»Ihr Meinung ist uns wichtig«, steht über allen Kundenumfragen konsumentenorientierter Groß- und Kleinunternehmen. Es ist nicht einmal eine Lüge. Zu Zeiten, als der freie Markt noch nicht für jedes Nischenbedürfnis bereits vor dessen Entstehung ein Angebot bereithielt, mochten die Produzenten mitunter darauf vertraut haben, dass die Leute eben nehmen, was geboten wird. Wenn aber die Anzahl der Angebote das Menschenmögliche des von den Kunden zu leistenden Konsums übersteigt und das in seiner Vielfalt unübertroffene Warensortiment, weil die Endabnehmer sich immer weniger leisten können, zu Ballast zu werden droht, gilt es, mit den Konsumenten möglichst eng zusammenzuarbeiten, um unter Preisgabe der jeweiligen Partikularinteressen ans zivilgesellschaftliche Ganze und im eigenverantwortlichen Einklang von Produzenten und Kunden die freie Konkurrenz samt ihren unliebsamen Folgen zu suspendieren. Dass der freie Markt nicht für das Bedürfnis eines jeden etwas bereithielt, war einstmals kein Mangel, sondern Ansporn, eben das, woran es fehlte, herzustellen, sobald das Bedürfnis danach ökonomisch maßgeblich wurde. Das Patentrecht war die juristische Absegnung des bürgerlichen Erfindungsgeistes: Dinge zu schaffen, die es noch nicht gibt, obwohl ein Bedarf nach ihnen besteht; immer neue Zielgruppen zu erschließen, die einstweilen nur gleichsam virtuell bestanden und erst durch das ihr gemeinsames Bedürfnis stillende Produkt zu eigenen Konsumsparten werden sollten.
Seit dieses dem Schein nach freie Spiel der Kräfte sich in den Augen aller Beteiligten immer offensichtlicher als leeres Versprechen erweist, bedarf es immer rigideren Zwangs, um den Schein seiner Freiheit aufrechtzuerhalten. Ein populäres Mittel zu diesem Zweck sind Kundenumfragen, Verbraucherschutz und ähnliche Maßnahmen, die deshalb so beliebt sind, weil sie den Menschen ihre Verwandlung zu bloßen Anhängseln des Produktionsprozesses als Hinwendung zu ihrer unverwechselbaren Menschlichkeit vorspiegeln. Der Produzent, dem meine Meinung wichtig ist, spricht mich nicht einfach nur als den potentiellen Kunden, nicht als jenes Abstraktum an, das ich als Funktionsträger im Verhältnis zu ihm tatsächlich bin, sondern als ihm wichtige substantielle Persönlichkeit, ohne die er nicht sein könnte. Das auf allen Seiten des Produktionsprozesses jeder Einzelne durch jeden anderen ersetzt werden könnte, gerät umso mehr aus dem Blick, je stärker es sich allen Beteiligten als Erfahrung aufdrängen müsste. An diesem Bewusstseinschwund arbeiten die Kundendienste und Öffentlichkeitsarbeiter mit: Nicht durch staatliche Steuerung, sondern durch den zivilgesellschaftlichen Pakt zwischen den Produzenten, die allesamt zu Dienstleistern mutieren, und den Kunden, die als »bewusste Konsumenten« aktiv an der ständigen Optimierung nicht nur des Angebots, sondern auch ihrer eigenen Nachfrage mitarbeiten, werden dem unterm Prinzip der Konkurrenz stets schon unfreien freien Markt noch die letzten Spuren der Liberalität ausgetrieben.
Überflüssige Kunden aber, die sich für unersetzlich halten, mutieren mit sozialpsychologischer Konsequenz zu ebenso größenwahnsinnigen wie stets zur Selbstliquidierung bereiten Meinungsmaschinen, die zu allem etwas zu sagen haben, weil sie ständig Objekt von Befragungen sind, und die überall mitzumischen beanspruchen, weil es schließlich ohne ihre beliebig verfügbare Nichtigkeit nicht geht. Deshalb lassen sich die Deformationen der Subjekte, die jene im Einverständnis der Marktteil-nehmer sich vollziehende Liquidierung ihrer eigenen Daseinsgrundlage nach sich zieht, besser noch als an Kundenumfragen, Bürger- und Verbraucherinitiativen an den »sozialen Medien« studieren, in deren Sphäre Angebot und Nachfrage, Produktion und Konsum längst kurzgeschlossen sind. Hier, wo alle ständig die Nachfrage nach der eigenen Person zu steigern bestrebt sind, indem sie auf die Kommunikationsan-gebote anderer antworten, ist die Meinung zum totalen Prinzip und zum einzigen Gegenstand von Konsum und Produktion geworden. Was in den »sozialen Medien« unbeantwortet bleibt, also nicht möglichst zahlreiche Meinungen erzeugt, ist der Nichtigkeit überführt, und wer nicht ständig auf alles Mögliche antwortet, ist es ebenso. Die Meinungen, die dort ständig produziert werden, sind zugleich das einzig verbliebene Medium des Konsums: Über etwas eine Meinung zu haben, konsumiert den Gegenstand des Meinens und produziert ihn erneut, womit er als Gegenstand tendenziell überflüssig wird; er ist nichts anderes als die Form der eigenen, end- und ziellosen Selbsttransformation, eines Prozesses, der nur die eigene Verewigung zum Zweck hat. Auch wenn man auf Facebook ist, ist man nicht wirklich dort, sofern man nicht durch regelmäßige Kommunikations-akte, die von anderen beantwortet werden, permanent das eigene Dort-sein bestätigt. Und fast alle Kommunikationsakte werden in den »sozialen Medien« zur Meinung; vielleicht ist die Meinung überhaupt die einzige Sprach- und Denkform, die die Kommunikation erlaubt.
Meinungen sind grundlose Urteile, und daher gar keine. Da sie nicht auf Wahrheit zielen, lässt sich auch nicht über sie streiten. Jede Meinung ist ihrer eigenen Form nach zugleich absolut und nichtig: absolut, weil sie, statt Substantialität zu beanspruchen, nur Respekt vor ihrer partikularen Willkür einfordert; nichtig, weil sie eben deshalb sogleich durch eine andere abgelöst werden kann und sich auch nicht daran stößt, dass andere, ihr widersprechende, gleichermaßen voluntaristische Meinungen, oft im selben Menschen, beziehungslos neben ihr koexistieren: Das ist die negative Wahrheit des Pluralismus. Eben weil sie nicht auf Wahrheit zielen, in der die partikulare Ansicht transzendiert würde, sondern auf kollektive Absegnung von deren Beschränktheit, sind Meinungen immer affirmativ; gerade auch dann, wenn sie, wie es in den »sozialen Medien« bevorzugt geschieht, sich kritisch, provokant und negativ geben. Negativität wird dort, unabhängig von der Intention der Beteiligten, notwendig zur auftrumpfenden Bejahung. Das aus dem Genre des Leserbriefs hinlänglich bekannte selbstzufrieden-besserwisserische Herumgemotze, das in jeder Suppe ein Haar findet, die Dinge immer anders sieht, ausgewiesenen Experten mit kleinkarierter Pfuscherei ihre Inkompetenz nachweist und noch in der schlüssigsten Argumentation Lücken (oder noch beliebtere Leerstellen) entdeckt, durchbricht in den »sozialen Medien« das ohnehin fragile Gehege, mit dem die Institutionen der bürgerlichen Öffentlichkeit, die ihm gleichsam eigene Gästezimmer zuwiesen, seine populistische Destruktionskraft zu bändigen suchten, und dringt noch in die hinterletzten Kammern vor.
Schon der bürgerliche Leserbriefschreiber war ein meckernder Jasager, ein mit sich selbst und der Welt einiger Nörgler, Prototypus des autoritären Charakters. So wie er zu allem, von dem er keine Ahnung hatte, mit dummstolzer Ich-bin-ja-nur-ein-einfacher-Mann-Attitüde seine Einwände anbringen musste wie der Haushund seine Markierung an Nachbars Bäumchen, so haben die Blogger, Poster und Kommentatoren des World Wide Web zu jedem erdenklichen Aspekt des leeren Lebens ihre austauschbar ureigene These beizusteuern. Dem leersten Gewäsch gewinnen sie einen konstruktiven Gedanken ab, im einfachsten Gedanken entdecken sie einen Fehler. Keine Wahrheit können sie stehenlassen, ohne ihren Senf dazu zu geben, keine Lüge Lüge nennen, ohne ihr großzügig-kleingeistig relative Wahrheit zuzugestehen. Während aber Leserbriefschreiber sich kurzfassen oder zumindest damit rechnen mussten, dass die Redaktion vom Recht gebraucht machen würde, ihr Lamento ohne Rücksprache auf den Kern zu reduzieren, der ohnehin meist eine Hülse war, können digitale Meinungsproduzenten schier endlos auf alles und aufeinander antworten, ohne die zivilisierende Kraft der viel zu selten geübten Geschmackszensur zu fürchten. Die dadurch entstehenden Palaverschmierspuren, in deren agrammatischer Sprachpampe schon nach wenigen Metern jede geistige Kontur verschwimmt, sind adäquater Ausdruck einer Kommunikation, die nur einträchtig aufeinander herumhackende, neidisch einander ankumpelnde Beteiligte, aber keinen Widerspruch kennt.
Die einst mit putzigem Engagement geführte Diskussion darüber, ob Facebook einen »Gefällt mir nicht«-Button einführen sollte und inwiefern dessen Nichtexistenz den böse kapitalistischen, übelst affirmativen Charakter des Unternehmens beweise, ist denn auch inzwischen fast versiegt. Auf welchen Hund Leute gekommen sind, die in einem nach unten weisenden Daumen das basisdemokratische Recht aufs Scheißefinden verbürgt sehen, wird vielleicht irgendwann auf Facebook diskutiert. Dass aber nach seiner Einführung der »Gefällt mir nicht«-Daumen innerhalb kürzester Zeit seinem positiven Gegenstück den Rang ablaufen würde, ist so gut wie sicher. Nicht, weil dann die kritischen Meinungskonsumenten endlich die angemessene Ausdrucksform ihrer polemischen Berufung gefunden hätten, sondern weil erst in der zum ikonischen Zeichen kondensierten Denunziation die Konvergenz von Affirmation und Vernichtungssehnsucht realisiert wäre, auf die das Bedürfnis nach restlosem Meinen seiner inneren Konsequenz nach zielt. Wo die klassenlose Weltgesellschaft und nachhaltiges Wirtschaften, Adorno und Perlentaucher, Proust und Tocotronic, am Sonntag lange Schlafen und die Kneipe um die Ecke unterschiedslos zu Optionen geworden sind, die einem gefallen oder nicht gefallen, und jede Obsession, jedes Residuum intentionsloser Liebe mit zehntausend Faces geteilt werden kann, mit denen einen nichts verbindet als die alles zusammenschweißende Beziehungslosigkeit, ist die Äußerung des Nichtgefallens selbst zur Routine des Jasagens geworden. Das Private, unter dessen Schutz einst die Meinung stand, existiert nur mehr als Sammelbegriff für den leblosen Unrat der eigenen Restseele, für die paar verkümmerten Spleenigkeiten, mit denen man dann doch besser niemanden belästigen will, weil man sie insgeheim selbst verachtet. Der Erste, dem die Idee gefiele, dass das alles aufhört, damit überhaupt etwas anfangen kann, wäre der Allerletzte, mit dem irgendwer kommuniziert.