, hat gesagt, dieser scheinbar hochneurotische und schlecht funktionierende Mensch sei der einzige Mensch gewesen, der so gedacht hat, wie ein Mensch eigentlich denken soll und so empfunden hat, wie ein Mensch eigentlich empfinden soll. Die eben genannten waren so ungewöhnlich, als Geister wie als Menschen, dass sie mit der Menschheit eigentlich kaum mehr was zu tun haben. Große Geister oder »immanente« Genies stehen meistens in einem Widerspruch zur Gesellschaft, arbeiten dabei an den Widersprüchen der Gesellschaft und versuchen sie zu beseitigen. Transzendente Typen stehen eher in einem Widerspruch zur Menschheit insgesamt.

Auf die Frage, inwieweit äußere Umstände eine große Rolle für die Verwirklichung des Genies spielen, kann man wohl sagen, dass ein Genie eine so hohe Intensität hat, dass sie sich früher oder später im Leben ihre Bahn bricht und sich in einem Werk oder sonst einem exemplarischen Ausdruck verwirklicht. Ein Genie ist jemand, der Werte schaffen will, der über sich hinaus schaffen will, und das auch tut. Was oftmals mit einem irregulären Lebensweg oder der Notwendigkeit einer längeren Reifezeit einher geht, da ein komplexer Verstand nicht institutionalisierbar ist und letztendlich auch nicht institutionalisiert sein will. Unabhängig davon gibt es Genies, die kaum bekannt sind, entweder weil das, was sie gemacht haben, für den überwiegenden Großteil der Menschen tatsächlich unverständlich ist, oder sie zu abgründig und zu deviant waren. Wer kennt schon Giacinto Scelsi oder Galina Ustwolskaja, Thomas Traherne oder Fariduddin Attar? Oder weiß, dass die Frage nach dem Sinn des Lebens von dem allgemein geschmähten Otto Weininger beantwortet wurde?

Mehr Informationen zu den Neuerscheinungen: philiphautmann.at

Philip Hautmann