Die Charakterfrage – Karl Kraus in schlechter Gesellschaft?

Zum 80. Todestag von Karl Kraus scheint es gebotener denn je, ihn gegen seine Liebhaberinnen und Liebhaber zu verteidigen. Richard Schuberth führt dies in seiner Würdigung vor Augen.

»Mit schülerhaftem Übereifer taten die Krausianer dem Meister und einander kund, dass sie all seine Anspielungen verstanden und willig waren, über jede zu lachen, die an ihren Spott appellierte.«
Manès Sperber

»Wenn ich einmal die ‚Fackel‘ beschließe, eröffne ich mein ‚Museum der Dummheit‘, das ich mir dank einem täglichen Briefeinlauf seit acht Jahren angelegt habe. Dann erst beginnt mein Kampf gegen die wahre öffentliche Meinung, deren schwaches Zerrbild das Zeitungswesen darstellt.«
Karl Kraus, Mai 1907

Wer wie Karl Kraus die Dürftigkeit der geistigen Welt attackierte, übte auch Faszination auf die geistige Halbwelt aus, und wenn er den Seidendekor von der schmutzigen Realität riss, so galt der Angriff nicht der Seide, was das Halbseidene nicht hinderte, hinter ihm, der verlässlich dessen bessere Konkurrenz bekämpfte, Stellung zu beziehen.
Kraus wusste, dass sein satirisches Strafgericht auch ein Magnet für allerhand Gesindel war, das oft weit unter den Objekten seiner Kritik stand, und das sich voyeuristisch an der Züchtigung ergötzte, ohne den Gedanken zu erfassen, den jeder Peitschenhieb bedeutete, und das mit schmierigem Behagen dann auf die strauchelnden Opfer trat. Leicht konnten Fackel-Abonnenten in eingebildeter Größe schwelgen, wenn ihr Django auf das intellektuelle Establishment eindrosch und auch Schnitzler, Rilke, Freud und Friedell nicht verschonte. Viele seiner Fans waren von Ressentiments, antiintellektuellen und antimodernistischen Impulsen geleitet und mit allen Eigenschaften ausgestattet, die Adorno ein halbes Jahrhundert später dem autoritären Charakter attestieren sollte, der in der »vermeintlichen Allmacht bedeutender Personen Ersatz für die eigene soziale Ohnmacht« sucht. Auch in ihnen brach sich jenes kollektive Bedürfnis der Unterordnung unter den souveränen Herrenmenschen Bahn, das von ähnlicher Art ist wie die Vergötzung des Popstars oder faschistischen Führers, des Über-Individuums, das entweder von der eigenen Individuation dispensiert oder an dessen geistiger Autorität die eigenen Allmachtsphantasien parasitär mitnaschen; Verherrlichung von Größe, um klein bleiben zu dürfen. Das spaßkulturelle Abschälen des bösen Witzes von seinem humanistischen Körper, sodass bloß Zynismus bleibt von dem, was als Sarkasmus gedacht war, und die feig-sadistische Freude des kleinen Hendls, wenn ein größeres tranchiert wird. Die faschistoide Begeisterung für den »einsamen Rächer«, der aufräumt mit dem Dreck, von dem frei zu sein schon das hussende Verstecken hinter seinem Rücken verspricht.

Ächtung des Anbiederers, Achtung des Gegners

Bis zum Ersten Weltkrieg missverstanden die Sozialisten Karl Kraus als ihren Hoffnungsträger, Kulturkonservative als Verteidiger alter Werte und Säuberer vom Dreck der Moderne. Dabei erfassten sie die Dialektik seiner Methode nicht, die das Alte und das Neue nicht gegeneinander ausspielte, sondern am je eigenen Missverhältnis zwischen Anspruch und Praxis maß, um, was der Prüfung standhielt, zu vereinen. So kam es eher vor, dass er den eingebildet Progressiven den künstlichen Dreck von der Fratze wischte und den wahren Dreck einer restaurativen Gesinnung aufspürte, welche die Werte der Weimarer Aufklärung gegen die einer künstlerischen Moderne missbrauchte. Der Unterschied zwischen ihm und der Reaktion lag darin, dass diese die zeitgenössische geistige Welt als ein Sammelbecken von Emporkömmlingen verachtete, er aber, weil sie sich wie ein solches verhielt.
Die Kritik des Unorganischen, Wurzellosen, Modernen aber landete unweigerlich beim Juden und zielte selbst ohne antisemitisches Bekenntnis in dessen Richtung – davon zu distanzieren hatte Kraus dann doch einige Jahrzehnte gebraucht. Und nur seinem Unwillen zum weltanschaulichen Bekenntnis zum einen, der Autorität seiner Sprachkritik zum anderen verdankt er, dass die anfänglich konservativen und elitären Anteile seines Wesens seinem Andenken dann doch nicht schadeten, denn er hatte nach der Erschütterung durch den Weltkrieg nicht etwa die Seite zu einem linken Weltbild gewechselt, sondern die Schwerpunkte eines Programms, das sich all die Jahre hindurch treu geblieben war, bloß dorthin verlagert.
Die Dürftigkeit seiner Anhängerschaft aber lieferte seinen Hassern, die in seinen Polemiken bloß Hass, nicht aber Motiv, Form und Kunst wahrnahmen, ein weiteres Angriffsziel, deren er bereits so viele in sich vereinte, dass es auf eines mehr nicht ankam.
Man versuchte ihn als jemanden hinzustellen, der den Leumund verdienter Männer zerstöre und sich dafür in der Anerkennung der Unverdienten suhle. Arthur Schnitzler notierte 1912 in sein Tagebuch: »Doch wo hat er anerkannt, gelobt, gefeiert, wenn man von den persönlichen Bekannten absieht und denjenigen, die ihn feiern?« Oft hat er das getan. Obwohl es nicht das Geschäft des Kritikers ist, hat Kraus die Vorzüge der von ihm geschätzten Zeitgenossen nicht nur gepriesen, sondern exemplarisch analysiert, und nicht etwa, weil sie seine Freunde waren. Viele von ihnen, zum Beispiel Wedekind, Lasker-Schüler, Trakl und Krenek wurden erst nach seinem Lob seine Freunde, Rosa Luxemburg hat er nach ihrem Tod »anerkannt, gelobt, gefeiert« – Maximilian Harden und anderen aber hat er die Freundschaft aufgekündigt, sobald ihre Sprache diese nicht länger möglich sein ließ.
Nicht nur missverstanden hat Schnitzler Kraus, der ihn im Vergleich zu anderen Kollegen doch recht sanft tadelte. In seinem Roman Der Weg ins Freie zeichnete er im Kritiker Rapp eine sehr gehässige Karikatur von Kraus, und dennoch traf er das Wesen der schöpferischen Destruktion ganz gut, wenn er Rapp auf die Frage, warum er nur die »Nichtigkeit von Nichtigkeiten« nachweise und nicht zur Abwechslung einmal »die Herrlichkeit der Herrlichkeiten« preise, antworten lässt: »Wozu? (…) Die beweist sich selbst im Laufe der Zeit. Aber die Stümperei erlebt meist nur ihr Glück und ihren Ruhm, und wenn ihr die Welt endlich auf den Schwindel kommt, hat sie sich längst in ihr Grab oder (…) in ihre vermeintliche Unsterblichkeit geflüchtet.«
Falsch aber ist Schnitzlers Tagebuchunterstellung, Kraus lobe nur, wer ihn feiere. Dass dieser in der Fackel in einer eigenen Rubrik jede positive Zeitungsmeldung über sich abdruckte, war ein Korrektiv einer medialen Öffentlichkeit, die die seine unterdrückte, indem sie ihn totschwieg. Heute gilt so etwas als Selbstverständlichkeit der Eigen-PR und als fahrlässig, darauf zu verzichten.
Kraus’ Prinzipientreue war flexibel genug, nicht Prinzipienreiterei zu werden, und doch nicht ausreichend dehnbar, um Prinzipien an den persönlichen Vorteil zu verraten oder in Schmeichelei zu schwelgen. Er beantwortete in der Regel keine Fanpost, es sei denn, es handelte sich um für seine Sprach- und Moralkritik exemplarische Lehrbeispiele, und da wurden auch Anbiederungen öffentlich viviseziert.
Es ist wahrscheinlich nicht mehr nachzuvollziehen, was es bedeutet, sich die gesamte geistige Geschäftswelt zum Feind zu machen und gleichzeitig falscher Freunde zu erwehren. Doch auch diese Aufgabe meisterte Kraus. Denn es war ihm gelungen, die Gesetzmäßigkeiten der Sozialpsychologie, die ihn ohnehin nichts anging, zu durchbrechen. Während andere ihre persönliche Integrität, die Vorstellung eines einigermaßen funktionierenden Ichs, nur in der sozialen Anerkennung durch ihre Umgebung und der Anerkennung von deren sozialen und kulturellen Werten herstellen, erkannte Kraus diese wechselseitige Bestätigung als vom Ungeist infiziert. Die Plazenta, die seine Integrität nährte, war eine radikale Wahrhaftigkeit, die heutzutage nicht mehr anders denn als selbstgerecht erfahren würde. Seit Kraus’ Zeiten hat sich der narzisstische Charakter einer Gesellschaft von Scheinindividualitäten und Freiheitssurrogaten in einem Maße verstärkt, dass die wohl größte Charakterfestigkeit, die sich vorstellen lässt – eine Freundschaft einer Sache, persönliche Anerkennung der Wahrheit zu opfern –, als größter Charakterdefekt erscheint.

Skorpione für das Publikum

Kraus wusste genau, wann er sein Publikum zu verachten, wann zu lieben hatte. Der israelische Literaturwissenschaftler Werner Kraft: »Aus dem notwendigen Missverhältnis des Publikums zu einem satirischen Schriftsteller, der es mit seinem Witz dämonisch anzog, ohne dass jemand den Ernst, dem dieser Witz entsprang, zur Kenntnis nahm und auf sich selbst bezog – aus diesem Missverhältnis ergab sich die Notwendigkeit, dieses Publikum mit Skorpionen zu züchtigen.«
Auf der Bühne spürt der Entertainer genau, was das Publikum spürt und was nicht, und so wie Kraus die verständige Aufmerksamkeit der Marinekadetten von Pula sowie der roten Arbeiter von Wien dankbar anerkannte, scheute er nicht davor zurück, seine Verachtung für einen dummen Fankult kundzutun: »Ich kann nicht mehr unter dem Publikum sitzen. Diese Gemeinschaft des Genießens und Intimität des Begreifens, dieses Erraten der Gaben und Verlangen der Zugaben, dieses Wissen um den Witz und dieses Nichtwissen, dass sie damit noch nicht den Autor haben, dieses Verständnis und Einverständnis — nein, ich könnte es bei meinen Vorlesungen nicht aushalten, wenn ich nicht oben säße.«
Doch für seine Feinde ist es einerlei: Die Gier nach Applaus wie die Unbeeindrucktheit darüber – beides wäre ja doch untrüglicher Beweis seiner Eitelkeit, denn der Unerwünschte kann sich in entgegengesetzte Richtungen biegen, kann Gutes und kann Böses tun, es nützt ihm nichts, das Urteil ist bereits gefällt: Wir wollen dich nicht. Diese grausame Ausweglosigkeit ist übrigens Essenz des Antisemitismus und auch des in dessen Geist entstandenen jüdischen Humors: jene schmerzliche Fähigkeit, die Systematik der eigenen Diskriminierung zu durchschauen, ohne sie beeinflussen zu können, denn Aufklärung zieht noch mehr Hass auf sich und wird zur Not auch zum Rassemerkmal des Unerwünschten: Nur das Lachen bleibt als lecker Rettungsring. Kraus wollte sich nicht auf den Witz als passive Selbstbefreiung beschränken, er schleuderte Witz wie Ninjasterne, um das, was er – mitunter naiv, auch altmodisch – als das Gute, Schöne, Wahre empfand, aus den Klauen von Verdinglichung, Vermarktung und Verbürgerlichung zu befreien. Die heroische Wildwestdramaturgie dieses Einmannkampfes fällt sogar in eine Zeit, in welcher der amerikanische Westen gerade aufhörte, wild zu sein, Mitteleuropa aber umso wilder wurde, und die von Kraus unermüdlich aufgedeckte Erniedrigung der Sprache sich als das große Manöver zu erkennen gab, dem die systematische Erniedrigung der Menschen folgte, in einem ersten Probelauf im »technoromantischen Abenteuer« des Weltkrieges, und schließlich im Naziterror, den Kraus in all seiner Wahrheit erkannte und beschrieb, als der Rest der bürgerlichen Welt ihn noch für die Jugendtorheit von Halbstarken hielt, die irgendwann schon zur Vernunft kämen. Und dieser in seiner Unerbittlichkeit befremdliche Kritiker, den Schnitzler als gehässigen, kleinlichen Charakter beschrieb, hatte die Gnade, mit der Würde eines Ungebrochenen aus einer Welt zu scheiden, die ihn sechs Jahre später wie ein Holzscheit auf andere industriell vergaste menschliche Scheite geworfen hätte.
Vieles der gängigen Kritik an Karl Kraus stimmt, und trotzdem sollte sie nur äußern, wer dessen Vermächtnis und Vorzüge verstanden hat, weil er sonst gar wenig verstanden hat, wie ein Reiseschriftsteller, der uns die Nachtseiten des Grand Canyon schildern will, weil er seine Tagseiten verschlafen hat.
Mein Vater war ein wertkonservativer Zivilisationskritiker, ich bin Kommunist. Und doch: In Karl Kraus fanden wir eine gemeinsame
Achse: Sprachkritik, Welt und Leben als Zweck, nicht als Mittel, mediterrane Heiterkeit gegen prätentiösen Ernst, Ernst in der Sache, wo andere bloß witzeln. Man muss Kraus von weltanschaulicher Verortung freispielen, um sein Programm die eigene befruchten zu lassen, und sei es nur, um als erste Maßnahme der Dummvokabel »Verortung« den Garaus zu machen.
Und wäre die mittelalterliche Feudalklasse nicht ein Haufen dummer Räuber und Schläger gewesen, ließe sich das Attribut »ritterlich« doch auf die charakterliche Notwendigkeit verwenden, einen geistreichen Gegner mehr zu achten als einen geistlosen Mitläufer. Zum Glück sind Erstere rar und leider Letztere gar nicht.

Dieser Text findet sich auch in Richard Schuberths Neuauflage seiner 2006 bis 2007 im »Augustin« erschienenen »30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus«. Das Buch heißt »Karl Kraus – 30 und drei Anstiftungen« (Klever Verlag).