Als im Jahr 1979 zum ersten Mal die Ars Electronica in Linz abgehalten wurde, so erwies sich dieses Ereignis im Rückblick als geschichtliches Datum von zwingender Notwendigkeit. Die Eulen der Minerva fliegen in der Dämmerung, schrieb der deutsche Philosoph Georg Friedrich Hegel. Was er damit meinte war, dass geschichtliche Abläufe erst dann in ihren Zusammenhängen sichtbar werden, wenn sich eine Epoche ihrem Ende zuneigt. Die Informations- oder Netzwerkgesellschaft, in der wir heute leben und die nun erste Anzeichen der Sättigung und Ermüdung aufweist, war 1979 noch in einer frühen Entwicklungsphase. Die sozialen Formationen des Fordismus waren in einer Krise, es gab erste Anzeichen des Übergangs zu einer neuen Formation – zuerst nannte man es Post-Fordismus, später Informationsgesellschaft. Insofern muss man es den Initiatoren dieses Festivals zugestehen, dass sie mit Weitsicht gehandelt haben. Doch die materielle Basis einer Gesellschaft spiegelt sich nicht eins zu eins im kulturellen Überbau. Manchmal ist die Kunst ihrer Zeit voraus, ein Seismograph kommender Erschütterungen wie der Medienguru Marshall McLuhan schrieb. Manchmal hinkt sie den Entwicklungen hinterher, dann sind Wissenschaft, Technik, Industrie die Avantgarde. Dazwischen gibt es Spannungen, Widersprüche, Paradoxien, parallele Entwicklungen, die aus der Nahperspektive gar keine Muster erkennen lassen. Paradoxerweise war das Gründungsjahr der Ars Electronica der Endpunkt der Pionierphase der Computerkunst. Ein neuer Begriff, ein neuer Mythos kam ins Spiel: die Medienkunst. Dieser ist die fünfte Folge von Mythos Kunst gewidmet. Um das Paradox aufzulösen – dass das Ende der Computerkunst den Anfang der Medienkunst bildet – müssen wir zurückschauen.
In der vorletzten, dritten Folge ging es um den konstruktiven Ansatz in der Kunst, um den Bogen von den historischen Avantgarden um 1910-1920 bis zu den Neo-Avantgarden der Nachkriegszeit. Beispielhaft wurde die internationale Bewegung Neue Tendenzen genannt, die 1961 ihren Ausgangspunkt von Zagreb nahm und bis 1978 existierte. Diese Entwicklung war eng mit dem Aufstieg und Niedergang der Industriegesellschaft verbunden. Als Industriegesellschaft wird in diesem Zusammenhang nicht die frühe Phase der Industrialisierung verstanden, die ab etwa 1780 begann, und auf Wasserkraft und der Dampfmaschine basierte, sondern das, was der Architektur- und Designtheoretiker Reyner Banham »the first machine age« nannte: ein neues, beschleunigtes Maschinenzeitalter, angetrieben vom gnadenlosen Takt der Montagebänder in den Fabriken Henry Fords, zusammengehalten von elektrischen Nervensträngen, angetrieben von Öl und Kunstdünger, und aufgepäppelt von neuen Pharmazeutika wie Aspirin und Penicilin. Dieses Maschinenzeitalter hatte im Börsencrash von 1929 seine erste Krise, gefolgt von der großen Depression und den Reformen des New Deals. Am Ende des Zweiten Weltkriegs konsolidierte sich ein neues System, der keynesianische Fordismus: ein System, das auf einem Kompromiss zwischen Arbeit und Kapital beruhte, in Österreich Sozialpartnerschaft genannt. In den späten 1960er Jahren geriet dieses System in eine Krise, deren unmittelbarer Ausdruck die globalen Unruhen und Revolten von 1968 waren. Die Student_innen und Arbeiter_innen revoltierten gegen die Top-Down-Kontrolle im kybernetischen Kapitalismus, gegen die Konformität, Zwänge und Stereotypen der sich abzeichnenden massenhaften Konsumgesellschaft. Die Kunst der konstruktivistischen Neo-Avantgarden versuchte eine Kritik und Überwindung des Fordismus von innen heraus. Es war ein reformerischer Ansatz, keine Fundamentalopposition. 1968 war die gesellschaftliche Relevanz dieser dann nicht mehr so neuen Tendenzen schlagartig verloren. Neue Kunstströmungen kamen auf, die besser mit den neuen Gefühlsstruk-turen und Sensibilitäten der Protestgeneration harmonierten: die Arte Povera (arme Kunst), Konzeptkunst, Body Art, Land Art, Video, Performance, Feminismus. Diesen Strömungen war die letzte, vierte Folge von Mythos Kunst gewidmet. Alles das, was in der Spätphase der modernen Kunst gegolten hatte, wurde in den späten 1960ern, frühen 1970ern dekonstruiert: der Künstler als weißes, männliches Subjekt, das Kunstsystem mit der Fetischisierung des Objekts, die Gigantomanie und Unpersönlichkeit der abstrakten Kunst aber auch die Kommerzialisierung und Vereinnahmung durch den Kunstmarkt. Von den späten 1960er Jahren bis 1979 zerfleischte sich die Kunst geradezu. Auf der Suche nach einer neuen Metasprache wurden die konstitutiven Elemente der Kunst systematisch zerlegt – später sollte man das Institutionskritik nennen. Die Kunst entmaterialisierte sich, es gab kaum noch etwas zu verkaufen für die Galerien und das Publikum fühlte sich skandalisiert – abgesehen von einer kleinen Schar eingeweihter.
Aber um 1979 war auch diese Energie aufgebraucht. In der Kunstwelt gab es einen konservativen Backlash, plötzlich war die großformatige, expressive und figurative Malerei wieder angesagt. Der französische Philosoph Jean-François Lyotard schrieb den tonangebenden Text La Condition postmoderne. Rapport sur le savoir (1979) (Die postmoderne Bedingung, ein Bericht über das Wissen). Margarete Thatcher wurde als britische Premierministerin ins Amt gewählt, ein Jahr später Ronald Reagan in den USA. 1979 markiert somit gleich in mehrfacher Hinsicht eine Zeitenwende: den offiziellen Beginn der Postmoderne als intellektuelle Strömung und die neoliberale Wende in wirtschaftspolitischer Hinsicht. Die Strukturkrise des Fordismus, die 1968 aufgebrochen war, hatte sich Anfang der 1970er Jahre vertieft. Zunächst versuchte man, der Krise mit erhöhten Staatsausgaben beizukommen. Der OPEC-Schock von 1973 versetzte dieser Strategie einen Schlag. Die auf Grund des Öl-Embargos steigenden Energiepreise ließen die staatlichen Fördermaßnahmen in den USA wirkungslos verpuffen. In Österreich gingen die Uhren etwas anders. Die Kreisky-Regierung setzte auf Vollbeschäftigung und pumpte Geld in die verstaatlichte Energie.
Damit konnte die Krise von 1973 durchgetaucht werden. Doch 1978, mit dem zweiten Ölschock, war auch das vorbei. Erhöhte Staatsausgaben brachten immer geringere Wirkung. Noch dazu hatte sich die VOEST mit einem Stahlwerk in den USA verspekuliert, das enorm hohe Investitionen verschlang. Das Zeitalter der Umstrukturierung begann. Diese Entwicklungen waren wohl auch den Initiatoren der Ars Electronica bewusst. Wie aus den Vorworten zu den frühen Ars Electronica Festivals von ORF-Mann Hannes Leopoldseder hervorgeht, war der Strukturwandel vom Maschinen- zum Informationszeitalter eine der Hauptmotivationen für die Gründung der Ars Electronica. Mit dem Festival wurde versucht, einen standortpolitischen Wandel in der Industriestadt einzuleiten.
Während sich die Krise des Fordismus ereignete, also in den 1970er Jahren, begann eine neue Leittechnologie ihren Aufstieg. Computer hatte es zwar bereits seit dem Zweiten Weltkrieg gegeben, doch Anfangs waren das so genannte Mainframes gewesen. In der Pionierphase der Computerkunst mussten sich die Programmierkünstler noch mit diesen Ungetümen abplagen, Software für grafische Aufgaben gab es kaum. Daher kamen die meisten Computerkünstler eigentlich aus der Informatik, der Mathematik oder dem Ingenieurswesen, wie z.B. Frieder Nake und Georg Nees. In Wien hatte Herbert W. Franke ab Mitte der 1950er Jahre erste »Computergrafiken« geschaffen, allerdings mittels eines Oszilloskops. 1966 gründete der österreichische Bildhauer Otto Beckmann an der TU Wien die Arbeitsgruppe Ars Intermedia, der u.a. der österreichische Computerpionier Heinz Zemanek angehörte. Ab 1970 arbeitete Beckmann mit einem eigens für ihn geschaffenen »Ateliercomputer«, gebaut von seinem Sohn, Oskar Beckmann. Ebenfalls ab 1966 hatte Marc Adrian am Institut für Höhere Studien Computergrafiken erzeugt. Alle diese Bemühungen fanden 1968/69 bei den »Neuen Tendenzen« in Zagreb zusammen, dem ersten internationalen Symposium für Computerkunst und visuelle Forschung. Doch was sich wie ein Beginn angefühlt hatte, war bereits der frühe Höhepunkt der Computerkunst gewesen. Die Kunstinstitutionen fühlten sich nicht angesprochen und in den 1970er Jahren wurde Computerkunst eine esoterische Praxis. Die radikalen Praxen dominierten die Kunstszene der 1970er Jahre.
Währenddessen bereitete sich im digitalen Untergrund eine neue Revolution vor, die Informationsrevolution. 1970 wurden die ersten Mikroprozessoren - ein kompletter Computer auf einem Chip - von der damals noch kleinen Firma Intel produziert. Dieser Meilenstein wiederum ermöglichte es, die ersten »Homecomputer« zu bauen, zunächst als Bausätze, schließlich, mit dem Apple I, 1977, als erstes Produkt. Daraus wurde dann schnell der Personal Computer, der PC. Parallel dazu wurde die Videotechnologie immer besser, kleiner und billiger. Alle diese Entwicklungen kamen bei den ersten Ars Electronica Festivals zusammen. Die Spätausläufer neokonstruktivistischer und kinetischer Kunst wurden gezeigt wie z.B. Otto Piene, einer der Gründer der Gruppe Zero, mit seinem Sky Art Projekt. Der aufstrebenden Technologiesupermacht Japan wurde Tribut gezollt, indem ein Roboter, Vorläufer von Aibo, mit verdatterten Passanten in der Innenstadt Konversationen führte.
Man kann der Ars Electronica wahrlich nicht vorwerfen, sie wäre zunächst unschuldig, alternativ und undergroundig gewesen und später dem bösen Kommerz verfallen. Es handelte sich von vorneherein um eine standortpolitische Richtungsentscheidung, die Top-Down von den Eliten der Gesellschaft beschlossen wurde. Die neuen, kleinen Computer erlaubten es »allen« kreativ zu sein, allerdings in den durch die Software bereits vordefinierten Bahnen. So gab es Technikdemonstrationen von Computergrafik-Unternehmen. Zugleich wurde die Klangwolke als demokratisches Kultur-für-Alle Feigenblatt eingeführt. Für die inhaltliche Gestaltung des ersten Festivals wurde Herbert W. Franke eingeladen. Dieser mobilisierte sein Freundesnetzwerk von den Neuen Tendenzen wie z.B. Vladimir Bonačić, der bereits 1969 großformatige, computergesteuerte Lichtfassaden gebaut hatte. Doch trotz solcher »Highlights« im wörtlichen Sinn waren die ersten Jahre der Ars Electronica ein Sammelsurium. »Die inhaltliche Treffsicherheit war nicht sehr groß« äußerte sich Peter Weibel in einer Rückschau 20 Jahre später, »man konnte fast alles finden, von »Rock bis Kleinkunst,« von Feuerwerken bis zu heliumgefüllten Kunststoff-Skulpturen, von Stahlopern bis »Mach-mit-Konzerte«, von Elektronik-Industrie bis Elektronikbastlern, nur eines nicht: elektronische Kunst.« Das änderte sich mit dem wachsenden Einfluss Weibels auf die kuratorische Richtung des Festivals. Weibel forcierte eine Ausrichtung des Festivals Richtung High-Tech und hoher Kunst.
Doch zugleich hatte in den 1980er Jahren eine andere Strömung in der Medienkunst begonnen. Die Verfügbarkeit leistbaren Videoequipments hatte in den 1970er Jahren eine Vielzahl von emanzipatorischen Videoprojekten entstehen lassen. Dem theoretischen Leitmotiv von Hans Magnus Enzensberger folgend, war die Idee, dass Menschen selber Fernsehen machen, an eine Kritik der »Bewusstseinsindustrie« geknüpft. Die Protestbewegung von 1968 hatte auch entscheidenden Einfluss auf die Vorstellungen davon, wie Medien und politische Bewegungen auszusehen hatten, nämlich dezentral. Politisch ging es um die Idee der Selbstorganisation, was französisch im Mai 68 »autogestion« genannt wurde. Auch die Medien sollten nicht mehr zentralistisch und vom Staat gesteuert sein, sondern frei und selbstorganisiert. In Europa entstand in den 1970ern eine florierende Radiopiratenszene, deren nichtkommerzieller Teil oft mit der Hausbesetzerszene verbunden war, wie z.B. Radio 100 in Amsterdam, oder Radio Alice in Bologna. Diese Verbindung von dezentraler Politik und dezentralen Medien nannte der italienische Philosoph und Psychiater Félix Guattari die »molekulare Revolution«. Diese Ideen standen wiederum in Zusammenhang mit Vorstellungen eines selbstbestimmten Lebens in Freiräumen. In künstlerischer Hinsicht entstanden spannende Crossovers aus den letzten Aufwallungen der Performance- und Videokunst mit der sogenannten Industrial Culture.
Den so entstandenen hybriden Kunstformen war eines gemeinsam, sie waren »Retro-Avantgarden«. Anders als frühere technologische und konstruktive Avantgarden postulierten sie nicht mehr, dass die Kunst zu einer besseren Zukunft für alle beitragen werde, sondern bedienten sich einfach an den Produkten der Industriegesellschaft, ihren technologischen Artefakten aber auch ihren ideologischen Konstrukten, um diesen durch Appropriation und Remix neue Bedeutungen abzulocken. Die Retro-Avantgarden kamen ohne Zukunftsversprechen aus. Neben englischen Gruppen wie Throbbing Gristle und Cabaret Voltaire ist vor allem die slowenische Konzept-Popgruppe Laibach zu nennen, sowie deren Kunstflügel Irwin. Unter dem gemeinsamen Label Neue Slowenische Kunst wurden Versatzstücke aus abstrakter Kunst (Malewitsch), und von faschistischer und stalinistischer Propaganda verwendet, um daraus eine Kritik des totalitären Charakters der Systeme in Ost und West zu formulieren. Technologien wurden zwar eingesetzt, aber ohne Utopieversprechen. Ein wichtiger Impulsgeber in jener Zeit waren Minus Delta T, die 1986 bei der Ars in einem eigens errichtetem Containerdorf gemeinsam mit Freunden die Todesoper aufführten - eine explosive Mischung aus Performance, Industrial Culture, Videokunst und experimenteller Musik. 1986 war auch das Gründungsjahr von Radio Subcom, ein gemeinsames Projekt von Urs Blaser, Antonia Neubacher und diesem Autor; und ungefähr zu diesem Zeitpunkt setzten auch die Aktivitäten von Stadtwerkstatt TV ein. Bei der Ars Electronica 1989, Im Netz der Systeme, kam es zum Clash der Techno-Kulturen. Techno-Utopisten wie Roy Ascott wünschten sich wohl eine saubere digitale Zukunft, frei von Störmanövern aus dem elektronischen Untergrund. Im oberen Stockwerk verkündete Ascott seine Vision einer glücklichen Verschmelzung des Menschen mit dem Planeten Erde durch die telematische Kunst. Diese Corporate-Ästhetik nahm Subcom im Foyer des Brucknerhauses mit der Installation Media Landscape Europe aufs Korn.
Ein kleines Detail erscheint besonders signifikant. Laut mündlicher Überlieferung erhielt die Stadtwerkstatt ihr erstes Videoequipment aus dem Fundus von »Arbeiter machen Fernsehen«. Dieses löbliche Projekt hatte, im Geist der siebziger Jahre, Industriearbeiter in der Steiermark in die Kunst der Videodokumentationsproduktion eingeweiht. Die Idee war, dass die Arbeiter (es waren lauter männliche -ers), indem sie selber Fernsehen machen, auch selbst politisch eine Stimme finden, also emanzipiert »werden«. Diese Vorstellungen waren recht naiv. Die beteiligten Arbeiter fanden schnell heraus, dass es viel mehr Spaß macht, Fernsehen zu machen, als am Fließband oder Hochofen zu stehen. »Emanzipation« konnte also nur bedeuten, vom manuellen Arbeiter zum Wissens- und Kulturarbeiter zu werden. Und genau dieser Strukturwandel vollzog sich während der 1980er Jahre: der schrittweise Rückgang der Industriearbeit in den reichen Industrieländern, einerseits durch erhöhte Automatisierung, andererseits durch Auslagerung von Jobs in sogenannte Billiglohnländer, was wiederum mit der Schwächung der Gewerkschaften in den Industrieländern einher ging. Mitmachprojekte wie »Arbeiter machen Fernsehen« waren zwar gut gemeint, versuchten aber viel zu sehr »von oben herab« die Arbeiter zu emanzipieren. Probleme dieser Art hatte der französische Philosoph Jean Baudrillard schon in den 1970er Jahren auf theoretischer Ebene antizipiert. In »Die politische Ökonomie des Zeichens« argumentierte Baudrillard, dass der Enzensbergersche Gedanke einer Emanzipation durch Selber-Mach-Medien zum Scheitern verurteilt sei. Solange das Grundschema der Kommunikation aufrechterhalten werde, gäbe es eine Hierarchie zwischen Zeichen und Bezeichnetem, wobei das Zeichen immer triumphieren werde. Dieses hierarchische Verhältnis setzte Baudrillard parallel zum Marxschen Schema von Tausch- und Gebrauchswert. In bürgerlichen Gesellschaften verschwindet tendenziell der Gebrauchswert hinter dem Tauschwert, was bleibt ist allein die Abstraktion, der als Geldwert ausgedrückte Preis. Solange diese Schemata aufrecht bleiben, dominieren die Zeichen über die Realität, der Tauschwert über den Gebrauchswert.
Diese Kritik Baudrillards wurde zwar von den Medienkollektiven der 1980er Jahre wie Subcom, Stadtwerkstatt TV und Van Gogh TV nicht in dieser Form theoretisiert, aber intuitiv sehr wohl verstanden und in künstlerische Strategien eingearbeitet. Die Fernsehprojekte von Stadtwerkstatt TV und Ponton/Van Gogh versuchten zwar, das klassische Sender-Empfänger-Schema aufzulösen, indem die Beteiligung der Zuschauer_innen technisch realisiert wurde, taten das aber nicht im naiven Glauben der Medienwerkstätten der 1970er Jahre, damit die sozialen Verhältnisse auszuhebeln. »Beteiligung« wurde postmodern umgedreht, ironisiert, gebrochen, zum Beispiel im Stadtwerkstatt-Projekt Automaten-TV oder jener berühmten Sendung, in der angedroht wurde, einen Hund live zu sprengen.
In den folgenden Jahren verwirklichten Künstler_innen am von Weibel geleiteten Institut für Neue Medien in Frankfurt/M paradigmatische, digitale und interaktive Kunstwerke. Im Mittelpunkt von Arbeiten wie Dialog with the Knowbotic South (1993), Interactive Plant Growing (1993) und Terrain_01 (1993-04) standen technisch komplexe und anspruchsvolle Formen der Interaktion, verstanden primär als Mensch-Maschine-Interaktion. Der soziale, geschichtliche Kontext wurde weitgehend ausgeklammert. Im Rückblick wird erkennbar, dass die interaktive Medienkunst an einem ganz bestimmten, historischen Moment entstand – an der Schwelle der Einführung der Informationsgesellschaft. 1991 verkündete Al Gore, damals noch Senator, den Aufbau des Information Super-Highway. Binnen weniger Jahre wurde das Internet privatisiert und zugleich für den allgemeinen Gebrauch geöffnet. Neue Institutionen wie das ZKM Karlsruhe, das NTT/ICC Tokyo und das Canon Art Lab, ebenfalls Tokyo, wurden aufgebaut. Es gab viel Geld für die interaktive Medienkunst. Diese symbolisierte die Überwindung der Nachteile der analogen Industriegesellschaft durch eine bessere, partizipative, digitale Zukunft. Gurus der Medienkunst wie Jeffrey Shaw verkündeten, dass diese die Kunst überhaupt ablösen würde – und wiederholten damit den Fehler der Computer-kunst der späten 1960er Jahre - denn wieder kam es ganz anders.
Mit der Öffnung des Internet entstand eine neue wirtschaftliche Dynamik, vor allem in den USA, mit der von Risikokapital angetriebenen New Economy. Zugleich wurde von Bill Clinton der Sozialstaat demontiert, unter dem Motto »from welfare to workfare«. Das US-Modell der Innovation durch Risikokapital und Börsengänge erschien so erfolgreich, dass auch Europa begann, eine neoliberale Wirtschaftspolitik einzuführen. Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 und dem Ende der Sowjetunion 1991 sahen sich die USA in der Rolle der unangefochtenen Supermacht, was von Francis Fukuyama als »Ende der Geschichte« aufgefasst wurde, will heißen, das Ende des Sozialismus als aktiver Gegenpol zum Kapitalismus.
Der Klassenkampf alten Stils war zwar vorüber, doch zugleich formierten sich neue Synthesen aus Gegenöffentlichkeit, globaler Zivilgesellschaft, und militanten indigenen Gruppen wie den Zapatistas. Das real existierende World Wide Web bot hierfür neue, ungefilterte und von Zensur freie Kanäle. Initiativen wie Servus.at, Public Netbase und neue, kooperative Online-Medien wie die Mailinglisten Nettime und Rhizome wurden gegründet. Die Netzkritik entstand, eine Kritik der politischen Ökonomie des Netzes. Deren Kunstflügel, die net.art (wie ein Unix-Dateiname), distanzierte sich von der alten Medienkunst. Künstler_innen wie Vuk Cosic, Heath Bunting, Olia Lialina, Alexei Shulgin und Rachel Baker schufen kritisch-ironische Kommentare auf das Web.
Parallel mit der net.art zeigte auch die zeitgenössische Kunstszene in den 1990er Jahren unerwartete Vitalität. Nach dem konservativen Backlash der frühen 1980er Jahre, entwickelte sich die zeitgenössische Kunst in Richtung kritischer, instituierender Praxen. Sie wurde zum Medium für jene Inhalte, die aus der kommerziellen Medienlandschaft verbannt waren, kaum oder selten adäquat reflektiert wurden: Globalisierung, Neoliberalismus, das Ende der Arbeit, Prekarisierung, Gender und Migration. Über den Weg der metasprachlichen (Selbst)Kritik der Kunst hat es die zeitgenössische Kunst in den 1990er Jahren geschafft, zu einem wichtigem Korrektiv gegen die allgemeine Verflachung und Verödung zu werden. Wie sich diese Ansätze aber bis in die Gegenwart weiter entwickelt haben, ist das Thema der nächsten und letzten Ausgabe dieser Serie.
Teil 1: Der Mythos des Künstlers
Teil 2: Kunst und Technik
Teil 3: Im Blitzlicht der Ästhetik des Neuen
Teil 4: Feminismus, Semiotik, Anti-Kunst, Befreiung
Teil 6: Post-Art oder in der Endlosschleife des Zeitgenössischen