Psychofasching

Marcel Matthies über Thomas Melles 3000 Euro und Die Welt im Rücken.

Thomas Melles 2014 erschienener Roman 3000 Euro ist eine Bankrotterklärung der Humanität. Seine zwei Protagonisten Anton und Denise sind zwei verkrachte Existenzen. Anton, Obdachloser und ehemaliger Jura-Student, leidet an einer bipolaren Störung, auch manisch-depressive Erkrankung genannt. Er hat sein Leben in einem abgründigen Höhenflug versaut, Freunde verloren, sich verschuldet, seine Wohnung gekündigt und wartet nun auf einen Gerichtstermin. Der Kläger will seinen Anspruch auf 3000 Euro geltend machen, wohingegen Anton krankheitsbedingt als geschäftsuntüchtig anerkannt werden will. Denise, Kassiererin im Discounter Lidl und alleinerziehende Mutter einer Tochter mit Wahrnehmungsstörungen, leidet an der Durchschnittlichkeit ihres Lebens und träumt von Glamour und einem Urlaub in New York. Sie hat für eine versprochene Gage in Höhe von 3200 Euro als Darstellerin in drei Internet-Porno-Clips mitgewirkt, die sie sich gelegentlich ansieht, um ihr Ego an den Bildern von sich und den Kommentaren anderer User aufzumöbeln. Voller Stolz und Scham hat sie ihre Haut zu Markte getragen, doch wartet sie bislang auf das Geld. In jedem männlichen Kunden an der Supermarktkasse sieht sie einen potentiellen Konsumenten von Internetpornographie. Es scheint, ihre Befürchtung als Pornoqueen erkannt und entlarvt zu werden, ist der einzige Kitzel in der brutalen Stumpfheit ihres Lebens. An der Supermarktkasse verdichtet sich bezeichnenderweise die Warenförmigkeit von materiellen Erzeugnissen der Lebensmittelindustrie und simulierten Emotionen der Pornoindustrie. Es zeichnet sich ab, dass die Stimulation von zu Waren degradierten, jedoch zunehmend authentisch simulierten Gefühlen die Armut sozialer Kontakte und emotionaler Bindung kompensieren wird.

Durch die Erbärmlichkeit der beiden mit Empathie gezeichneten Figuren sowie die sich abwechselnde erzählerische Fokussierung auf eine der beiden Figuren entsteht ein gewisser Sog. Die Figuren verweisen trotz ihres randständigen Daseins als Abgehängte auf eine allgemeine Tendenz: Ein Mensch benutzt den beliebig austauschbaren Anderen nur noch zur Stimulation von Gefühlen, die durch Simulation von Nähe und Intimität von der alltäglichen Tristesse befreien. Die Gesetze des Marktes realisieren sich heimtückisch im Denken, Fühlen, Wollen und Handeln der Menschen, indem sie sich gegenseitig zu Waren machen. Der Roman leistet so, was Leo Löwenthal als fundamentale Aufgabe von Literatur begreift: Sie dokumentiert Privatsphäre, um daran die gesellschaftliche Vermittlung des psychischen Innenraums zu demaskieren.

Anton und Denise begegnen sich, sind sich irgendwie sympathisch aber zugleich bindungsunfähig. Irgendwann landen sie dennoch im Bett. Denise wünscht sich zwar, ihm mit 3000 Euro unter die Arme zu greifen, trifft aber stattdessen aus dem Bauch heraus die Entscheidung dafür, den lang gehegten Traum zu realisieren, Urlaub in New York zu machen. Währenddessen verwirklicht Anton schlussendlich den Plan, sich das Leben zu nehmen. Das Geld ist die bestimmende Kraft im Verhältnis der Protagonisten zu sich selbst und zu anderen Menschen. Das Finale des Romans wirkt schablonenhaft. Die Erwartungshaltung des Lesers, dass durch das Geld, das Denise übrig und Anton gerade bitter nötig hat, sich alles zum Guten wenden würde, wird enttäuscht. Dass das Geld als universelles Tauschmittel ausgerechnet für einen Trip nach New York quasi verjuchheit und nicht sozial gerecht an den bedürftigen Anton umverteilt wird, lässt sich als sublimierte, mental-dispositive Aversion gegen New York lesen. Denn diese Stadt symbolisiert wie keine zweite das Sinnbild von Dekadenz, Ausschweifung und Wall-Street-Kapitalismus im Zeichen des globalen Antiamerikanismus.

Die Manie, die zeitlich vor dem Einsetzen des Romangeschehens liegt, hat irreparable Schäden in Anton und seiner Lebensgeschichte hinterlassen. In einer Rückblende heißt es über seine hormonelle Achterbahnfahrt: »Anton kaufte sich neue Kleider, die er bald wieder wegwarf. Er lud fremde Menschen auf bunte Cocktails ein. Er ging fein essen, wenn er Hunger verspürte. Er kaufte Garnelen. Er reiste nach London, verbrachte dort überteuerte Tage und hing später auf Heathrow fest. Er verwüstete seine Wohnung. Er kaufte Champagner und warf die Flasche nach wenigen Schlucken gegen eine Wand. Er verlor zwei Computer und drei Handys. Oder wurden sie ihm gestohlen? Er weiß es nicht mehr. Es ging schnell, und bevor Anton wieder zur Vernunft kam, hatte er sich die Zukunft verbaut. Das Gefühl des Höhenfluges war in Wahrheit der Schwindel des Absturzes gewesen. Es hatte nur nie einen Aufprall gegeben. Als er wieder zu sich kam, lag er da und wunderte sich, wo die guten Gefühle hin waren. Und das Geld. Und sein verfluchtes Leben.«

Der Roman 3000 Euro liefert ein Porträt unserer Zeit, da allgemeine Tendenzen der Bindungslosigkeit, Vereinsamung und Warenförmigkeit verhandelt werden. Während es in 3000 Euro um eine fiktionalisierte Verarbeitung der sozialen Wirklichkeit in Romanform geht, die weit über Antons bipolare Erkrankung hinaus weist, bringt das 2016 erschienene Buch Die Welt im Rücken eine beklemmende Forschungsreise in die Psyche des manisch-depressiven Autors zur Darstellung. Im Gegensatz zu seinen bisherigen Veröffentlichungen macht Thomas Melle in der autobiographischen Abhandlung ausschließlich die bipolare Störung zum literarischen Gegenstand.

Warum der Autor das Buch als autobiographischen Roman bzw. nonfiktionalen Roman verstanden wissen will, lässt sich darauf zurückführen, dass der Maniker in der akuten Krankheitsphase dem Trommelfeuer überglühender Nervenenden und unkontrollierbaren Synapsenchrashs unterworfen ist. Der vollständige Verlust der Souveränität über das eigene Ich löst einen Ausnahmezustand aus, der sich retrospektiv nicht in die Lebensgeschichte integrieren lässt. Da sich die Gestaltung des Lebens insbesondere in der manischen Phase gänzlich der eigenen Kontrolle entzieht, verschwimmen die Grenzen zwischen Fiktion und Faktizität, zwischen Roman und Autobiographie. Was es heißt, die höchst exzessive Phase der Manie irgendwie in die Lebensgeschichte zu integrieren, macht dieses Buch deutlich. Gerade in der Tatsache, dass der Autor seiner phänomenologischen Darstellung der Erkrankung verweigert, eine Autobiographie zu sein, zeigt sich die Unmöglichkeit, die Totalität der Manie als authentischen Teil der Biographie anzuerkennen. Der schonungslose Text stellt den Versuch dar, die krankheitsbedingte Sabotage der eigenen personalen Identität ein Stück weit rückgängig zu machen, um zumindest rückwirkend die Definitionsmacht über die von dieser Störung beschädigten Lebensgeschichte zurück zu erlangen:

»Ich bin zu einer Gestalt aus Gerüchten und Geschichten geworden. Jeder weiß etwas. Sie haben es mitbekommen, sie geben wahre oder falsche Details weiter, und wer noch nichts gehört hat, dem wird es hinter vorgehaltener Hand kurz nachgereicht. In meine Bücher ist es unauslöslich eingesickert. Sie handeln von nichts anderem und versuchen doch, es dialektisch zu verhüllen. So geht es aber nicht weiter. Die Fiktion muss pausieren (und wirkt hinterrücks natürlich fort). Ich muss mir meine Geschichte zurückerobern, muss die Ursachen, wenn sie schon nicht abbildbar sind, wenn sie sich in den Konstruktionszeichnungen nicht finden, durch exakte Beschreibung der Unfälle emergieren lassen.«

Genau hierin besteht das Verdienst dieser Aufzeichnungen vom Flug in den Abgrund. Melle erschafft ein einzigartiges Porträt dieser dämonisch-messianischen Erkrankung, ohne die Manie als Zusammenspiel von Genialität und Wahnsinn zu verklären. Denn psychotisch oder paranoid zu sein, so Melle, hat nichts mit Künstlertum oder Schöpferkraft zu tun. Statt die unsagbar katastrophale Erkrankung zu idealisieren, geht es ihm darum, eine Sprache dafür zu finden. Indem Melle mithilfe der Literatur eine psychische Wirklichkeit modelliert, öffnet er einen schwer zugänglichen Erfahrungsraum. Durch sprachliche Präzision und eine obsessiv um Anschaulichkeit bemühte literarische Übersetzungsleistung von Emotionen, Erlebnissen, Erfahrungen und Phantasmagorien gelingt es ihm, das Enigmatische dieser Erkrankung literarisch zur Darstellung zu bringen:

»Außen war Psychofasching, innen wüteten Geschichtsparanoia und semantischer Wahn, die sich unzertrümmerbar verfestigt hatten. Ich war also wirklich ein Experiment der Menschheit, der langerwartete Messias, der sich aber als ganz normaler Mensch herausgestellt hatte und somit allen Religionen den Garaus machte, allen Teleologien auch. Wir waren durch meine Normalität in ein neues, vernunftgeleitetes Paradies eingetreten, das Mythos und Aufklärung versöhnte.«

Die Besonderheit der Erkrankung besteht in dem Paradoxon, dass der Manisch-Depressive auf dem Tiefpunkt den Höhepunkt erlebt. Wenn plötzlich Alles mit Allem im Zusammenhang zu stehen scheint, ist ein für Außenstehende befremdlicher Zustand der Erleuchtung erreicht. Während in der manischen Phase die Existenz als einziges Feuerwerk der Gefühle erlebt werden kann, als auflösender Rausch der Sinne und Ideen, schlägt es den Erkrankten in der Depression in die grausame Monotonie der Normalität zurück, die sich gegenüber der hormonellen Ekstase wie ein sich ausdehnendes, inneres, schwarzes Loch anfühlt, dessen Leere mit der Abwesenheit jeglicher emotionaler Intensität einher geht. Sind die Depression und die Manie abgeklungen, kehrt die dritte Ich-Form zurück, um überfordert festzustellen, dass die Ich-Formen als Maniker und Depressiver Spuren hinterlassen haben, die sich dem Verstehen im Nachhinein vollständig entziehen, da sich eine Verbindung zum manischen und depressiven Ich »nur qua Erinnerung, aber kaum qua Identität« herstellen lässt. Die Fakten sprengen retrospektiv die Erklärungen. Melles Verdienst ist es, mittels der detaillierten Aufzeichnungen aus dem Inneren des Manisch-Depressiven deutlich zu machen, wie zerbrechlich die menschliche Psyche ist.

»Wenn Sie manisch-depressiv sind, hat Ihr Leben keine Kontinuität mehr. Was sich vorher als mehr oder minder durchgängige Geschichte erzählte, zerfällt rückblickend zu unverbundenen Flächen und Fragmenten. Die Krankheit hat Ihre Vergangenheit zerschossen, und in noch stärkerem Maße bedroht sie Ihre Zukunft. Mit jeder manischen Episode wird Ihr Leben, wie Sie es kannten, weiter verunmöglicht. Die Person, die Sie zu sein und kennen glaubten, besitzt kein festes Fundament mehr. Sie können sich Ihrer selbst nicht mehr sicher sein. Und Sie wissen nicht mehr, wer Sie waren. Ihre Taten sind Ihnen fremd, obwohl Sie sich an sie erinnern können. Was sonst vielleicht als Gedanke kurz aufleuchtet, um sofort wieder verworfen zu werden, wird im manischen Kurzschluss zur Tat. Jeder Mensch birgt wohl einen Abgrund in sich, in welchen er bisweilen einen Blick gewährt; eine Manie aber ist eine ganze Tour durch diesen Abgrund, und was Sie jahrelang von sich wussten, wird innerhalb kürzester Zeit ungültig. Und danach fangen Sie nicht bei null an, nein, Sie rutschen ins tiefste Minus, und nichts mehr ist mit Ihnen auf verlässliche Weise verbunden.«

Was im Roman 3000 Euro nur in undeutlichen Umrissen dargestellt wird und folglich dem dafür nicht sensibilisierten Leser völlig unklar bleibt, ist das traurige Faktum, dass die bipolare Störung mit einer Verstümmelung der Seele einhergeht. In Die Welt im Rücken gelingt es, den totalen Drang nach Selbstheit (Manie) in schillernden Farben und das tiefschwarze Loch der Selbstentwertung (Depression) textlich zu fixieren. Ergebnis ist der Verlust des Bezuges zu sich selbst sowie zu Verwandten, Freunden und Bekannten. Der Manisch-Depressive wird sich selbst zur Frage, auf die nicht einmal ansatzweise eine kohärente Antwort möglich ist.
 


Melle, Thomas (2014): 3000 Euro. Roman. Berlin (Rowohlt), 208 Seiten, ISBN: 978-3-87134-777-1, Hardcover, 18,95 Euro

Melle, Thomas (2016): Die Welt im Rücken. Berlin (Rowohlt), 352 Seiten, ISBN: 978-3-87134-170-0, Hardcover, 19,95 Euro

Thomas Melles (Bild: Udo Weier)