Maskulinität ist der Ausdruck ihrer Krise. Oder wie AfD-Abgeordneter Björn Höcke 2015 bei einer Kundgebung in Thüringen in eine ausgewetzte Kerbe schlug: »Das große Problem ist, dass Deutschland, dass Europa ihre Männlichkeit verloren haben ... Nur, wenn wir unsere Männlichkeit wiederentdecken, werden wir mannhaft. Und nur wenn wir mannhaft werden, werden wir wehrhaft. Und wir müssen wehrhaft werden.«
Wie viele andere Diskurse ist der über die Männlichkeit eine Erfindung des 19. Jahrhunderts.
Es erscheint zu einfach, um wahr zu sein: Maskulinismus als Kompensation einer zivilisatorischen Entwicklung, die als Entmännlichung empfunden wird. Dennoch ist der kompensatorische Charakter der zyklischen Aufwallungen konzeptueller Männlichkeit stets evident. Interessanter schon sind die ideologischen Funktionen dieses verzweifelten Muskelspiels. Männlichkeit muss in Stellung gebracht werden, sobald sie angefochten wird, und erst in dieser bürgerlichen Epoche krisenhafter Maskulinität müssen die Geschlechterdifferenz und die Eindeutigkeit der Rollen wissenschaftlich festgeschrieben werden. Heroismus und maskulinistisches Getue sind ziemlich leicht durchschaubare Abwehrreaktionen auf die effeminierte Zirkulationssphäre. Sie sind mit den Invented Traditions, der Nation, dem Pochen auf zeitlose Werte Teile eines üppigen Ideologiegeflechts, mithilfe dessen die Anomien der Moderne abgewehrt werden sollen. Und vor allem ist Männlichkeit eine Funktion der zunehmenden Militarisierung der Gesellschaft, der paradoxen Gleichschaltung der Körper durch das Desiderat von Individualität und Autonomie.
Das Gedächtnis war kurz. Kaum hatte sich der Pulverdampf der Napoleonischen Kriege gelegt, war das Schreien und Heulen der Verwundeten verhallt und der Geruch von Eiter, Fäulnis, Wundbrand verweht, sah sich die nunmehr ökonomisch bestimmende Klasse an der Kandare einer neuen neoabsolutistischen Ordnung. So viel neumodische Verherrlichung von Tatmenschen, soldatischen Tugenden und Vollendern geschichtlicher Aufträge hatte nicht über den wahren Charakter dieses Weltkrieges hinwegtäuschen können: Nie zuvor waren so viele Männer wie Zinnsoldaten über so riesige Schlachtfelder geschoben und zum Kanonenfutter immer zerstörerischer Artillerien geworden. Erstmals waren über die klassischen Söldnerkontingente hinaus Bürgerarmeen in den alten Formationen Reihe für Reihe geopfert worden, um das Feld für die Kavallerieattacke vorzubereiten. In einem pathischen Wechselverhältnis steht von nun an die totale militärische Entindividualisierung, eine Vorwegnahme zugleich der Rolle des Einzelnen im Produktions- und Verwertungsprozess, zum narzisstischen Bedürfnis nach individueller Bewährung.
Je offensichtlicher der heteronome Charakter der persönlichen Identität wird, desto mehr löst sich Freiheitspathos von seinen realen Anlässen, je bedeutsamer das neu entdeckte sensuelle Ich wird, desto stärker kapselt es sich von seiner gesellschaftlichen Bedingtheit ab.
Kein Wunder, dass mit Walter Scott zu ebendieser Zeit der Abenteuerroman das bestimmende Genre wird, in welchem die Bewährung durch physische Kraft und moralische Integrität das Schicksal entscheidet, jene Eigenschaften also, die im Kontor oder Bureau der väterlichen Unternehmung eben als Mangelware zu Buche schlagen.
Der Siegeszug des Kapitalismus und des Bürgertums führte zu einem tiefsitzenden Komplex. Als Sozialtypen gewannen der Kommis, der Ingenieur, der Unternehmer, Beamte, Bürokrat an Bedeutung. Urtümliche Männlichkeit wurde nur noch vom durch physische Arbeit gestählten und dann ruinierten Bauern und Arbeiter sowie dem Soldaten repräsentiert. Mausgrau war diese Sphäre der Zirkulation, und erlebte, wie Jan Huizinga in seinem Homo ludens detailreich analysiert, auch in ihrer Kleidung einen Wandel von taillierter, tändelnder Buntheit zu grauer, schmuckloser Einheitlichkeit. Besonders in protestantischen Ländern gedieh der Nexus von Akkumulation und Demut, Bescheidenheit und Sittenstrenge gut. Sieht man sich auf amerikanischen Fotos aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg Notabeln und Unternehmer aus Neu-England mit ihren Backen- oder üppigen Lincolnbärten an und ihren hohen schwunglosen Zylindern, die aussehen wie ihre Fabrikschlöte (nicht umsonst nannte man sie stove pipe hats), bekommt man nicht nur einen Eindruck vom historischen Höhepunkt muffiger Unsexyness, sondern einer Düsterkeit, die von den Gothic Novels nur schwer übertroffen werden konnte. Ganz anders die neoaristokratischen Dresscodes der Pflanzergesellschaft im Süden, welche den von Alexandre Dumas angeregten Pariser Musketierstil (Louis Treize) beinahe übertrieben: langes Haar, elegante Schnurr- und Kinnbärte, taillierte Reitröcke und -stiefel. Heroen des Westens wie Wild Bill Hickok und Buffalo Bill kultivierten dieses Image vom Gentleman des alten Südens zum Aristokraten der Grenze. Diese Border-Dandys (bewusst unter Verwendung indianischer oder mexikanischer Accessoires) sahen so ganz anders aus, als unser vom Rockabilly-Western geprägtes Bild es haben will, doch auch sie waren das Produkt historistischer Mode, die einer langweiligen Gegenwart in eine spannende Vergangenheit zu entfliehen trachtete.
Kein Wunder, das diese mausgraue Bourgeoisie mit der Dekadenz schwanger geht. Und in den 1880er-Jahren sollte auch die Männermode sich wieder mehr effeminieren und Wert legen auf Verspieltheit,
Eleganz und Ästhetik.
Das Primat der Ökonomie schafft eine neue Massengesellschaft, in welcher Persönlichkeit, Körperlichkeit und Männlichkeit eine immer geringere Rolle spielen, umso bestimmter müssen sie zur Geltung gebracht werden. Antisemitismus und Misogynie stellen notwendige Ventile dar, um sich der eigenen Konkurrenz-Identität zu versichern. Die eigene gesellschaftliche Konstitution – Flexibilität, Unmännlichkeit, Rentabilitäts- und Profitdenken, Entwurzelung, instrumentelles Denken – wird in die Juden projiziert, gegenüber welchen man sich mithilfe der nationalen Matrix als in Boden und Tradition verwurzelt, aufrichtig, männlich, charakterstark imaginieren kann. Misogynie und Männlichkeitswahn sind nicht nur den zunehmenden feministischen Tendenzen und Anfechtungen der patriarchalen Norm geschuldet, sondern ein unmittelbarer Reflex der eigenen Verweichlichung im wahrsten Sinne der Aufweichung von imaginierten Identitätsgrenzen. Die Angst vor der weiblichen Potenz ist die unmittelbare Verarbeitung der eigenen Impotenz – der Impotenz, die reale Heteronomie mit der Einbildung persönlicher Autonomie zu vereinbaren. Der Zusammenhang von Geschlechterdifferenz und Ambivalenzabwehr verrät sich bereits in Fichtes Grundlagen des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, wo dieser eine klare Aufteilung unter den Geschlechtern fordert, denn wäre ihre Beziehung zueinander ständig in Bewegung, würde das ein ewiges Hin und Her bedeuten und die Unfähigkeit, sich auf eine bestimmte geistige und körperliche Form festzulegen. Als früher und vorerst letzter Kritiker dieser Tendenz sah Wilhelm von Humboldt in naturaler Männlichkeit nichts als »Härte und Gewaltthätigkeit«, nur »Einseitigkeit« und »Mangel«, was ihn zur Schlussfolgerung verleitete: dass »sich der Mann von seinem Geschlecht lossagen und sich dem Weiblichen nähern müsse, um wahrer Mensch zu werden«.
Das Ideal des Mannes, der Herr über sich selbst ist
Der männlichen Verunsicherung kommt man am besten mit der traditionellen Geschlechterdifferenz bei, deren Invarianz überhaupt jetzt erst biologistisch und anthropologisch festgelegt wird. Unentschlossenheit, innere Zerrissenheit, Sensibilität werden praktischerweise als Verweichlichung und folglich Verweiblichung empfunden. Gegen Ende des Jahrhunderts setzen Übermenschenrhetorik, Sozialdarwinismus und Eugenik den bürgerlichen Mann unter einen Druck, dem er durch Opferkult, Amoralismus und Härte gegen sich selbst, gegen Mensch und Natur zu entkommen trachtet. Die schwärende Identitätswunde wird mit Stahl plombiert, der fehlende Penis durch Sturmgewehre ersetzt. Sehr früh entlädt sich der Hass auf Zivilisation, Aufklärung und Ambivalenz durch archaisierende Verherrlichung der letzten wehrfähigen Individualisten: Achilles, indianische oder balkanische Stammeskrieger und Briganten – und auffallend oft landen sie bei arabischen Beduinen als konzeptuelle Anti-Juden (K. May, R. Burton, St. John Philby, T. E. Lawrence etc.). Und immer – nur die Außenperspektive enthüllt es – hat diese Verliebtheit einen schwuleren Touch, als es sich die Verliebten eingestehen wollen.
Die zutiefst homoerotische Homophobie und Misogynie eines neuen Männertypus erwehrt sich dieser Auflösung der soeben erst erfundenen Männlichkeit durch Corpsgeist, Körperkult und Verherrlichung patriarchaler Überlegenheit.
Die sich allmählich verbessernden Lebensbedingungen für den Mittelstand, die wissenschaftlichen Errungenschaften und die zivilen Tugenden dieser Klasse ließen das Selbstbewusstsein wachsen, doch an einem Ende der Geschichte zu stehen, zumindest in eine letzte Phase eingetreten zu sein, in der sich nun sukzessive alles zum Besseren wenden würde. Doch die Wohlstandsblase konnte auch verunsichern. Vor allem junge Bürgersöhne. Die übertriebene Idealisierung vergangener Zeiten und ferner Welten ist einer als langweilig wahrgenommenen Gegenwart geschuldet.
Im 20. Jahrhundert dann, in welchem Menschen die Welt zunehmend nur mehr über die Vermittlung von Konsum und kulturindustrieller Projektionsflächen erführen, wortwörtlich der Erfahrung beraubt würden, beginnt alles, was die pathisch-fragilen Identitäten ebenso pathisch festigt, zu hypertrophieren. Das gesamte Action-Genre bedient kathartisch die Größenträume der narzisstischen Mäuse, die ihrem Mäusekäfig zu entkommen trachten, und sei
es nur, indem man andere zu Mäusen macht, durch freiwillige Meldung an die vaterländische Front, zum IS oder einfach nur durch Bungee-Jumping. Dieser Nexus tritt relativ früh ein, und der Abenteuerroman ist ein früher Stimulus, der eigenen tweedgrauen, unprosaisch-kommerziellen Welt zu entkommen. Der Sehnsucht des Kommis, des kaufmännischen Angestellten, nach Persönlichkeit und Subjektivität, und sei es nur die eines kolonialen Freibeuters, hat Johann Nestroy in seiner Posse Einen Jux will er sich machen ein charmantes Denkmal gesetzt: »Glauben Sie mir, junger Mann! Auch der Kommis hat Stunden, wo er sich auf ein Zuckerfass lahnt und in süße Träumereien versinkt; da fallt es ihm dann wie ein Fünfundzwanzig-Pfund-Gewicht aufs Herz, dass er von Jugend an ans Gwölb gefesselt war, wie ein Blassel an die Hütten. Wenn man nur aus unkompletten Makulaturbüchern etwas vom Weltleben weiß, wenn man den Sonnenaufgang nur vom Bodenfenster, die Abendröte nur aus Erzählungen der Kundschaften kennt, da bleibt eine Leere im Inneren, die alle Ölfässer des Südens, alle Heringfässer des Nordens nicht ausfüllen, eine Abgeschmacktheit, die alle Muskatblüten Indiens nicht würzen kann.«
Der männliche Wunsch aber, ein Teufelskerl zu sein, ist besonders stark bei Männern ausgeprägt, bei denen es zwar nicht mehr zum Kerl, aber ganz gut zum Teufel reicht. Der schmucke Husar verwandelt in freiem Galopp sich in wenigen Generationen nur zum uniformierten Vollzugsorgan der industriellen Massenvernichtung.