Spiegele deinen Nächsten wie dich selbst

Seit den achtziger Jahren fungiert Narzissmus weniger als psychoanalytischer Begriff denn als moralisches Urteil. Magnus Klaue fragt nach dem Wahrheitsgehalt der Rede von der narzisstischen Gesellschaft.

Im April 1987 gab die Psychologin Alice Miller, die durch ihren 1979 erschienenen Bestseller »Das Drama des begabten Kindes« und das 1980 erschienene Buch »Am Anfang war Erziehung« einem breiten Publikum bekannt geworden war, in der Zeitschrift Psychologie heute ihre Abkehr von der Psychoanalyse bekannt. Vorbereitet hatte sich diese Abkehr in ihren Publikationen der vergangenen Jahre. In »Am Anfang war Erziehung« hatte Miller auf Katharina Rutschkys 1977 veröffentlichte Quellensammlung »Schwarze Pädagogik« Bezug genommen, die anhand der Erziehungspraxis des westeuropäischen Bürgertums seit dem 18. Jahrhundert den Widerspruch zwischen den aufklärerischen Idealen bürgerlicher Pädagogik und dem oft barbarischen Erziehungsalltag in Familien und Schulen darstellte. Miller nahm an Rutschkys Buch zwei Umdeutungen vor. Zum einen beschränkte sie sich nicht wie Rutschky auf die Darstellung des vergangenen und teilweise noch fortwirkenden Erziehungsalltags, sondern richtete ihre pädagogikkritische Polemik im Stil der Yellow Press an prominenten Einzelpersönlichkeiten aus, die durch ihr bedauernswertes oder erschreckendes Leben jedem Leser bekannt waren. Neben der aus dem 1978 erschienenen Film »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« bekannten Drogensüchtigen Christiane F. wählte sie berühmte Serienmörder, aber auch Adolf Hitler aus, um an ihnen die katastrophalen Folgen autoritärer Erziehung zu illustrieren. Zum anderen ergänzte sie Rutschkys Terminus der Schwarzen Pädagogik durch den der »Schwarzen Psychoanalyse«. Darunter verstand Miller eine Form von Psychoanalyse, die ihren Patienten einrede, dass erinnerte gewalttätige kindliche Erfahrungen primär Phantasien reflektierten, während solche Erinnerungen, so Miller, in Wahrheit Niederschlag wirklicher Erlebnisse von körperlicher und psychischer Gewalt seien. Freuds Revision seiner Verführungstheorie, in der retrospektive Erinnerungen sexueller Kontakte mit dem Vater oder anderen Familienangehörigen nicht mehr (wie Freud zu Beginn angenommen hatte) als wirkliche Erinnerungen, sondern als imaginäre Überformung und Überlagerung nicht notwendig gewaltförmiger frühkindlicher Erfahrungen gedeutet wurden, war für Miller eine Verharmlosung realer Gewalterfahrung.

Die von Rutschky seit den späten Achtzigern geübte Kritik am neopuritanisch-feministischen Ressentiment gegen Pädophilie, die in der damaligen Frauenbewegung und linken Pädagogik auf vehemente Abwehr stieß, war auch eine Antwort auf die massenwirksame Entstellung von Rutschkys Thesen durch Miller. Den von körperlichen Strafen, Angstmacherei und moralischer Erpressung bestimmten Erziehungsalltag der bürgerlichen Gesellschaft zu kritisieren, bedeutete für Rutschky anders als für Miller nicht, im Umkehrschluss den unschuldigen Kindern gegen die bösen Erwachsenen Recht zu geben. Im Gegenteil deutete Rutschky in ihrem 1992 erschienene Essay »Erregte Aufklärung« die Hetzjagd gegen Pädophile in der damaligen Frauenbewegung und linken Pädagogik ihrerseits als modernisierte Form der Schwarzen Pädagogik: als in ihr Gegenteil umgeschlagene Aufklärung, die Kinder unter dem Vorwand des Kinderschutzes einem autoritären Paternalismus unterwerfe. Eine ähnlich falsche Positivierung psychoanalytischer Begriffe hatte Miller 1979 in »Das Drama des begabten Kindes« vorgenommen. Dort hatte sie den bei Freud ambivalenten Terminus des Narzissmus als die kindliche Entwicklung fördernd und für das spätere Erwachsenwerden des Kindes notwendig neubestimmt. Insbesondere an sogenannten begabten Kindern und deren Psychogenese, so Miller, lasse sich erkennen, wie wichtig es sei, den frühkindlichen Narzissmus nicht als zu überwindende Phase kindlicher Entwicklung, sondern als Movens der Entwicklung erwachsener Kreativität und Sensibilität wahrzunehmen. Während die Freud‘sche Psychoanalyse den primären Narzissmus als notwendiges Moment der psychosozialen Entwicklung ansah und von narzisstischen Pathologien, die Resultat misslungener Differenzierung des Ichs von der Außenwelt seien, abgrenzte, plädierte Miller für eine pädagogische Bestätigung des kindlichen Narzissmus, den sie statt als Ausdruck von Triebimpulsen als »Bedürfnis« des Kindes verstand, dem dessen Umfeld Recht widerfahren lassen müsse.

Millers Konzeption des Narzissmus, die in die sechziger Jahre zurückreicht, als sie sich mit Heinz Kohut und dessen Begriff des Selbst zu beschäftigen begonnen hatte, lässt daran zweifeln, ob sie vor ihrer öffentlichen Abwendung von der Psychoanalyse überhaupt jemals deren Begriffen verpflichtet gewesen war. Ihre schon damals erkennbare Tendenz, den Begriff des Narzissmus von dem des Triebs zu lösen und stattdessen als pädagogische Frage der Anerkennung von Bedürfnissen zu behandeln, widerspricht jedenfalls eklatant dem psychoanalytischen Narzissmusbegriff. Millers Versuch in »Das Drama des begabten Kindes«, jugendliche Entwicklungsstörungen als Folge eines »blockierten«, durch die Erziehung gehemmten kindlichen Narzissmus zu deuten, gehört zu den frühesten Zeugnissen der heute gesamtgesellschaftlich verbreiteten Neigung, jeden individuell oder institutionell artikulierten Widerspruch zur subjektivistischen Willkür, jeden objektiven Widerstand gegenüber dem Voluntarismus der vereinzelten Einzelnen statt als Index von deren Ohnmacht als bloßes Hindernis aufzufassen, das durch Sprechorttheorie, Mediation und Coaching aus der Welt zu nivellieren sei. Dass Miller seit »Im Anfang war Erziehung« Freuds Triebtheorie als Leugnung realer frühkindlicher Gewalt- und Missbrauchserfahrungen verworfen hat und der seit den Achtzigern virulenten Vorliebe zuarbeitete, jegliche Frustration und jeden erzwungenen Verzicht auf Verwirklichung eigener Omnipotenzphantasien als »Missbrauch« zu etikettieren, war die Konsequenz dieses Narzissmusbegriffs.

In der Tendenz zur Ablösung des Narzissmusbegriffs von der Triebtheorie und zur Moralisierung psychoanalytischer Begriffe ähnelt Miller dem Historiker Christopher Lasch, der auf dem Gebiet der Narzissmustheorie in den achtziger Jahren eher als ihr Gegenspieler zu bezeichnen wäre. In vieler Hinsicht verhält sich die Kritik, die Lasch in seinem 1979 erschienenen Buch »Das Zeitalter des Narzissmus« formuliert hat, spiegelbildlich zu Millers Narzissmuskonzeption. Wo Miller den kindlichen Narzissmus am Beispiel des »begabten Kindes« als Produktivkraft von »Persönlichkeitsentwicklung« darstellt, deutet Lasch die zeitgenössische Gesellschaft als Spielwiese eines infantil entgrenzten Alltagsnarzissmus. Und wo Lasch den sozialen Institutionen, wie den Einzelnen vorwirft, narzisstische Impulse kollektiv und unsublimiert zur Geltung zu bringen, kritisiert Miller die Institutionen, insbesondere die Erziehungsagenturen, für ihre Abwehr narzisstischer Bedürfnisse. Auch in der geschlechtertheoretischen Zuweisung des Narzissmus ähneln sich beide. Während Miller die von ihr verteidigte Duldung, Akzeptanz und Förderung narzisstischer Impulse eher der Sphäre »weiblicher Erfahrung« zuordnet, zeigt sich für Lasch die Entgrenzung und Verallgemeinerung des Narzissmus unter anderem an einer geschlechterübergreifenden »Verweiblichung« des Alltagsverhaltens, zum Beispiel beim Modegeschmack und in der Wertschätzung »weiblicher« Sozialkompetenzen wie Kommunikativität und Empathie.

Doch so aufschlussreich Laschs Buch für das Verständnis der Konstitutionsformen spätbürgerlicher Subjektivität ist, so sehr ähneln sich Lasch und Miller in der Moralisierung des Narzissmusbegriffs. Mögen auch manche Fallanalysen und daraus abgeleiteten Begriffsbestimmungen in Freuds Narzissmustheorie deren historische Begrenztheit zeigen, hat Freud stets darauf beharrt, dass die Arbeit des Psychoanalytikers zwar von dessen moralischen Urteilen nicht abstrakt getrennt werden kann, aber auch nicht durch sie getrübt werden darf. In dieser Fähigkeit zur Differenzierung zwischen analytischer Diagnostik und moralischem Urteil war auch Otto F. Kernberg, dessen Studie »Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus« vier Jahre vor den Büchern von Lasch und Miller erschien (Versorgerin #129), dem Freud’schen Ansatz verpflichtet. Erst mit den komplementären Auffassungen von Narzissmus als gesellschaftlich produktivem oder zerstörendem Phänomen in »Das Drama des begabten Kindes« und »Das Zeitalter des Narzissmus« wurde ab 1979 die moralische Deutung des Narzismussbegriffs massenwirksam.

Um solche Moralisierung zu verstehen, die sich auch an anderen Begriffen der Psychoanalyse wie denen der Regression, der Sublimierung und des Fetischismus beobachten lässt, eignet sich Laschs Buch besser als die Bücher von Miller. Denn die Entgrenzung des pathologischen Narzissmus, seine Verallgemeinerung zu einem als Normalität betrachteten Phänomen, ist eine der Gründe für die moralische Aufladung des Begriffs. Psychoanalytisch gehört der Narzissmus als deren Moment ebenso konstitutiv zur Subjektgenese wie die Fähigkeit zur Objekterfahrung, zur Reflexion des anderen als dem eigenen Ich nie vollständig Kommensurablem. Die Funktion des Spiegels, die in gelungenen Sozialbeziehungen jeder für jeden anderen und dadurch vermittelt für sich selbst erfüllt, ist nur gewährleistet, solange der Spiegelnde das Selbstbild des Gespiegelten nicht einfach verdoppelt, sondern es durch den empfangenden Blick verändert zurückwirft. Ein reiner, durch keine fremde Subjektivität getrübter Spiegel ist nicht nur unmöglich, sondern sinnlos: nichts als Ausdruck des Wunsches nach restloser Selbstverdoppelung, das heißt nach Reduktion des anderen auf ein Echo des Eigenen. Nur in einem transformierten, in der Veränderung getreuen Bild vermag das Subjekt sich als anderes zu sehen und zu reflektieren.

Was Lasch als soziale Entgrenzung des Narzissmus beschreibt, zielt polemisch auf genau jenen Subjektzerfall, der sich auch in der Moralisierung psychoanalytischer Begriffe ausdrückt. Nur kommt Lasch über diese Diagnose kaum hinaus, weil er die »Gesellschaft des Narzissmus« ebenfalls einem moralischen Urteil unterwirft, statt ihre Konstitutionsbedingungen aufzuschließen. Die Gesellschaft als kollektive narzisstische Selbstbespiegelung ihrer Insassen zu verurteilen, oder sich die Gesellschaft als Kollektiv möglichst reiner Spiegel für lauter narzisstische Selbste zu wünschen, sind letztlich zwei Varianten derselben Logik. Diese wiederholt blind die Form reiner Selbstbespiegelung, die eher ein nachbürgerliches als ein bürgerliches Phänomen ist. Nicht zufällig war die Kunst des Bürgertums, mit der Literatur und Philosophie der Romantik als Gipfelpunkt, geradezu besessen von Spiegeln. Von Spiegeln allerdings, die das Gespiegelte nie nur spiegeln, sondern verzerren, vervielfältigen und gegen sich selbst kehren: Der Doppelgänger war die prominenteste Figuration einer solchen Spiegelung, die das Subjekt verunsicherte und gerade dadurch zur Selbstreflexion nötigte. Die reinen Spiegel, die der vom Narzissmus besessenen, ihn aber nicht begreifenden Gesellschaft als Modell von Subjektivität dienen, verstören und nötigen niemanden mehr. Sie führen den Narzissmus als Gegenstand der Psychoanalyse an sein Ende, indem sie nichts anderes kennen als ihn.

Narzisstisches Wunderland oder Anlass für Selbstreflexion? Unendlichkeitsspiegel im Nationalen Technikmuseum in Warschau. (Bild: Przemek P (CC-BY-3.0))