Wie aus Bürgern Männer wurden, Teil 3

In seinem Work in Progress Lord Byrons letzte Fahrt – Die Geburt der Nation aus dem Geist von Romantik und Banditentum analysiert Richard Schuberth den Griechischen Unabhängigkeitskampf und die Nationalisierung des Balkanraumes als eines der ersten großen Scharmützel der Ideologien und Diskurse der Moderne. An vorderster Front: die Konstruktion von Männlichkeit. Dritter und letzter Teil der Serie.

Individualität und Heereskörper

Wohlauf Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!
Ins Feld, in die Freiheit gezogen.
Im Felde, da ist der Mann noch was werth,
Da wird das Herz noch gewogen.
Da tritt kein anderer für ihn ein,
Auf sich selber steht er da ganz allein.


Aus der Welt die Freiheit verschwunden ist,
Man sieht nur Herren und Knechte,
Die Falschheit herrschet, die Hinterlist,
Bey dem feigen Menschengeschlechte,
Der dem Tod ins Angesicht schauen kann,
Der Soldat allein ist der freie Mann.


Friedrich Schiller, »Wallenstein«

Schillers Lied ist trügerisch. Zwar wurde es Ende des 18. Jahrhunderts geschrieben, doch scheint es seiner Zeit voraus zu sein, denn sein falsches Individualitätsversprechen löst sich nur noch in Todesverachtung und im Tod selbst ein. Ein Versprechen ist es, das Millionen junge Männer ab dem bürgerlichen Zeitalter im Namen von Kapital, Nation und aggressiver Unterwerfung und Eroberung neuer Märkte in ein mittelalterlich verbrämtes Bewährungsspiel trieb. In der Kameradschaft und im Extremerlebnis der Todesgefahr erfährt der Mann die Selbsttranszendenz, die ihm das Leben vorenthält. Die Einlösung des Versprechens schiebt sich bis zum Heldentod auf, der selbst noch zum Freitod umgelogen wird. Natürlich stimmt es nicht, dass es im Feld weder Herr noch Knecht gibt, nirgends tritt ihr Verhältnis autoritärer auf – bloß der Tod egalisiert die Klassen, und im Allmachtsrausch, den die Todesangst entfesselt, in der traurigen Selbstermächtigung, zumindest durch die Furcht, die man erregt, Subjekt zu sein, bündelt sich dieses ein letztes und vielleicht erstes Mal.

Doch so sehr gebildetes Kanonenfutter Schillers Verse noch in den Schützengräben von Verdun gestammelt haben mag – sie haben eine untergegangene Form der Kriegsführung zum Inhalt, das Subjekt des Lieds ist ein Landsknecht aus Wallensteins Lager. Was für die Gegenwart von 1800 wie die von 1900 Verklärung wäre, hatte im 17. Jahrhundert noch Relevanz. Der Söldner ist Arbeiter und Entrepreneur in Personalunion, er verfügt über seine Produktionsmittel, steht außerhalb der Gesellschaft und ihrer Normen, und somit außerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie; er hat sich für das Verdikt entschieden, dass wer für das Schwert lebe, durch es gerichtet werde – und damit lebt er gut. So der Sold und das Plündergut was einbringen, prunkt er mit bunter, exquisiter Kleidung, welche sich bislang nur die Aristokratie ausbedungen hatte. Ehrbegriff und Käuflichkeit widersprechen sich hier nicht, denn die Sache, für die er kämpft, ist abstrakt und austauschbar und dient immer Interessen einer partikulären Macht und nie der res publica. Der Söldner fällt nicht auf die Flötentöne gemeinsamer Interessen herein, er will bloß Sold und Anteil an der Beute, die er womöglich in die Mikroökomonie seines Herkunftsortes speist. (Die tiefgläubigen Mütter Tiroler oder kroatischer Recken dürften das Fünfte Gebot vergessen haben, wenn sie die schönen Seidenstoffe aus den blutigen Händen ihrer heimkehrenden Söhne empfingen.) Diese Soldaten sind zutiefst loyal. Loyal zu ihrem Fähnrich, Warlord, Kapitän. Die Reziprozität von Clan- und Stammesstrukturen reproduziert sich in der Kriegsführung der frühen Neuzeit. Denn die Söldner arbeiten selten als Solitäre, sondern treten in Gruppen auf. Und von der Banditenbande, der Kosakenschar oder dem albanischen oder bergslawischen Stammesverband zum mobilen Söldnertum zieht sich stets eine direkte Deszendenzlinie.

Die irregulären Sondereinheiten, die zunächst den aristokratischen Truppen des Mittelalters beistehen und diese dann ablösen, rekrutieren sich aus soziokulturellen Gruppen, die stets einen Kriegerethos pflogen und eher Herden trieben und verteidigten als Boden bebauten. Und sie waren nicht gewohnt, vor Herren das Haupt zu beugen. Das Personal des Landsknechtswesens rekrutierte sich vom 15. bis zum 18. Jahrhundert zu einem Gutteil aus Bergbewohnern, deren Gebiete vom unmittelbaren Zugriff des Feudalismus relativ verschont blieben. Schweizer, Tiroler, als »Schotten« bezeichnete Angehörige irischer Clans, als »Kroaten« bezeichnete Wlachen und Serben des habsburgerisch-osmanischen Grenzlandes, albanische und montenegrinische Stratioten, ungarische Haiduten, freie Szekler und Wallachen aus den Karpathen ...
Deren vorbürgerlicher Individualismus kam den Truppenkontingenten gegen Ende des 17. Jahrhunderts abhanden. Auch wenn der Preußenkönig Friedrich Wilhelm die »Langen Kerls« seiner Potsdamer Garde pries, die Heere des 18. Jahrhunderts wurden entindividualisiert durch Drill, Uniformierung und die Choreographierung von zu Flächenkontingenten verschobenem Kanonenfutter. Entmännlichung zeigte sich in Prügelstrafe und Zucht. Noch keine Bürgerarmeen waren das, aber disziplinierte Söldnertruppen, denen man den Stolz der Freicorps und Profikrieger rausgeprügelt hatte. Zumeist arme Bauernburschen, welchen man durch Werbeoffiziere jenen soldatischen Individualismus schmackhaft machen wollte, der den Haiducken, Landsknechten und Berittenen vorbehalten war. Der stolze und akrobatische pannonische Männertanz namens Verbunk (Werbung) konservierte diese theatralische Inszenierung, mit denen die Headhunters des Heers in den östlichen Domänen des Habsburger Reichs den betrunken gemachten Jugendlichen den Habitus eines Herrn vorgaukelten. Die diversen Reitereien aber blieben halbautonome, halbreguläre Einheiten, die erst allmählich und nicht ohne Widerstände dem regulären Heereskörper inkorporiert werden konnten.

Was als Inbegriff des barbarischen Türkentums gefürchtet wurde, die Akıncı, die Raubbrenner, oder Tataren und Albaner rekrutierten sich aus denselben pastoralen Gesellschaftssegmenten wie die Uskoken, Panduren, Ulanen und Husaren der christlichen Armeen. Und rein optisch unterschieden sich diese gefürchteten Freischaren eben nicht von den osmanischen Truppen, was nicht heißt, dass sie alle gleich aussahen. Wenngleich für das westliche Auge irgendwie asiatisch oder orientalisch, variierten diese Reiterkrieger des permanenten Grenzlandes die unterschiedlichsten Dresscodes, die sich oft – auch als Verhöhnung der Klassenunterschiede – der luxuriösesten Accessoires bedienten. Dieses wilde und dandyhafte Gepräge der Banditenkriegsführung begann schon östlich des Neusiedlersees und südlich der Krain. Ein riesiges Repertoire an kampferprobten Hirten und Bergbauernkriegern stellte das Übergangsland zwischen pannonischer Tiefebene, Balkan und Karpathen zur Verfügung. Als die Kaiserin Maria Theresia vor der preußischen Armee aus Wien nach Pressburg fliehen musste, waren es teils magyarische Magnaten, teils unabhängige undisziplinierte Freischaren, die ihre Dynastie retteten. Berühmt der Warlord Franz von der Trenck, der mit seinen wlachisch-slawonischen Panduren ganz Böhmen und Schlesien in Angst und Schrecken versetzte. Er rekrutierte seine Krieger aus den Dörfern seiner Ländereien im slawonischen Brestovac. Von den zentralasiatischen Steppen über die Nordhänge des Kaukasus bis zur Adria, von der Hohen Tatra und Polen bis ins Taurusgebirge erstreckte sich dieser Kulturtypus der Berg- und Steppenkavallerien, dessen furchterregenden psychologischen Effekt man sich fortan in den westlichen Armeen zunutze machen wollte. Die polnische Feudalarmee hatte sich schon zweihundert Jahre zuvor orientalischer – sarmatischer - gemacht, als sie ursprünglich war und posierte mit ihren an Samurais erinnernden Flügelrüstungen als bunte Vögel unter den christlichen Heeren.

Nicht nur waren die regulären Kavallerien, allen voran die Husaren, aus diesem östlichen Typus entstanden, sie behielten bis weit ins 19. Jahrhundert – zumindest pro forma – den Corpsgeist, das Image schwer disziplinierbarer Irregulärer bei. Vor allem mit ihrer exzentrischen Aufmachung. Und hier wären wir beim eigentlichen Thema angelangt. Die von Schiller besungene todesverachtende Individualität des Reiterkriegers wurde vor allem in der französischen Armee unter Napoleon auf die Spitze getrieben. Während das gesamte Heer per allgemeiner Wehrpflicht zu einer Verschubmasse verschmolz und die Uniformen immer gleichförmiger wurden, genossen die Husaren und Ulanen der Grande Armée den Ausnahmestatus der freien Wahl des Designs. Dabei gebärdeten sie sich so prunkvoll und östlich wie nur möglich. Die Dekadenz dieser individualistischen Mode hatten sie sich vom Chic pannonischer, balkanischer und osmanischer Barbarenreiterei abgeschaut. Während Soldaten und auch Offiziere anderer Truppenteile zunehmend wie Massenanfertigungen eines bürokratiserten Heerwesens wirkten, stolzierten die Husaren in ihren hautengen weißen Hosen, übertrieben mit Gold- und Silberbordüren bestickten Dolmaks, pelzbewährten Schulterjacken namens Mente und den eindeutig östlichen Kalpaks wie Gockel herum. Oft imitierten sie die wilden Schnurrbärte der östlichen Reiter und trugen an beiden Schläfen ihr Haar zu Zöpfen geflochten. Auch wenn diese Tracht eigentlich die Botschaft vermitteln sollte, durch Selbstexotisierung außerhalb und über der militärischen Ordnung zu stehen, also die begehrteste Form von Maskulinität, mag sie dem westlichen Betrachter eigentümlich feminin vorgekommen sein. Was durchaus erwünscht war. Denn die geschlechtliche Ambivalenz steigerte das Flair der Bedrohlichkeit nur. Manche Offiziere dieser Truppenteile übertrieben mit ihrem modischen Dandyismus dermaßen, dass die Heeresleitung diesem Einhalt gebieten musste. Die Botschaft war unmissverständlich: Wir sind unverzichtbare, todgeweihte Elite, mag man uns hassen, solange man uns fürchtet und braucht, wenn wir mit blankem Säbel wie geborene Aristokraten die bäuerlichen Infanteristen des Feindes vor uns herjagen. Auch wenn wir derselben Heeresdisziplin wie alle unterstehen, tun wir zumindest so, als wären wir irreguläre hunnische Stutzer. Und wir kriegen damit die meisten Frauen ab.
Diese Mode breitete sich auch in den Kavallerien der anderen europäischen Armeen aus, sogar der nüchternen englischen, ihre Haudegen trugen gerne Leopardenfelle, und mit schottischen Accessoires wie dem Plaid und dem Kilt hatten sie ihre eigenen Reminiszenzen an die anarchischen Banditenarmeen. Der schottische Dudelsack klang nicht weniger furchterregend als die Schalmeien der Wlachen, Osmanen und Tataren.

Sterben für die Sache

Der »Vater des Konservatismus« Edmund Burke kritisierte an den Jakobinern, dass ihnen Anstand und Ritterlichkeit weniger wichtig seien als Gesetze. Die Geschicke der Politik, Gesellschaft und Geschichte wurden hier auf Voluntarismus und den Charakter des Einzelakteurs reduziert. Die Romantik schließlich verhalf den Fokus auf die Monade der Persönlichkeit zu verengen. Der Rekurs auf Ritterlichkeit (ohnedies eine retrospektive romantische Übertreibung, denn der Raubritter war der dominante Typus des Mittelalters) als Handlungsmaxime bewährte sich als Methode, nicht nur die Wirkkräfte der Moderne misszuverstehen, sondern sich als Kund-schafter der Destruktion benützen zu lassen. Und war das Bewusstsein einmal auf sich selbst zurückgeworfen, konnte die Ritterlichkeit auch in die Philosophie des Herrenmenschen umschlagen. Ob Edelmut oder das Ethos rücksichtsloser Amoral, in der Selbstermächtigung durch gute wie böse Taten täuschte sich das Individuum über seine Reduktion auf eine Schach-figur im politischen Spiel hinweg. Mein Vater war hierfür das beste Beispiel.

Er teilte keineswegs die Ideen des Nationalsozialismus, empfand deren Führer als lächerlich, trotzdem ritt er in den Krieg mit Vorstellungen von Ritterlichkeit und Bewährung, Respekt vor dem Feind und Kameradschaft. Die Weltfremdheit, mit der sich diese edlen Ziele für die unedelste Sache aller Zeiten instrumentalisieren ließen, war symptomatisch für die Spätfolgen der Romantik. Seite an Seite mit Ernst Jünger und Gerd Gaiser, mit Apologeten des Stahlgewitters und Praktikern der philosophischen Entmenschlichung fiel die idealistische Heuschrecke, die mein Vater war, als Teil einer apokalyptischen Plage in die Sowjetunion ein. Dass diese Ausnahme-Heuschrecke sich mit russischen Bauern anfreundete, ihre Lieder sammelte, Steppenblumen bestimmte und Kriegsgefangene mit Respekt behandelte, wenn er sie zu den Gefangenenlagern und ihrem vermutlichen Hungertod eskortierte, änderte nichts an der Plage, deren Teil er war. Und um wie viel scheußlicher ist der Respekt vor dem Feind als der ehrliche Hass auf ihn, akzeptiert doch auch jener das von der Macht vorgeschriebene Feindbild und tut es dies ein zweites Mal in der moralischen Selbsterhöhung, vor diesem Feind zu salutieren, nachdem man sein Land besetzt, seine Ernten requiriert und seine Lebensgrundlagen zerstört hat.

Edmund Burkes konservative Ranküne gegen den Konstitutionalismus der Französischen Revolution spiegelt die archetypische Verachtung gesellschaftlicher Objektivität wider. Sobald ein emanzipatorischer Fortschritt in Gesetzesrang erhoben wird, entlastet er das Individuum vom moralischen Handeln. Das Verbot der Gewalt gegen Frauen würde solcher Logik zufolge den Kavalier um das Alleinstellungsmerkmal berauben, großzügig auf dieses patriarchale Privileg zu verzichten, und ihm somit den Zahn seiner Männlichkeit ziehen, die ja in der Kulturleistung bestünde, auf rohe Aggression freiwillig zu verzichten. An der romantischen Front standen Konservative wie Burke und Progressive Schulter an Schulter. Der Konservative verachtete im Namen hoher Werte die Rationalität, der Progressive die Zweckrationalität, doch schälte man den Instrumentalismus von dieser, bliebe der Grund des eigentlichen Unbehagens bestehen: die Vernunft selbst.

Das Ideal, die Sache, die res publica über den persönlichen Vorteil zu stellen, diese Selbstentsagung würde erst der Marxismus als den bürgerlichen Hymnus entlarven, mit dem sich die Interessen des Einzelunternehmers gegen die Konkurrenz, und in kartellhafter Allianz mit dieser gegen das Proletariat formieren.

Vor der Einführung der Volksarmeen starben Kombattanten in der Regel nicht für eine Sache, weder den König noch den Papst. Und die Zahl der authentischen Fundamentalisten in den Kreuzritterheeren dürfte recht überschaubar gewesen sein. Dort wo halbautonome, halbreguläre Truppenteile im Sold der Warlords standen, galt Loyalität bestenfalls der eigenen »Spezialeinheit«, dem Kameraden, dessen Rücken man deckte, dem Hauptmann, der den Vater ersetzte. Die Übertragung solch beschränkter Zugehörigkeit auf Abstrakta wie das Volk, die Nation, den Staat stellte deren politische Apparate vor große ideologische wie logistische Herausforderungen. Solange Idealismus die meisten Akteure zusammenhielt – und feudal unterdrückte Plebejer mit bürgerlichen Herolden universeller Freiheiten gemeinsam an die Front trieb, blieb diese plausibel und authentisch. Die junge Republik gegen die alliierte Gewalt des in Frankreich entmachteten Feudalismus zu verteidigen hatte den Charakter eines ideellen Weltkrieges – wie er sich am Ende des »Langen 19. Jahrhunderts« in der Sowjetunion wiederholen sollte. Bis in die untersten Schichten der Gesellschaft setzte sich der Imperativ durch, dass hier der Endkampf zwischen Freiheit und Unterdrückung ausgefochten werden müsse, und nicht etwa zwischen Frankreich und England oder Österreich. Bis aber das Bewusstsein dermaßen zugerichtet war, dass der Staatsbürger aller Klassen für die deutsche, ungarische oder bulgarische Heimat ins feindliche Sperrfeuer lief, bedurfte es einiger Generationen der Beschulung, Konformierung und Einschüchterung. Auch hier fungierte die Romantik als Katalysator zwischen revolutionärem Inhalt und revolutionärem Gefühl. Schon bei der frühen Jakobinergeneration unter den deutschen Romantikern spürt man die Ablösung der Revolte von ihrem Gegenstand, was fortan vermarkt- und manipulierbares Wesen einer jeden Jugendkultur werde sollte. Die Geburt des angry young rebel without cause. Die Suspen-sion rationaler und sachgebundener Ziele durch den egomanen Rausch an der Widerständigkeit, die Vernunftverachtung und Gefühlsvergötzung jener Romantiker war das Gatter, durch das diese Generation sich von der republikanischen zur völkischen Ideologie treiben ließ.
Selbstzucht und Opferbereitschaft, Schicksals- und Todeskult waren notwendige Werkzeuge, um die neuen Citoyens – gleich für welche Sache – von ihrem Selbsterhaltungstrieb zu entwöhnen. Bereits in der Kunst der Revolutionsperiode erlangt der Klassizismus diesen fatalistischen Drall, der 150 Jahre später insbesondere von den Nazis aufgegriffen wurde. Aus den Gemälden Jacques-Louis Davids, dieses unheroischen Opportunisten, dringt permanent der düstere Heroismus des Opfers für die größere Sache, die mitleidlose Lust an der körperlichen Verstümmelung.

Die philhellenischen Freiwilligen waren mitunter unfreiwillig komische Abführer des romantischen Gefühlsüberschusses, und in ihrem fiebrigen Idealismus übersahen sie zunächst, dass sie den fiktiven Griechen mit Ideen beistanden, die einander so sehr widersprachen, dass sie gegenseitig sich hätten bekämpfen müssen. Und oft taten sie das auch mit ihren Duellen und Zankereien, zum Gaudium der Griechen. Doch gleich ob Republikaner, Sozialrevolutionäre, völkische Nationalisten, Monarchisten – sie alle vertraten ihre gegensätzlichen Ideen mit dem gleichen Enthusiasmus. Ebenso einig waren sie sich bald in ihrer Verachtung der realen Griechen. Weit über den Kontrast zwischen diesen und den antiken Fantasiegriechen reichte diese Abneigung hinaus. Man versuchte sie sich damit gutzureden, dass die Griechen eben durch 400 Jahre türkische Herrschaft degeneriert seien, andere suchten Erklärungen in rassistischer Vorwegnahme der Fallmerayer-These, dass das edle griechische Blut eben zu sehr durch albanisches, slawisches und türkisches verunreinigt sei. Was all diese freiwilligen Brigadisten entsetzte, war der Umstand, dass keiner der autochthonen Griechen hier für eine nationale Sache focht und mordete, ja, dass sie nicht zu verstehen schienen, was das überhaupt sei. Die Insurgenten, zu einem Großteil Kleften und Irreguläre, kapierten auch nicht, was die Europäer – welche sie Franken nannten – selbst unter Ritterlichkeit und Ehrgefühl verstanden, und die Standarten mit ihren orthodoxen Kreuzen darauf schienen nur Anflüge einer res publica zu sein, die dem Plündern, Foltern und Ermorden ihrer Feinde so etwas Ähnliches wie eine Rechtfertigung verliehen. Doch die Kreuzritter, auf deren angebliches Ethos die romantischen Europäer rekurrierten, hätten sich mit den griechischen Banditen weitaus besser verstanden als mit ihnen.

Die Kleften kämpften aus dem Hinterhalt, verrieten sich bei Militäraktionen schon im Vorfeld durch kindisches und manisches Abfeuern ihrer Musketen, gaben schnell Fersengeld, folterten ihre Opfer aber mit großem Genuss. Den edelmütigen Griechenlandbefreiern kamen sie wie böse, kindische und grausame, auf materielle Bereicherung abzielende Barbaren vor.

Was die Philhellenen nicht verstanden und verstehen konnten: Diese Griechen hatten, von ein paar gebildeteren Vertretern einer städtischen Patrizierschicht abgesehen, weder ein Konzept von Staat noch von Nation. Auch nicht von Volk. Denn die größte gemeinsame Klammer war der orthodoxe Glaube, und hellenisches Überlegenheitsgefühl gegenüber serbischen oder bulgarischen Glaubensbrüdern war ihnen fremd, zumal die sehr ähnliche Trachten wie sie trugen. Nicht einmal den muslimischen Nachbarn fühlten sie sich überlegen, die zwar als potenzielle Gegner markiert waren, zu denen man aber doch immer wieder ein vertrautes Verhältnis pflog, solange sich nicht die Gelegenheit ergab, sie kollektiv auszuplündern, zu vertreiben und zu töten (wie diese es mitunter mit ihnen getan haben).

In gewisser Hinsicht zeigten die Kleften sich weitaus pragmatischer und somit moderner als ihre fränkischen Befreier. Denn diese waren die intellektuelle Vorhut einer kognitiven Verzerrung, welche deren Kinder und Kindeskinder in edelster Absicht vor den Karren erfundener völkischer Kollektive spannen und für die Partikularinteressen ihrer Eliten auf dem Feld der Kapitalakkumulation opfern ließ. Voltaire wusste, dass der Ursprung jeden Krieges Diebesgelüst ist. Es ist falsch, dass die Griechen und Albaner und Wlachen allein um materielle Bereicherung willen kämpften. Sie kämpften um ihr Dorf, Wlachen um ihre nomadische Sippe, Albaner und Manioten um ihren Stamm, und zumindest kämpften sie für ihre Bande, ihre Bluts- und Seelenbrüder, ihren Kapetaniós. Wenn das nicht vernünftigere Motive als die Chimären der Griechenlandfahrer waren, die auf Schafweiden den Samen der Republik pflanzen wollten, antike Tempel errichten, wo kleine orthodoxe Kapellen standen, aus Menschen unterschiedlicher Zunge und Interessen ein Herrenvolk basteln, aus Levantinern Europäer. Wie dumm, sich für höhere Werte zu opfern, die letzten Endes doch nur in steuerfreiem Beutegut neuer Eliten bestehen. Die Sache, die nicht der Emanzipation der gesamten Menschheit dient, sondern nur den Privilegien erfundener Abstammungsgemeinschaften, fällt weit hinter den Bandenegoismus der Kleften zurück, deren Ehre nicht darin bestand, für Hellas zu sterben, sondern für die eigenen Leute zu leben, nicht darin, dem Andenken des Leonidas gerecht zu werden, sondern – bei aller Grausamkeit und Hintertücke – das gegebene Wort nicht zu brechen und das Gastrecht nicht zu verletzen.

Teil 1 der Serie
Teil 2 der Serie

Going East: Franz Freiherr von der Trenck – Warlord und Mordbrenner der Kaiserin (Bild: Gemeinfrei)