Angst ist nicht zielführend

Wie Deutschland angesichts der Flüchtlingskrise den »konstruktiven Journalismus« für sich entdeckt.

Im Dezember 2015 ist der Iraner Mohammadreza Madadi als Flüchtling nach Deutschland gekommen. Gemeinsam mit seinem Landsmann Hamidreza Pirghasemi wurde er in Berlin im Hangar des ehemaligen Flughafens Tempelhof untergebracht. Weil beide, wie zahlreiche andere Migranten auf dem Flughafengelände, bereits in ihrem Herkunftsland vom Islam zum Christentum konvertiert waren und von dieser Entscheidung auch durch tätowierte christliche Symbole und Bibellektüre öffentliches Zeugnis ablegten, sahen sie sich zunehmend Drohungen, Beschimpfungen und tätlichen Angriffen seitens islamischer Mitinsassen ausgesetzt. Regelmäßig wurden sie an der Essensausgabe drangsaliert, als Ungläubige diffamiert, mit Gegenständen beworfen oder bespuckt. Nachdem am 12. Februar 2016 eine Gruppe christlicher Flüchtlinge in Tempelhof während des Bibellesens von Muslimen umringt, beleidigt und attackiert worden war, wobei nur durch die zufällig im Gebäude anwesende Polizei Schlimmeres verhindert werden konnte, brachte die Berliner Boulevardzeitung B.Z. einen Bericht über die Vorfälle, in dem auch Madadi zu Wort kam.

Daraufhin erhielt der Iraner Besuch von Sascha Langenbach, Pressesprecher von Mario Czaja (CDU), dem Berliner Senator für Soziales. Langenbach versprach Madadi und Pirghasemi im Auftrag des Senators die Bereitstellung einer »sicheren Unterkunft«, allerdings nur unter einer Bedingung: »keine Interviews mehr mit Journalisten vom Fernsehen oder der Zeitung«. In die angebotene Unterkunft in der Tempelhofer Colditzstraße konnten beide zwar nicht einziehen, weil sie wegen zu langer Wartezeiten abgewiesen und umgehend wieder zurück aufs Flughafengelände geschickt wurden. Immerhin aber haben die Iraner gelernt, dass deutsche Migrationspolitiker mittlerweile selbst dann, wenn ihre Partei die Berufung aufs Christentum im Namen trägt, bereit sind, gegen Christen und andere nichtislamische Minderheiten mit dem islamischen Mob zu kollaborieren, sofern die Aufrechterhaltung des Scheins zwangloser Multikulturalität es nötig macht. Statt ihnen zu ihrem wachen Bürgersinn und ihrem selbstbewussten Umgang mit den Medien zu gratulieren, stempelte Langenbach Madadi und Pirghasemi gerade wegen ihrer offenkundigen Assimilationsfähigkeit zum Integrationshindernis, indem er seine Abmahnung gegenüber dem Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) mit den Worten rechtfertigte, er habe »den Betroffenen zu vermitteln versucht, dass die bloße Kommunikation mit der Presse zur Lösung ihres Problems hier wenig zielführend ist«.1

Die solcherart wie Kleinkinder Abgekanzelten konnten das Quartier im Tempelhofer Flughafen trotz der kommunikationsbeflissenen Ignoranz der verantwortlichen Politiker bald verlassen. Da sie in der ihnen versprochenen »sicheren Unterkunft« abgewiesen worden waren und zwischenzeitlich bekannt geworden war, dass eine Gruppe muslimischer Männer aus Afghanistan sich in einem Duschraum des Tempelhofer Hangars über Pläne zum Mord an christlichen Flüchtlingen unterhalten hatte, nahmen die Iraner ein Angebot von Gottfried Martens, Pfarrer in der evangelisch-lutherischen Dreieinigkeitsgemeinde Berlin-Steglitz, an und zogen in eines der Privatquartiere, die Martens christlichen Flüchtlingen angesichts der akuten Bedrohung zur Verfügung stellte.2 Die Hetze gegen Christen, Homosexuelle und andere nichtislamische Minderheiten in den Flüchtlingslagern, die kommunale Behörden verharmlosen und manche Helferverbände offensiv leugnen, wird unter den Angehörigen der sogenannten Zivilgesellschaft am deutlichsten von den christlichen Kirchen als Problem benannt.
Dass Madadi mit seinen Erfahrungen in der B.Z. zu Wort gekommen ist, verdankt sich, anders als ein notorischer linker Reflex unterstellen könnte, keiner besonderen Affinität des Boulevards zu den Vorlieben des Volksmobs, sondern der Tatsache, dass in Deutschland am ehesten die »Springer-Presse« ein Restgespür für die Bedrohung bewahrt hat, die von der Zuwanderung mehrheitlich islamischer Muslime für die Minderheit nichtislamischer Flüchtlinge ausgeht. Das allen »Springer«-Redakteuren verordnete Gebot, über Israel freundlich zu berichten und gegenüber Antisemitismus, von welcher Seite er auch immer ausgeht, Unerbittlichkeit zu zeigen, dürfte zu diesem Gespür ebenso beigetragen haben wie die an sich wenig sympathische Tradition des Enthüllungsjournalismus, der in plakativer Form nicht nur angebliche, sondern manchmal eben auch tatsächliche Tabus bricht. Doch die populistisch-investigative Berichterstattung, die durch massenwirksamen Verstoß gegen allerlei Schweigekartelle das kollektive Bedürfnis nach Skandal stillt, ist zum überholten Kommunikationsmodell geworden, seit unter der Ägide einer ostdeutschen evangelischen Pfarrerstochter nahezu alle Unterschiede zwischen Bürgertum, Linken und Grünen zum Verschwinden gebracht worden sind. An die Stelle des Skandaljournalismus ist seither der »konstruktive Journalismus« getreten3, der in Dänemark und Schweden bereits weitgehend öffentlich-rechtlicher Konsens ist und auf den sich auch in Deutschland Bundesregierung und Qualitätsmedien spontan geeinigt zu haben scheinen.

Langenbachs Ansage an die bedrohten Migranten, über die Lebensgefahr, in der sie schweben, allenfalls nach vorheriger Abstimmung mit der Staatsmacht öffentlich Bericht zu erstatten, bringt die Prinzipien des »konstruktiven Journalismus« trefflich auf den Punkt. Dessen Ideal ist die organische Verschmelzung von Staatsbürgern, staatlichem Souverän und vierter Gewalt, die anders als in totalitären Staaten, wo Bürger und Medien sich den Imperativen des Souveräns unterzuordnen haben, freiwillig und gleichberechtigt die gern kontroverse, aber immer widerspruchsfreie Einheit der Unvernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen zu artikulieren haben. Flüchtlingen, die das Versprechen des westlichen Liberalismus beim Wort nehmen, obwohl sie noch gar keine Staatsbürger sind, und die sich eigenmächtig der Agenturen bürgerlicher Öffentlichkeit bedienen, um darauf hinzuweisen, dass ihr Leben im Asyl zur Fortsetzung ihrer Verfolgung zu werden droht, muss das Prinzip konstruktiver Kritik notfalls mittels Erpressung beigebracht werden. Das ist Aufgabe des Pressesprechers, der als schmierig-autoritärer Moderator zwischen Staat, Zivilgesellschaft und Medien eine Leitfigur des »konstruktiven Journalismus« ist.

Das Bedürfnis nach kontroverser Mitmache, das sich im »konstruktiven Journalismus« institutionalisiert, verkörpert sich nirgends so rein wie in den Moderatoren und Kommunikatoren, die die Verschmelzung von Anbiederung und Propaganda, Streitgespräch und Marschbefehl als Beruf praktizieren. Demagogieautomatinnen wie Sandra Maischberger und Anne Will, die jeden sich am Horizont konstruktiven Gelabers abzeichnenden Gedanken sofort abschießen und jedem Widerspruch gegen den vorausgesetzten zivilgesellschaftlichen Konsens mit harscher Kultursensibilität ins Wort fallen, sind die wahren Vorkämpfer jener Autoritätssucht und Demokratiefeindlichkeit, zu deren Avantgarde desperate Figuren wie Beatrix von Storch mit sichtlicher Mühe, aber ohne großen Widerspruch stilisiert werden. Richtlinie des »konstruktiven Journalismus« ist nicht die Wahrheit, nicht einmal die im Enthüllungsjournalismus noch irgendwie maßgebliche Wirklichkeitstreue, sondern allein das neudeutsche Gemeinwohl, zu dem seit seiner Renovierung in Folge der sogenannten Flüchtlingskrise endgültig der Islam gehört.

Dass die angesichts der permanent beschworenen Gefahr des Rechtspopulismus dekretierte Islamfreundlichkeit, die einziger Inhalt der kommunikativen Lockerungsübungen des »konstruktiven Journalismus« ist, nichts mit Weltoffenheit oder Fremdenfreundlichkeit zu tun hat, sondern mit der kollektiven Jagd auf Volksschädlinge bestens vereinbar ist, beweisen Maischberger, Will oder Frank Plasberg, dessen Talkshow »Hart aber fair« den autoritären Antiautoritarismus der konstruktiven Medienformate schon im Titel trägt, regelmäßig aufs Neue. Dort kann stundenlang im Tonfall von Stammtischfachleuten über Abschiebequoten, Asylantenkriminalität und Sozialschmarotzertum räsoniert und im gleichen Atemzug von den »Herausforderungen« geschwärmt werden, vor die Deutschland durch die in den Flüchtlingen verkörperten »anderen Kulturen« gestellt werde. Ein Widerspruch ist das deshalb nicht, weil mit den »anderen Kulturen« nie Sinti und Roma oder vor islamischer Verfolgung flüchtende Gruppen wie Aleviten und Jesiden gemeint sind, sondern immer nur die eine Kultur, die sich mit der deutschen im unbedingten Wunsch nach Unterwerfung alles Artfremden einig fühlt.

Außerdem nehmen an den konstruktiven Streitgesprächen der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit immer auch ein paar Quertreiber teil, deren kommishafte Zurechtweisung durch den Moderator, dessen Funktion entgegen seinem Namen nicht mehr die Abmilderung von Widersprüchen, sondern die kontroversenreiche Erzwingung des vorab entschiedenen Konsenses ist, den eigentlich Zweck der Sendung bildet. Bei der Maischberger-Sendung vom Mai zum Thema »Mann, Muslim, Macho – Was hat das mit dem Islam zu tun?« war das neben Alice Schwarzer der frühere Nordafrika-Korrespondent Samuel Schirmbeck, der für seine Berichte über den geschlechterpolitischen Alltag in islamischen Ländern von der Moderatorin in die Nähe der »Alternative für Deutschland« gerückt wurde.4 Als autochthonen Muslim hatte man Murat Kayman vom durch die Türkei finanzierten islamischen Religionsverband Ditib gecastet, der Schirmbeck unwidersprochen Biologismus und fremdenfeindliche Verallgemeinerungen vorwerfen konnte.

Die Kölner SPD-Politikerin Lale Akgün, von der Kayman wegen ihrer Kritik am islamischen Männerbild nach den sexuellen Übergriffen in Köln in einem Blogbeitrag ebenfalls insinuiert hatte, sie bediene rechtspopulistische Ressentiments5, war nicht eingeladen. Und natürlich auch nicht Madadi, Pirghasemi oder einer ihrer Leidensgenossen, deren tägliche Angst mit den Prinzipien des »konstruktiven Journalismus« nicht vereinbar ist. Denn dem geht es, wie der Leipziger Journalistikdozent Uwe Krüger es ausdrückt, ja gerade darum, vom »problemzentrierten Journalismus« wegzukommen, und die »Aufmerksamkeit nicht nur auf Probleme und Missstände, sondern (!) auf Menschen und Projekte« zu lenken, »die etwas ändern wollen«.6 Man könnte auch sagen: Sein Ziel ist die Förderung von schöpferischer statt von zersetzender Intelligenz. Und die wird nun einmal durch Leute wie Maischberger und Kayman besorgt, während Lale Akgün und Mohammadreza Madadi zwar auch irgendwie Menschen, vor allem aber problemzentrierte Missstände sind.