Am 28.11.2016 war auf der Website des Ça-Ira-Verlags plötzlich zu lesen: “Uli Krugs Buch Der Wert und das Es 1ist soeben erschienen.“ Sowohl Autor als auch Verlag ließen sich einige Zeit. Ein Vorauszug wurde vor fünf Jahren als Dossier in der Jungle World veröffentlicht, dem ein Nachtrag folgte: „Der Autor kommt hin und wieder dazu, an dessen Fertigstellung zu arbeiten. Der Veröffentlichungstermin ist jedoch vorerst ungewiss.“ Es dürfte weithin bekannt sein, dass die Veröffentlichung und der betreffende Termin in einigen Kreisen schon als Running Gag rotierte, in anderen oder auch denselben aber letztlich auch Zweifel aufkamen, ob es denn noch etwas werden würde. Es passt irgendwie, dass die um ein Jahr verspätete Besprechung sich somit gut in die Editionsgeschichte des Buches einreiht. Wobei wir anfangs durchaus bewusst verzichteten, eine Rezension zu verfassen, denn die wohl kaum extra auszuweisende geistige und institutionelle Nähe zwischen Autor und Rezensentinnen mag nicht gerade für jene Unparteilichkeit einstehen, welche oftmals als Maß der Objektivität gilt, und zu sehr an jene geisteswissenschaftlichen Korps und ihren Geist erinnert, in denen man Kollegen in den einschlägigen Fachzeitschriften mit Lob überhäuft, die „Mitbewerber“ um Fördertöpfe aber abkanzelt.
Von daher sei hier auch Moritz Schwab „gedankt“, der schon im Titel seiner, in der Ausgabe 3/2017 der Wiener Hochschulpostille UNIQUE erschienen Besprechung das Urteil auf das gesamte „Elend der Psychoanalyse in der antideutschen Kritik“ ausdehnte.2 Der Ça-Ira-Verlag, äußerst unparteiisch, veröffentlichte die per Mail zugesandte, wesentlich längere und vor allem drastischere Variante.3 Die Besprechung wurde tendenziell zum Verriss, in dem darüber hinaus die ideelle antideutsche Gesamtkritik „in Zeitschriften wie der Bahamas und der Sans Phrase“ gemeinsam ihr Fett abbekam. Schwabs Kritik ist weder gut noch wahr, sondern in erster Linie symptomatisch. Seine Einwände sind in der Ausführlichkeit insofern erwähnenswert sowie diskutabel, weil sie gerade in dem Versuch, die Erkenntnisse Krugs abzuwehren, gleichzeitig den Stachel, der sich in der Arbeit Uli Krugs offenbart, noch einmal bewusstlos bestätigen. Es mag sein, dass die Urteile Krugs für gewisse Leser nicht explizit genug formuliert sind, was aber diese Leser, die anscheinend Botschaften und Anleitungen erwarteten, mehr verurteilt als das Buch, und nun, wie Schwab, konstatieren, jene Arbeit „verspricht dem Titel nach viel, hält aber wenig ein.“ Die Enttäuschung, welche Schwab stellvertretend für einige andere Leser zum Ausdruck bringt, ist erst einmal einer maßlosen Erwartungshaltung geschuldet, die sowohl durch die Verzögerung als auch durch den Untertitel „Über Marxismus und Psychoanalyse in Zeiten sexueller Konterrevolution“ genährt wurde.
Schwab bemängelt: „Weder über Marxismus noch über Psychoanalyse wird viel gesagt“. Und endet vorerst mit der Diagnose, „dass die antideutsche Kritik heute zur Psychoanalyse nichts mehr zu sagen hat, eigentlich nie etwas zu sagen hatte.“ Gerade das aber beweist, dass er ausversehen und bewusstlos doch etwas verstanden hat. Diese Erkenntnis bestünde als bewusste darin, dass sich nämlich erstens über die oder gar zur Psychoanalyse tatsächlich wenig, mit Freud (so auch der gleichnamige Titel eines anderen primär psychoanalytisch argumentierenden Werkes aus demselben Verlag) über die Psyche aber einiges sagen lässt, wie auch wenig über den Marxismus, mit Marx aber einiges über die politische Ökonomie; sofern man sich der „doppelten Revision“ entledigt hat: „einer Revision Freuds, dem der Pessimismus austrieben werden soll, und einer Revision Marx´, der vom Kritiker der Ökonomie zum Theoretiker der Volkswirtschaft heruntergebracht wird.“4 Letzteres findet anlässlich des Geburtstags der Kritik der politischen Ökonomie in einem Ausmaß statt, das zur Zeit der Abfassung des krugschen Buches noch nicht abzusehen war. Das „Über“ des Untertitels wird somit im Text selbst zum „Gegen“ die Revisionen, welche Marxismus und Psychoanalyse maßgeblich prägten. Das „Büchlein“, wie Schwab es nennt, richtet sich in diesem Sinne gegen die Realgeschichte der beiden Theoriestränge.
Man muss den Spruch, nach dem in der Kürze die Würze liege, nicht mögen, und kann doch anmerken, dass er den Gehalt von „Der Wert und das Es“ ausnahmsweise gut umreißt. Gemeint wäre damit, dass das Buch als Grundlagentext, als welchen Schwab es einordnete, dazu verdammt war, sich selbst Askese aufzuerlegen, da es sich um eine Intervention handelt, die sich nicht nur in die bezüglichen Grundlagendebatten einmischt, sondern über weite Strecken eine Schrift gegen das Bedürfnis, jene vermeintlich sauberen geschiedenen Bestimmungen insbesondere des Wertes wie auch des Unbewussten abzuliefern und zu rezipieren, darstellt; und sich gegen jene Stränge richtet, deren Hauptaugenmerk auf den Marxschen Rechnungen im Kapital liegen und die versuchen den passenden oder notwendigen Zeitpunkt der Revolution per Algebra herauszufinden oder die Libido mithilfe des Testosteronspiegels oder anderer biologischer Faktoren zu messen.
In diesem Sinne wäre „Der Wert und das Es“ vor allem ein Werk, dass sich explizit gegen das Verlangen nach einem neuen Grundlagenwerk richtet, indem der Zusammenhang von Ökonomie und Psyche, Marx und Freud, Kritik der politischen Ökonomie und Psychoanalyse als sauber auseinander ableitbarer behauptet wird. Im Gegensatz dazu ging es Krug darum, „Marx´ und Freuds Theorie nicht durch doppelte Revision zusammenzuzwingen, sondern durch doppelte Orthodoxie ihre fremde Nähe zu entdecken.“ Ferner verweist Krug darauf, dass „die gegenseitige Fremdheit der beiden Theorien“ ihren Wahrheitsgehalt in dem Bruch zwischen ihren jeweiligen Gegenständen hat, weshalb Krug gegen eine wichtige Tendenz scheinbar „kritischer“, letztlich aber nur vereinfachender Lesarten explizit betont: „Kurz und gut, die Gesellschaft spiegelt sich nicht im Individuum wider!“
Es stimmt nicht, dass Krug oder andere Antideutsche „Psychoanalyse als Kritik der psychischen Konstitution von Gesellschaft“ auffassen. Ganz unvermittelt zwingt Schwab das Zusammendenken von Psychoanalyse und politischer Ökonomie zu einer Identität, der sich Krug begründeter Weise verweigerte. Daher ist es auch keineswegs erstaunlich, wie schnell aus seiner Forderung, „Gesellschaftsanalyse und Psychoanalyse zusammenzudenken“ jene wird, die „Psychoanalyse als Gesellschaftsanalyse auf dem Stand der aktuellen Entwicklungen zu denken und zu formulieren“. Das „Verhältnis von Psychoanalyse und Gesellschaftskritik“ (Schwab) wird zugunsten einer Identität kassiert. Wenn ein tendenzieller Verriss eines Werkes, das den Titel Der Wert und das Es trägt, gänzlich ohne Rekurs auf ökonomische Kategorien und Begriffe wie eben Wert oder Ware auszukommen meint, beweist das die Vorannahme eines im schlimmsten Sinne sozialwissenschaftlichen und politologischen Begriffs von Gesellschaft. Auf jene Problematik verweist schon ein von Krug nur in Klammern gerahmter Nebensatz, wonach nicht nur „die Wissenschaft vom Ich“, also „die Psychoanalyse schlicht mausetot“ sei, „sprich irrelevant“, und dies nicht zuletzt, da das klassische Ich selbst mausetot ist, sondern auch der „Niedergang der Soziologie als eigenständiger Disziplin“ verstanden werden muss als Ausweis jener Tendenz, nach der der Gegenstand der sogenannten „Gesellschaftsanalyse“ oder „-kritik“, wie sie Schwab euphorisch fordert, längst etwas ist, das „kaum mehr den Namen Gesellschaft verdient“. Besonders deutlich zeigt sich das daran, dass Soziologie, Kritik der politischen Ökonomie und Psychoanalyse gemeinsam mit unzähligen anderen Disziplinen längst zur „Sozialwissenschaft“ nivelliert wurden, welche Moritz Schwab dann auch völlig selbstverständlich als einziges anderes Medium bzw. einzige weitere Disziplin der „Gesellschaftsanalyse“ angibt, was ein erster Beweis der im Folgenden häufiger sich zeigenden Geschichtslosigkeit wäre.5 Christine Kirchhoff wies in ihrem sehr pointierten Aufsatz „Hass auf Vermittlung und »Lückenphobie«“ darauf hin, dass „die Psychoanalyse wichtig für [und nicht als] Gesellschaftskritik ist“ [u.Hrvh.], wobei sie sogleich betonte: Keineswegs „lässt sich aus gesellschaftlichen Erfordernissen die Verfassung der Individuen ableiten.“6 Eben deshalb pochte Adorno auf eine dialektische Auffassung vom Ich, als „ein Stück Libido und der Repräsentant der Welt“, dessen Aufgabe nicht einfach aufgelöst werden könne, da die widersprüchliche Bestimmung des Ich, bewusste Erkenntnis als Selbsterhaltung zu vollziehen, und um als Person bestehen zu können unbewusste Verbote und Verzichte aufzurichten, selbst Ausdruck der Lebensnot ist.
Selbstverständlich hätte der Wert und das Es gut und gern ein paar tausend Seiten umfassen müssen, wollte es in Modellen und konkreten Urteilen jede kleinste Alltagserscheinung gebührend kritisieren. Letztlich scheint dies die einzig verbliebene Form für die Versuche sich dem konkreten Gegenstand zu nähern, weshalb, wie Wolfgang Pohrt einmal bemerkte, auch im Falle Adornos die Minima Moralia und nicht die Negative Dialektik das Hauptwerk des Autors sei; über Marx hingegen heißt es, er habe „am Übergang von einer Welt der großen philosophischen Systeme zu einer Welt, die sich systematisch nicht mehr erfassen und darstellen lässt, [gestanden]. Marx ist der letzte große Systematiker und zugleich der Erste, bei dem die Bruchstücke so wichtig sind wie das ausgearbeitete System. […] Die Zeit für solche Werke [meint: das Kapital] war vorbei, nach Marx hat keiner mehr welche zustande gebracht.“7 Genau das ist der objektive Hintergrund davon, dass es, anders als Schwab es behauptet, die „antideutsche Theorie“ nie gab und auch nicht geben kann. Was es sehr wohl gibt sind die konkreten Kritikversuche, die häppchenweise in den verschiedensten Zeitschriften- und Zeitungsartikeln, sowie ab und an auch in Aufsatzsammlungen in Buchform erscheinen.
Der Vorwurf, die „antideutschen Nachfolger“ Adornos und Horkheimers betrieben „einen skurrilen Totenkult“ trifft etwas Wahres, aber anders als Schwab es sich vorstellt. Nicht die kultische Verehrung von Verstorbenen, sondern die Erinnerung an die Mahnung, die Adorno in Bezug auf jede Philosophie im ersten Satz der Negativen Dialektik formulierte; „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward“, begründet die nach wie vor aktuelle Orthodoxie. Die Metapher des „skurrilen Totenkults“, die dessen Exekutoren als „Ewiggestrige“ und Anhänger eines Personenkults versucht zu brandmarken, zieht in diesem Sinne natürlich nur, wenn sie die nachfolgende Forderung unterschlägt, die Philosophie habe „sich selbst rücksichtslos zu kritisieren.“ Jene Reflexion ist aber nur zu begreifen, wenn man sie auf einen Satz auf der vorletzten Seite desselben Werkes bezieht, nachdem das Denken „sich auf das Wünschen verstehen“ muss; ein Gedanke ohne den Wunsch nicht denkbar ist. Ein Satz Schwabs, der aus noch anderen Gründen, wie später gezeigt wird, als Einwand gegen Krug nicht brauchbar ist, scheint erst einmal genau dem zu entsprechen: „Nicht Unterdrückung, sondern Bewusstwerdung des Wunsches ist Aufklärung im Sinne der Psychoanalyse.“ Schwabs Appell an eine bloße Bewusstwerdung ist, wie zahlreiche andere auch, verlogen, weil er den nicht gegebenen Stand der Freiheit voraussetzt, ohne das Problem der Willensfreiheit auch nur zu erwähnen. Sie verschweigen in diesem Zuge vor allem die Notwendigkeit einer Realitätsprüfung des Wunsches. Mit Adorno ist zu bemerken: Das Bedürfnis „verlangt seine Negation durch das Denken, muss im Denken verschwinden, wenn es real sich befriedigen soll, und in dieser Negation überdauert es, vertritt in der innersten Zelle seines Gedankens, was nicht seinesgleichen ist.“8 Ohne jene Negation verkommt das Denken zum Wunschdenken. Herbert Marcuse hat den Wunsch in psychoanalytischer Hinsicht in seinem Werk „Triebstruktur und Gesellschaft“, das auch Uli Krug als maßgebliche Referenz einer „orthodoxen Utopie“ dient, sehr treffend formuliert. Mit Blick auf den „erkennenden Gehalt der Phantasie“ heißt es: „Die Vergangenheit fährt fort, einen Anspruch auf die Zukunft zu erheben: sie erzeugt den Wunsch, dass auf der Grundlage zivilisatorischer Errungenschaften das Paradies wiederhergestellt werde.“ In eben diesem Bezug erweist sich der als „Totenkult“ unterstellte Vergangenheitsbezug erst als Flaschenpost; um nicht zu sagen als Aufgabe. Bei Marcuse heißt es an besagter Stelle weiter: „Die Befreiung der Vergangenheit endet nicht in der Versöhnung mit der Gegenwart. Entgegen der selbstauferlegten Gehemmtheit des Entdeckers strebt die Orientierung an der Vergangenheit nach einer Orientierung an der Zukunft. Die recherche du temps perdu wird zum Vehikel künftiger Befreiung.“ Der Bezug auf die Vergangenheit9 meint in diesem Sinne sowohl die historisch-gesellschaftliche als auch biographische Vergangenheit.
Erschwerend kommt hinzu, dass jene „fremde Nähe“, die Schwab sich besser ausgemalt gewünscht hätte, oder für die er sich mit Blick auf die Psychoanalyse „Versuche“ wünscht, „sie zumindest im eigenen kleinen Kreis wiederzubeleben“, im emphatischen Sinne erstens keine abstrakte, und zweitens keine theoretische ist. Die allgemeine Sprachlosigkeit verweist darauf, dass Nähe konkret und praktisch hergestellt werden muss, sowie, dass sie es gleichzeitig auch schon in energischster und repressivster Weise wird. Thomas Maul beschrieb dies als „fortschreitende Subsumtion der Menschen unters Kapital (die sich seinerzeit [also Marxens] von der formellen zur reellen vollzog, und sich seither zudem im Seelischen vertieft, immer totaler wird).“10 Gemeint sind damit insbesondere die bewussten und bewusstlosen Psychotechniken der Werbung und Kulturindustrie, die vielleicht in Krugs Buch etwas mehr Raum verdient hätten bzw. generell in der Kritik mehr Raum verdienen würden. Aber gleichzeitig wissen alle, dass jenes, das sie in der Werbung und im Fernsehen bewundern, Lug und Trug ist, ohne sich dadurch freilich davon abhalten zu lassen, sich derselben Techniken aus der Kulturindustrie zu bedienen, um sich selbst zu vermarkten oder ihre Politik unter die Menschen zu bringen. Auch Adorno musste sich in seinem Freizeit-Aufsatz eingestehen, dass er äußerst überrascht war, als sich in einer Studie des Instituts über Reaktionen auf eine medial hochbeachtete royale Hochzeit zeigte, dass die Menschen „sich ganz realistisch verhielten“, das Happening „zwar konsumiert und akzeptiert [wird], aber mit einer Art von Vorbehalt. […] Mehr noch: es wird nicht ganz daran geglaubt.“11 Adorno sah darin seinerzeit noch die Möglichkeit von Mündigkeit und Freiheit aufscheinen. Jene Möglichkeit aber, und dies wäre eindringlich zu ergänzen, müsste sich aber erst in der Verwirklichung vollziehen. Die momentan zu beobachtenden Tendenzen verweisen eher auf das Gegenteil. Nicht nur die Hochjunktur von Serien als universelles scheinbares Medium zur Entspannung, Abhilfe gegen Langeweile, Flucht vor der Realität, und miteinander verbindendes Gesprächsthema, sondern auch die Pseudoaktivierung mithilfe der Sozialen Netzwerke hingegen geben wenig Anlass zur Zuversicht. Uli Krug verweist auf die Bedeutung dieser Tendenz für Propaganda, Politik und Ressentiment: „Das Publikum scheint also agitierbar, aber nicht mehr bindungsfähig zu sein; der Lust fehlt die Dauer, aber auch das Maß, sie kann grausam und müde zugleich sein.“ Das trifft auch auf den (westlichen) Antisemiten zu; er „verzichtet zunehmend darauf, Rothschild oder die vom Finanzjudentum geknechteten Völker samt ihrer Kultur herbeizuzitieren; der Narzissmus scheint zu faul, seine Idiosynkrasien noch zu rationalisieren.“12 Nun vertraut Krug keineswegs mehr darauf, dass hierin die Möglichkeit von Mündigkeit zu finden sei. Jenes Publikum, das nicht recht glaubt, wofür es sich trotzdem begeistert, lässt immer auch die – verglichen mit Adornos Urteil - gegenteilige Deutung zu: nämlich, dass Aufklärung in dieser Situation nichts mehr korrigieren kann, denn über die Kritik gesiegt hat die „Aufklärung als Massenbetrug“. Die Unmündigkeit erscheint als über selbst sich aufgeklärte und dabei restlos abgeklärte. Der Begriff der Halbbildung dürfte diesen Geisteszustand nach wie vor, nur deutlich verschärft, zum Ausdruck bringen. Der Antisemit beispielsweise ist heute Israelkritiker, er „kann sich fast jede weitere Begründung sparen“, und bleibt dabei selbstverständlich Antisemit, der in Talk Shows sitzt, oder für die ARD mit der Quellenangabe „Brockhaus“ die Intifada definiert als „Aufstand der palästinensischen Araber (…) gegen die israelische Besatzungsmacht.“13
Der Vorwurf, dass seit Adorno und Horkheimer „nichts Neues“ komme, ist – soweit es nicht falsch ist - über weite Strecken ein objektiver Tatbestand, da sich an der grundlegenden Konstitution dessen, was Schwab Gesellschaft nennt, seit Adorno und Horkheimer weniger geändert hat, als manch einer glaubt. Gerade das ist das objektive Elend in der antideutschen Kritik, dem sich zu stellen ist, während das Bedürfnis nach dem theoretisch Neuen tendenziell eher dem nach Innovation und Spektakel geschuldet ist. Nun kann man sich in der eigenen Ohnmacht nicht ausruhen und darf sich auch nicht irremachen lassen. Falsch wäre die Unterstellung, dass dieses Elend der Ohnmacht nicht wesentliches Thema „in der antideutschen Kritik“ wäre. Thomas Mauls bisher zweibändiges Werk „Wert und Wahn“, das hier ebenfalls eindringlich empfohlen sein soll, und dessen Teile für Schwab vermutlich auch eher „Broschürchen“ wären, hält im Schlussabsatz des zweiten Bandes die traurige Erkenntnis fest, dass „auch die nicht-antisemitischen Subjekte, an die einzig und allein der Appell erginge, […] von der Vergesellschaftung unterm Kapital ja nicht unbeschädigt bleiben, [auch diese] müssen sich einen verhärteten Seelenpanzer zulegen, um im Existenzkampf aller gegen alle halbwegs zu bestehen.“ Auf dieses Eingeständnis folgend gibt Thomas Maul auch unumwunden zu: „Dieses Dilemma wurde von Adorno/Horkheimer sowie in deren Nachfolge erschöpfend entfaltet. Dem fügen die Überlegung von Wert und Wahn 2 nichts Substanzielles – sondern allenfalls Zuspitzungen – hinzu.“14 Und eben jene Zuspitzungen entfalten das wachsende Elend, während der Hang zur Erneuerung, zur Reform oder Erweiterung oftmals nur selbst ohnmächtige und bewusstlose Reaktion auf die Ohnmacht ist, die mit diesen Ansätzen versucht wird, zu überwinden. Es ist prinzipiell nichts verkehrt daran, für Neues oder Unbekanntes offen zu bleiben, aber allzu regelmäßig zeigt sich in der konkreten Betrachtung, inwiefern diese krampfhaften Erneuerungen nur ein theoretisches Ausweichen und ein ausweichender Abhub vom Konkreten, vom Historischen und Materiellen darstellen.
Die Causa Melanie Klein
Das Hauptmotiv der Schwabschen Kritik wäre wohl die Klage darüber, dass Krug und die Antideutschen sich beharrlich weigern, die Freudsche Orthodoxie „um neuere psychoanalytische Erkenntnisse – besonders auch jener Melanie Kleins – zu bereichern.“ Schwabs Rezension ist konsequenterweise vor allem eine Bewerbung jener „Bereicherung“ um Melanie Klein, die jedoch sogleich ins Antisemitische driftet, indem Freud dafür kritisiert wird, er hätte seine Theorie nur für „das anachronistische, jüdische Bürgertum einer rückständigen Nation“ entwickelt. Eben dies ist, nicht zuletzt da es schon sachlich kaum falscher sein könnte, eine gebührende Bestätigung dessen, was Adorno meinte, als er schrieb, „der Hass gegen [die unverwässerte orthodoxe Psychoanalyse] ist unmittelbar eins mit dem des Antisemitismus, keineswegs bloß, weil Freud Jude war, sondern weil Psychoanalyse genau in jener kritischen Selbstbesinnung steht, welche die Antisemiten zur Weißglut treibt.“ Auch bei Schwab wird die freudsche Psychoanalyse tendenziell zur „Judenwissenschaft“, und dabei nicht nur zu einer von, sondern vor allem auch ausschließlich für Juden. Deshalb erfasse sie, im Gegensatz zu Melanie Klein, nicht die seelische Konstitution der „Mittelschicht Londons seit den 1930er Jahren: also das spätkapitalistische Subjekt, wie es heute zugespitzt in Erscheinung tritt.“
Für Melanie Klein gilt, wie auch für die gesamte Kritik Schwabs, was Uli Krug völlig zu Recht über die Arbeiten Claude Lévi-Strauss schrieb, und sich hier verallgemeinern lässt: „Der Anthropologe Claude Lévi-Strauss (…) verschrieb sich jedoch weniger der Beobachtung des, sondern der Angleichung ans Denken derer, die man früher die >Wilden< nannte; nicht die Reflexion auf die Ursprünge des Denkens, sondern der Widerwille gegen dessen historische Ausdifferenzierung bestimmte die Forschung von Lévi-Strauss. Forschung und Mythologie sollen in einem falschen Universalismus ineinander verschwimmen.“15 Sahen sich die Theoretiker der orthodoxen Psychoanalyse noch gezwungen die Gegebenheiten, die dem Individuum eine psychische Normalität abverlangen, zu durchdringen, indem sie sich Aufklärung und Erkenntnis verpflichteten, so standen die Revisionisten, zu denen man in sehr spezifischer Form auch Melanie Klein zählen kann, für ein neues Denken, das, indem es vom Gegenstand, ohne dies zu bemerken, abstrahiert, gerade die Ideologie hinter dem Gegenstand hypostasiert. Der maßgebliche Garant des revisionistischen Erfolgs im Allgemeinen ist eine Anpassung an den Zeitgeist. In den einzelnen Strängen erfolgt diese Anpassung jeweils konkret an spezifische Ausprägungen: bei Melanie Klein passt sich das theoretische Denken dem ihrer kleinbürgerlichen Zielgruppe an, bei Karen Horney an das neue differenzfeministische Selbstbewusstsein der Frauen, beim späten Erich Fromm an küchenpsychologische Lebensberatung. Letztlich trieben Jungianer und Ichpsychologen diese Angleichung im Denken bis zu einer Extremform, die in der Vorbereitung auf das nationalsozialistische „Göring-Institut“, das durch den Zusammenschluss der verschiedenen, nunmehr arisierten Strömungen der Psychoanalyse in der „Neue Deutsche Seelenheilkunde“ mit einem ganzheitlichen Ansatz für die Volksgesundheit gipfelte. Dass die Psychoanalyse laut Schwab schon in ihren Kinderschuhen veraltet war, stimmt insofern, als dass dieses Zuspätkommen auf alle Reflexion, die den Namen verdient, zutrifft, festgehalten durch die hegelsche Beschreibung der Eule der Minerva und das freudsche Prinzip der Nachträglichkeit, wodurch Erkenntnis durch den Blick zurück, ins Vergangene in Bezug auf die eigene Lebensgeschichte erst möglich wird. Der vergangene historische Grund, den Freud für seine gewonnenen Einsichten über die psychische Entwicklung des Menschen wie auch der Menschheit, Onto- und Phylogenese, vorfand, ist auch sein Stachel; und dies ist durchaus jener vergangene des ebenso vergangenen (revolutionären) Bürgertums.
Die Forderung nach einer Erweiterung um Klein scheint vor allem dem Fakt geschuldet, dass Adorno sie nicht betrachtet hat; dass dort also eine von Adorno noch nicht kritisierte Leerstelle besteht, die sich nutzen ließe. Dabei verlässt Schwab auch schnell die Bahnen der Logik, wenn er schreibt: „Adorno entwickelte seine Kritik an der Psychoanalyse an der zeitgenössischen Literatur, verteidigte Freuds Theorie gegen ihre Kritiker, wie ihre Befürworter, sogar gegen Freud selbst. Selbiges gälte es auch heute zu tun (..).“ Um dieser Forderung scheinbar treu zu bleiben und sich gleichzeitig auf Melanie Klein zu beziehen, muss man erst einmal behaupten, dass Melanie Klein, als deutlich Ältere, „neuere psychoanalytische Erkenntnisse“ geliefert habe, während es über „Sartre, Lacan und Reich“ heißt, deren Arbeiten seien „eher wenig aktuelle Versuche“.
Wer sich nun wie Schwab ziemlich energisch darüber beklagt, dass Uli Krug „Mark Solms, den einzigen zeitgenössischen Psychoanalytiker, den er erwähnt, in einem Halbsatz abfertige, da dies „von einer eigentümlichen Ignoranz“ zeuge,16 müsste sich doch an die eigene Nase fassen, wenn es ein paar Zeilen zuvor heißt, dass „Lacan ohnehin unter aller Kritik ist“ oder über Sartre verkündet wird: „Den Streit um Sartres Begriff von Freiheit, der schon langweilig war, bevor er noch wirklich begonnen hatte, kommentiert Krug mit einem nicht wirklich falschen, aber eher belanglosen Verweis auf Sartres noch belanglosere Psychoanalyserezeption.“ Dahingestellt, ob Schwab mit einem solchen Urteil über Lacan prinzipiell Recht hat, verkennt er doch ganz bewusst dessen weiterhin enorme Bedeutung innerhalb der real existierenden Psychoanalyse – dabei insbesondere, aber keineswegs ausschließlich der französischen - und deren „Anwendung“ in den „Sozialwissenschaften“. Wer hingegen meint, Sartre stünde unter aller Kritik, verkennt den heutigen Grundkonflikt der eben nicht mehr sehr einheitlichen antideutschen Kritik. Um es mit Schwab gegen Schwab zu sagen: „Man macht sich selbst dumm, wenn man das, was man zu kritisieren vorgibt, eigentlich nicht mehr kennt.“ In diesem Zuge wäre auch zu betonen, dass Melanie Klein und die offene Revisionistin Karen Horney in ständigem bestärkenden und positiven Verweis aufeinander agierten. Nur lässt sich bei Klein eine bewusstlosere, scheinbar orthodoxe Form der von Adorno u.a. an Horney kritisierten „Soziologisierung der Psychoanalyse“ erkennen. Deshalb ist Klein der zentrale Fluchtpunkt der uneingestandenen Revisionisten.
Wie nun aber gerade Melanie Klein, die 1960 im hochbetagten Alter verstarb, als „zeitgenössisch“ gelten kann, wäre erst einmal zu erklären. Bei Schwab funktioniert das ungefähr wie folgt: „Trotz oder gerade wegen ihrer fatalen Ontologisierung des Todestriebs, der den menschlichen Konflikt mit der Außenwelt zum Verschwinden bringt und zu einem des bloßen Seelenlebens machte, traf Klein mit erstaunlicher Präzision das Wesen menschlichen Daseins im Spätkapitalismus. Indem sie das Individuum als zwischen depressiver und paranoid-schizoider Position schwankendes und permanent projizierendes hypostasierte, beschrieb sie es adäquater, als die psychoanalytischen Vertreter der freudschen Orthodoxie es jemals gekonnt hätten.“ Darüber ließe sich eventuell streiten. Nur müsste man in diesem Atemzug erst einmal erwähnen, dass Melanie Klein ihre Arbeiten nie historisch eingeordnet hat. Sie ist keineswegs eine bewusste Aktualisierung der freudschen Orthodoxie oder der Psychoanalyse, sondern über weite Strecken selbst Symptom. Schwab tritt damit ausgerechnet in die Fußstapfen des Anerkennungskämpfers Axel Honneths, der schon im Jahr 2000 versuchte, in der „Psyche“ die Objektbeziehungstheorie gegen Adorno und Marcuse aufzurichten, da diese die „postmoderne Persönlichkeit“, und somit das schwabsche spätkapitalistische Subjekt, besser erfasse.17
Was Schwab mit Melanie Klein und gegen Uli Krug – unter der vorgeschobenen Ontologisierung des Todestriebs – sogleich ontologisiert, ist das Äquivalenzprinzip. Deutlich wird dies, wenn Schwab schreibt: So „wäre es aber vorstellbar, dass das Kind, noch lange bevor es zum Begriff kommt, bloß sinnlich das Tauschprinzip erfährt, das die Eltern repräsentieren und auf dessen Grundlage sie mit dem Kind interagieren. Es ist also das gesellschaftliche a priori, dass (sic!) sich in der Sinneserfahrung als Versagung niederschlägt, noch bevor das Denken eigentlich einsetzt.“ Vorstellbar mag es unter Umständen sein, aber würde sich das Äquivalenzprinzip vor dem begrifflichen Denken in der Psyche sinnlich festsetzen, wäre das ein Grauen, das jede Kritik verunmöglichen dürfte. Viel eher haben Kinder nach wie vor zumindest den Rest einer Ahnung vom Gebrauchswert, also davon, was er sein könnte, und diese wird ihnen heute durchaus früher denn je ausgetrieben. Aber wäre sie ganz verschwunden, Kritik hätte kaum einen Grund mehr. Daran erinnert der Aphorismus „Kaufmannsladen“ aus den Minima Moralia, wo es über die Kinder heißt, „daß ihre spontane Wahrnehmung den Widerspruch zwischen dem Phänomen und der Fungibilität, an den die resignierte der Erwachsenen schon nicht mehr heranreicht, noch begreift und ihm zu entrinnen sucht. Spiel ist ihre Gegenwehr. (…) In seinem zwecklosen Tun schlägt es mit einer Finte sich auf die Seite des Gebrauchswerts gegen den Tauschwert. Gerade indem es die Sachen, mit denen es hantiert, ihrer vermittelten Nützlichkeit entäußert, sucht es im Umgang mit ihnen zu erretten, womit sie den Menschen gut und nicht dem Tauschverhältnis zu willen sind, das Menschen und Sachen gleichermaßen deformiert. (…) Die Unwirklichkeit der Spiele gibt kund, daß das Wirkliche es noch nicht ist. Sie sind bewußtlose Übungen zum richtigen Leben.“ Auch in Adornos Bezug darauf, dass die Menschen das Schenken verlernen, gibt es eine bewusste Reflexion auf die Verletzung des Tauschprinzips. Ein Geschenk, dass sich diesen Namen verdiente, überwindet das Tauschprinzip, indem der Schenkende das potentielle Glück des Beschenkten imaginiert– und nicht den Aufwand, die Kosten und die kalkulatorische Abwägung vor Augen hat. Dieses krampfhafte „Berechnen“, was dem sozialen Anlass und der Funktion des Menschen sowie dem Gegengeschenk angemessen wäre, korrespondiert mit dem Äquivalenzprinzip. Den Übergang von uneigennütziger Freude zu erkaufter Gegenleistung beschrieb Balzac in seiner „Menschlichen Komödie“, bei ihm sind Geschenke meistens ein Mittelding zwischen erkaufter Liebe oder Treue und Glück, aber das Geschenk muss die Leute dermaßen beglücken, dass sie ihm verfallen. Der balzacsche Schenkende entäußert und ruiniert sich vollkommen, kein Weg ist ihm zu beschwerlich, kein Ziel zu hoch, doch hat er kein anderes Mittel als sich Zuneigung zu erkaufen. Schwab versteht nicht, dass etwas Bedeutsames verloren gegangen ist, sondern tut mit seiner Verteidigung Melanie Kleins so, als ob es dem Versprechen eines Besseren nicht bedarf und der heutige völlig dingliche Zustand immer schon existiert hätte. Ein solcher Ausfall historischer Reflexion ist keineswegs unschuldig. Als Warnung dürfte doch gelten, was aus dem Marxschen „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ beispielsweise in der sogenannten Stalin-Verfassung wurde: „Die Arbeit ist in der UdSSR Pflicht und eine Sache der Ehre eines jeden arbeitsfähigen Bürgers nach dem Grundsatz: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“. In der UdSSR gilt der Grundsatz des Sozialismus: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung.““ Dass dies der Grundsatz des Kapitalismus ist – der ab dem Moment wo er nicht mehr die geringste Notwendigkeit aufweist, nur noch als „Leistungsprinzip“ - wie von Marcuse – gefasst werden kann. „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ ist oder war ein Versprechen, das sich als Versprechen in der Kindheit, im Geschenk und auch in der Liebe sowie in der Ästhetik erfahren ließ. Gerade Adorno versuchte diese „Zweckmäßigkeit ohne Zwecke“, wie Kant sie in der Kunst erkannte, in Alltagserscheinungen aufzufinden und zu retten, während nun Schwab das Zwecklose selbst mit einem Zweck versieht, was Adorno schon an Karen Horneys Vorstellung der Liebe in „Die revidierte Psychoanalyse“ kritisierte: „Liebe soll auch psychologisch werden, was sie gesellschaftlich ohnehin wird, ein Äquivalententausch.“18
Es ist deutlicher Ausdruck der Negativität, dass der Titel von Uli Krugs Buch „Der Wert und das Es“ ganz absichtlich die Kehrseiten von Gebrauchswert und Ich vorschiebt, weil diese im Schatten von Wert und Es verschwinden, was heißt, „daß zusehends das Es das Ich, das Verdrängte das Verdrängende camouflierend ersetzt.“19 Und doch ist es eine Schrift für das Ich und den Gebrauchswert, ohne diese in falsch-positiver Manier und ohne Kritik hervorzukramen und zu bewerben. Noch viel mehr jedoch gilt für deren Opponenten, dass wir von ihnen „nichts wissen. Lediglich in dieser rücksichtslosen Negativität ihrer Bestimmung ähneln sich Tauschwert und Unbewusstes.“20 Die fremde Nähe ließe sich mit Blick auf die Geschichte der jeweiligen Teile sogar als gegenläufige beschreiben. So richtig es sein mag, sowohl im Falle von Gebrauchswert und Tauschwert als auch von Es und Ich die Gleichursprünglichkeit zu betonen, (der Gebrauchswert erhält erst Gestalt durch seinen Bezug auf den Tauschwert, wie auch das Es erst durch die Hervorbringung des Ich) sollte dabei nicht vergessen werden, dass in beiden Fällen durchaus ein Primäres existiert: So wie der Tauschwert nur entsteht, wenn es Gebrauchsgegenstände gibt, die getauscht werden, richtet sich das Ich empor aus dem, was im selben Zuge Es genannt wird. Das triebhafte im übertragenen Sinne ist in dem einen Fall das ursprüngliche (Es) im anderen das entfaltete Moment (TW). Keineswegs geht aus einer solchen Erkenntnis der vorschnelle und somit falsche Abschied von jenen Momenten einher, die im einen Fall nur in autoritärer Triebverleugnung und -unterdrückung sowie im anderen in einen Gebrauchswertfetischismus führen – beides zentrale Charakteristika des Antisemiten. Formulierungen wie „Befreiung der Sexualität“ und „gerechter Tausch“ zielen auf das tendenziell Utopische an diesen Momenten von Es und Tauschwert, ohne dass man theoretisch über solche – doch recht unbefriedigenden – Forderungen hinausgelänge.
Und in diesem Verhältnis richtet Krug seinen Blick insbesondere auf das Es sowie das Ich und dessen Verfallsformen. „Der Wert und das Es“ wäre als psychoanalytischer Nachtrag zu Wolfgang Pohrts „Theorie des Gebrauchswerts“ zu beschreiben. Angelpunkt des „spätkapitalistischen Subjekts“ – und hierbei auch Schwabs - ist, dass es sich selbst nicht als Verfallsprodukt erkennt, sondern stets darauf bestehen muss, starkes Individuum zu sein. Die heutigen Akteure haben von sich selber ein falsches „Bewusstsein“, was fatal ist, denn von „ihnen allein ist die Bewältigung des Naturzwangs, den Gesellschaft auf den einzelnen ausübt, zu beenden, oder anders gesagt: Nur sie könnten das am Grad der möglich gewordenen Bemeisterung der objektiven Lebensnot meßbare Übermaß an Arbeit und Triebunterdrückung, an Dummheit und Angst abschaffen.“21 Dabei ist kaum Verlass auf die betreffende Instanz, „denn damit das Ich einer Realität gerecht werden kann, die irrationales Verhalten verlangt und produziert, muß es sich selbst unbewusst halten und so die eigene transzendierende Qualität verleugnen.“22 Der Verfall beider Instanzen – Ich und Gebrauchswert - fällt keineswegs zufällig zusammen. Die universelle Ich-Schwäche beginnt sich durchsetzen, wenn nur mehr der Tauschwert konsumiert wird und nicht mehr der Gebrauchswert der Produkte. Man muss, „eine andere Existenz als die (…) vom Kapital aufgezwungene wollen, und diese Existenz muss in den (…) als Kapital produzierten Produktivkräften objektiv vorhanden sein.“23 Als historischen Zeitpunkt des Umschlags macht Pohrt die Verallgemeinerung der Kulturindustrie aus: „Weil also das Bedürfnis als formloser Inhalt vom Kapital nicht mehr verschieden ist, ist von dieser Seite her der unmittelbare Gegensatz von Arbeit und freier Tätigkeit als Bedingung der Emanzipation erloschen – historisch wohl an dem Punkt, da die Kulturindustrie sich des Kadavers proletarisch-vorkapitalistischer Lebensformen bemächtigte.“24
Die beginnende Ära der seelischen Subsumtion unters Kapital, der von Krug betrachtete Sprung zwischen Marx (Kapital 1867-94) und Freud (Traumdeutung 1900), ist eben auch jener zwischen Marx und Thorstein Veblen und dem „ostentativen“ oder „demonstrativen Konsum“ als scheinbare unhistorische Grundbestimmung des Konsums (Theorie der feinen Leute 1899), welche Veblen quasi aus der Steinzeit „entwickelt“ – als Diagnose seiner Zeit trifft er jedoch bewusstlos sehr wohl etwas Wahres: Die „Rückkehr“ zum archaischen Prinzips des Prestiges – wenn auch selbstverständlich in deutlich modifizierter Form, die Veblen arg verkannte, nämlich der Marke beziehungsweise dem Warenzeichen. In diesem Sinne wäre frei nach Uli Krug und etwas vereinfacht zu sagen, dass zusehends der Tauschwert den Gebrauchswert, das Abstrakte das Konkrete camouflierend ersetzt – die Marke dient hierbei als eine Vermittlungsinstanz dieses Wahns. Dazu gehört der Veblen-Effekt, den Wolfgang Pohrt als verallgemeinerten folgendermaßen fasste: „Hatte zuvor der Wert den Preis bestimmt, so bestimmt jetzt der Preis den Wert.“25 Für die Datierung des Bruchs veranschlagt Pohrt diesmal die Februarrevolution von 1848, mit der Einschränkung auf „Emporkömmlinge und Neureiche“ und dem Zusatz, die Revolution „hatte allmählich die Gesellschaft umgekrempelt.“26 Vollends dürfte jener Bruch mit dem Einsetzen des Monopolkapitalismus und der Kulturindustrie erfolgt sein. Ebenso wenig wie der in der Marke schlecht aufgehobene Gebrauchswert27 verschwindet aber die Subjektform vollkommen, sondern deren Bestimmung wird verkehrt; anstatt Instanz der Verdrängung zu sein, wird es vom Verdrängten beherrscht: „In der Rearchisierung der Gesellschaft rearchisiert auch das Subjekt. Wo Ich war, wird Ich-Libido.“28
Regression und das Ich
„Der primäre Narzissmus, die Lust am eigenen Körper bzw. am Körper-Ich (Freud), ist Resultat der Interaktion mit der Außenwelt und diese eigentlich der Ursprung des Sexualtriebs. Allerdings ist sie zu Beginn reine Reizlust, weniger psychologisch als körperlich und wird erst im Laufe der frühen Entwicklung zu der psychischen Kraft, die Freud Libido nennt. Wenn aber schon die sinnlichen Erfahrungen gestört werden, dann hat das unmittelbare Auswirkungen auf die Libidoentwicklung selbst, noch bevor diese eigentlich regredieren kann. Dadurch tritt das gesellschaftliche Prinzip in die Psychologie ein, bevor diese überhaupt eine ist und so gar keine mehr werden kann“, wendet Schwab ein. Doch keineswegs ist „solche Dynamik“, wie Schwab fortfährt, „Krug unbekannt“. Vielmehr weiß letzterer, dass die Regression eine gesellschaftliche ist, die wie Schwab richtig bemerkte, nicht mehr individuell in jeder Biographie einzeln erfolgt. Der gegen Krug gerichtete Trick steckt im folgenden Satz: „Was dem Ich bei Krug als fremdes Objekt hinzukommt, ist nicht fremd, sondern fürs Ich [sprich: für das Ich] konstitutiv. Die Schematisierung der gesellschaftlichen Repräsentation nach innen ist das spätkapitalistische Ich.“ (u. Hrvh.) „Das Ich“ und „das spätkapitalistische Ich“ sind also plötzlich eines, obwohl Schwab selbst schreibt: „Die Menschen entwickeln kein kontingentes Ich mehr...“ (u.Hrvh.) Der Ich-Schwund, die Bemächtigung des Verdrängten im Verdrängenden und die Fragmentierung des Ich, werden schlichtweg zum dem Ich erklärt und somit rationalisiert und verallgemeinert. Auch der Satzteil „kein kontingentes Ich mehr“ benötigt logisch einen „vorangegangenen Reifungsprozess“, sonst – und eben dies geschieht im Falle Schwabs - lässt sich ein Ich-Schwund nicht mehr begreifen, weshalb es bei Krug auch völlig zurecht heißt: „In diesem ganz handfesten Sinne beginnt [im Volksstaat] die bürgerliche Gesellschaft zu infantilisieren.“ Schwab „übersetzt“ und „aktualisiert“ das Ich durchaus im Sinne Melanie Kleins und beraubt es eben dadurch seines kritischen Kerns. Schon Melanie Klein konnte primär deshalb behaupten, dass das Kind quasi mit einem Ich auf die Welt käme, weil ihr eigenes Umfeld, also „die Mittelschichten Londons seit den 30ern“, kaum ein Ich mehr herausbildete. Anstatt diesen Ich-Mangel zu thematisieren, versah Klein das Kleinkind, dem die Erwachsenen in ihren Reaktionsformen mittlerweile so drastisch glichen, mit dem vorher für einen gewissen Reifezustand reservierten „Ich“ – ein Wort, das ein Kind nicht ohne Grund erst ungefähr ab dem Alter von 2-2,5 Jahren verwendet, was nicht heißt, dass es hier schon ein ausgereiftes Ich entwickelt hätte. Das Ich bei Klein ist im ersten Lebensjahr, in der frühsten oralen Phase vorhanden und mit 1 ½ Jahren ausgereift, in einer Zeit, wo auch laut Klein der Geschlechtsunterschied am drastischsten zu wirken beginnt und die Kleinkinder therapierbar werden.29 Indem Melanie Klein sich von der Sprache, also der Redekur, ab- und dem Spielen und Malen zuwandte, während Anna Freud daran festhielt, dass Kinder erst ab fünf Jahren therapierbar seien, konnte sie in der Spieltherapie geschickt das erst später ausgebildete Ich, wie es sich im Spracherwerb verrät, ausklammern und ebnete so sie ihrer eigenen projektiven Assoziation den Weg. So ist die dezent überspitzte Bemerkung Chasseguet-Smirgels, laut der Melanie Klein „die Existenz eines Ichs von Geburt an“ postuliere, durchaus treffend. Wenn nämlich das kleine Kind bei Melanie Klein von Beginn an phantasiert, muss es ebenso von Beginn an ein Ich besitzen, „insofern jegliche Phantasieproduktion ja eine Funktion des Ich darstellt.“30 Auch die enormen Anstrengungen, die Lilli Gast unternehmen musste, um gegen den Satz Chasseguet-Smirgels zu argumentieren, zeigen, wie sie letztlich selbst zugeben muss, „dass Melanie Klein eine eindeutige und unmissverständliche Klärung der Frage nach der Konstitution und den Konstitutionsbedingungen des Ich schuldig bleiben muss resp. diese anders als Freud nicht zu ihrem eigentlichen Gegenstand macht.“31 Die „gewisse Nachlässigkeit in dieser Frage“, welche ihr Gast dann doch attestieren muss, ist jedoch programmatisch, was sich insbesondere an den Kleinianern zeigen ließe. Zwar schrieb Melanie Klein ab und an vom scheinbar konkret bestimmten „frühen Ich“ oder dem „Ich des kleinen Kindes“ etc. pp., aber nur, um es mit dem reiferen Ich letztlich doch kurzzuschließen – ähnlich wie Schwab oben mit dem „spätkapitalistischen Ich“ verfuhr.32 Schwabs Klein-Exegese, laut der die Kleinianer „die Auseinandersetzung mit der Außenwelt schon an den Anfang des menschlichen Daseins (verlegen)“, um selbst gleich im Anschluss zugeben zu müssen, dass „die Außenwelt bei Klein als bloßes Surrogat nach außen projizierter Triebregungen des Säuglings erscheint und sie so objektive Versagung völlig leugnet,“ ist ein absurder Widerspruch, der die Kernthese Kleins ins Gegenteil verkehrt. Und aus diesen Gründen ist, entgegen der Unterstellung Schwabs, eben eines „von Klein und der Objektbeziehungstheorie“ gerade nicht „zu lernen: [nämlich] wie das innere Chaos eigentlich zustande kommt.“
Melanie Klein verwechselt tendenziell ein archaisches Selbst („ein ursprünglich schizoides Selbst“33) mit dem Ich.34 Das „Selbst“ fand aus guten Gründen keine Aufnahme in „Das Vokabular der Psychoanalyse“ von Laplanche und Pontalis. Eingeführt in die psychoanalytische Theorie wurde es von Heinz Hartmann, in dessen „Ich-Psychologie“ das Selbst die ganze eigene Person, das Ich jedoch die psychische Instanz meint. So ist das Selbst beim frühen Freud - der spätere ließ es ganz fallen - eher Platzhalter für ein rudimentäres „Vor-Ich“ (Marcuse), das eben nicht Ich genannt zu werden verdient. Sagen ließe sich also, dass Kinder sehr viel früher ein rudimentäres Selbst entwickeln, (sich bspw. mit dem eigenen Namen benennen können), als ein Ich. Das Selbst ist bei Freud eher Wort statt Begriff, zu dem es tendenziell bei Melanie Klein gemacht wird. Zur Selbstpsychologie entwickelte dann auch Heinz Kohut die Kleinsche Objektbeziehungstheorie in den 1970ern weiter, um im selben Zuge offen das „Ende der Psychoanalyse“ zu verkünden.
Das Selbst als Objekt des primären Narzissmus erfährt heute im sekundären Narzissmus seine verzerrte Aufblähung und Verallgemeinerung, so dass man besser von einer Zeit des Selbst, eines nichtausgebildeten Vor-Ichs ohne feste Grenzen sprechen kann, das sich doch die Grenzen als eine Art Panzer setzen muss (Theweleit).35 In dieser Zeit des allgemeinen sekundären Narzissmus ersetzt die Persönlichkeit, die man nicht hat, sondern zu sein hat, den Individualcharakter und kann zu einer ebenso verrückten, wenn auch nicht identischen, Einheit wie in frühster Kindheit werden, in der das Selbst Mittelpunkt der kleinen Welt ist, sich mit Ellenbogentaktik alles Nötige aneignet und jeder Befriedigungsaufschub Quelle von großer Frustration ist. Adornos Ekel vor dem Begriff der Persönlichkeit zeigt wie sich Stärke ohne starkes Ich durchsetzt: „Das Kriterium von Persönlichkeit ist im Allgemeinen Gewalt und Macht, Herrschaft über Menschen; sei es, daß sie sie vermöge ihrer Position besitzt, sei es, daß sie sie, etwa dank besonderer Machtgier, ihrem Verhalten und ihrer sogenannten Ausstrahlung nach erlangt.“ 36 Diese Entwicklung segnet die Durchsetzung des Selbst als Vor-Ich in der Psychologie in ebenso bewusstloser Manier ab, und ersetzt das starke Ich durch die „starke Person“, die weit eher suggestionsfähig als zu einem Urteil fähig ist. Erschwerend kommt das Problem der unterschiedlichen Verwendung des Begriffs „Selbst“ in philosophischer und psychologischer Hinsicht hinzu, das sich im Satz Adornos ausdrückt: „Der Halbgebildete betreibt Selbsterhaltung ohne Selbst.“ An anderer Stelle wird der Gedanke etwas weiter ausgeführt: „Das Ich nimmt den ganzen Menschen als seine Apparatur bewußt in den Dienst. Bei dieser Umorganisation gibt das Ich als Betriebsleiter so viel von sich an das Ich als Betriebsmittel ab, daß es ganz abstrakt, bloßer Bezugspunkt wird: Selbsterhaltung verliert ihr Selbst.“37 Heißt: Erhaltung des Selbst im psychoanalytischen Sinne ohne das Selbst im philosophischen Sinne eines Selbstbewusstsein. Wichtig aber ist, dass die Persönlichkeit von heute der kastrierte außen-geleitete Charakter ist, der das Konkurrenzstreben zugunsten der konfliktlosen Anpassung aufgegeben hat. Das Image ist „Substanz“ des Selbst wie auch der Marke, und somit das Selbst erkennbar das bloßes Zeichen eines Warenträgers, der seinen Selbstwert behauptet. Es ist ferner bezeichnend, dass Alain Ehrenbergs Werk „Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart“ von Axel Honneth in der Schriftreihe des Instituts für Sozialforschung veröffentlicht wurde, in der Ehrenberg scheinbar kritisch „die Verschiebung der Schuld zur Verantwortung“ und zur „Unzulänglichkeit“ vollzog.
Man sieht ferner an Kleins Fall-Schilderungen, so man sie denn gelesen hat, sehr deutlich, wie frei und wieviel sie in ihre kleinen Patienten herein interpretierte; was sich letztlich bei ihren eigenen Exegeten und Exegetinnen ihres Werkes noch einmal wiederholt. So liest man in der Verteidigung Kleins oft Satzstücke wie: „Eine ähnliche Vorstellung, allerdings eher zwischen den Zeilen, findet sich auch bei Melanie Klein …“38 Es spricht nichts dagegen zwischen den Zeilen zu lesen, wird man aber mit einer erstaunlichen Regelmäßigkeit in Betreff auf eine Denkerin immer wieder dazu aufgefordert, muss man dies doch irgendwann als Symptom erkennen. Die Aufgabe von Psychoanalyse die Psyche und ihre Konstitution zu deuten, verkommt dabei zu einer Deutung der Kleinschen Theorie, wobei recht munter alles Mögliche in ihre Theorie herein interpretiert wird. Man muss Melanie Klein bzw. ihrer Theorie einige Gewalt antun, um sie dienstbar zu machen, was Laplanche in seinem Aufsatz „Muss man Melanie Klein verbrennen?“ dahingehend verriet, als dass er in seinem Versuch „das Klein´sche System, […] welches auf Gegensatzpaaren aufgebaut ist, die alle Arten von mechanistischen Konstruktionen und Stereotypien zulassen,“39 nach eigener Angabe „dialektisch“ zu wenden, bei Hegel landet, wo „es schließlich der Knecht ist, der aufgrund seiner geduldigen Arbeit siegreich bleiben wird“, und deshalb über Melanie Klein verlauten lässt: „Fordern wir sie doch (…) zur Arbeit auf, zwingen ihr Denken und ihr Werk zur Arbeit!“40 Klein selbst aber war zur Zeit des Vortrags schon 20 Jahre tot – und die Kleinianer machten sich wahrlich an die Arbeit, vor allem indem sie, wie ihre Stifterin, Unmengen neuer Analytiker im Geiste Kleins schulten, und so die Auseinandersetzung innerhalb der Psychoanalyse letztlich durch die pure Masse ihrer Anhängerschaft gewannen. Dies wäre der selten erwähnte Hintergrund der von Christa Rohde-Dachser emphatisch begrüßten „auf dem Kontinent“ in den 1970ern vorherrschenden und „gegenwärtig im Wachsen“ befindlichen „Melanie-Klein-Ära, (…) die die trieb- und Ich-psychologisch bestimmte Ausrichtung (…) abzulösen beginnt.“41 Vollkommen richtig vermerkte Laplanche über Melanie Kleins „Technik“, dass diese „die Freud´sche Methodologie der Deutung fast vollständig aufgegeben hat“42, und dass ihrer Theorie „nichts Besseres gelungen ist, als sich in eine Methode zu übersetzen, welche auf ein äußerst stereotypes Entschlüsseln der bedeutsamen Aussagen und Gesten des Patienten hinausläuft, ohne den Assoziationsprozess, die historischen und individuellen Bezüge oder die Tausende von Anzeichen zu berücksichtigen, welche uns verraten, ob die Deutung auf dem rechten Wege ist oder nicht.“43 Obwohl Melanie Klein übrigens immer darauf bestanden hatte, dass sie in der strengen Tradition Freuds stehe und sie in ihren Texten gern und lange die angeblichen theoretischen Gemeinsamkeiten mit Freud auflistet, kann ihr jeweiliger Inhalt nicht über diesen Irrtum hinwegtäuschen.44 Juliet Mitchell bemerkte das in einer Fußnote, in der sie begründet, wieso sie sich in ihrem materialreichen Werk kaum auf Melanie Klein bezieht: „Für unsere Zwecke hier würde ich den Unterschied über den frühen Ödipuskomplex und den Theorien Freuds in etwa so bestimmen: Melanie Klein nimmt ein primäres, angeborenes, wenn auch noch unorganisiertes Ich an; sie lässt den Ödipuskomplex auf alle Phasen der Objektbefriedigung sich beziehen; und sie misst konstitutionellen Faktoren eine große Bedeutung bei. Freuds Theorien widersprechen sämtlichen dieser Annahmen.“45
In der freudschen Ödipussituation findet sich das Individuum in der Triade mit Vater und Mutter wieder, bei Klein ist es nur noch die Dyade aus Kind-Mutter, der Vaterkonflikt wirkt höchstens in einer projektiven Penis-Verinnerlichung durch die Mutter hindurch. Der Vater befindet sich nunmehr in keiner Position, die irgendeinen kindlichen Konflikt auslösen könnte, Klein hat den psychischen Vater abgeschafft. Dass der reale, bürgerliche Vater spätestens im Laufe des 20. Jahrhunderts seine Funktion als autoritäres Familienoberhaupt tatsächlich einbüßte, was nicht ohne weitern Verlust für die Bedeutung des psychischen Vaters bleiben kann, ist zwar bekannt, wiewohl die Konsequenzen daraus gern vernachlässigt werden; und zwar gerade durch Melanie Klein und ihr Gefolge. Denn um den Wandel ind er Rolle des Vaters zu ergründen, müsste er in der Kleinschen Theorie erstmal überhaupt existieren. Dass der väterliche Phallus in der Mutter verborgen sei, somit ihr gehört, ist neue Mythologie der vaterlosen Gesellschaft statt deren Reflexion, der sich Klein verweigert. Es ist der kastrierte Vater, dessen Funktion/Phallus (zumindest teilweise und im Verborgenen) auf die Mutter überging.
Es stimmt durchaus, dass Freud die Ambivalenz der Mutter unterschätzte oder gar verkannte, worauf beispielsweise auch Otto Rank mit dem „Trauma der Geburt“, wenn auch anders als Klein, verwies. Die Rolle der Mutter ist eine zeitlich gebundene. Zu Freuds Zeiten übertünchte die liebenswerte Mutter gerade noch die spätere und frühere psychisch-ambivalente, welche in der vaterlosen Gesellschaft (Paul Federn46, Alexander Mitscherlich47) wieder freigelegt und verstärkt wurde. Die sanfte und liebe Mutter konnte aber nur im Gegensatz zum strafenden und strengen Vater existieren, auf den sie die „notwendigen“ Drohungen übertrug. Verschwindet der Letztere aus dieser Rolle, so wird daraus die alleinerziehende Personalunion aus strafender und verführerischer Mutter, die keiner der beiden Aufgaben mehr „gerecht“ werden kann - soweit jedenfalls wenn man die historische Entwicklung ernst nimmt, ohne aus ihr eine Notwendigkeit solcher Entwicklung abzuleiten.48 Die Kleinsche Konzeption der Mutter oder gar der „kombinierten Elternfigur“ – ein Begriff, der als bewusster und reflektierter eine gute Schablone der alleinerziehenden Mutter hätte werden können - „verkennt“, laut Mitchell, „aber die Tragweite von Freuds Selektion des Vaters, die für eine Erklärung der patriarchalischen Kultur (oder, wie Freud gesagt hätte, der Kultur, die patriarchalisch ist) so entscheidend ist.“49 Wobei hier, tendenziell auch gegen Mitchells Konzeption des „Gesetz des Vaters“, sehr eindringlich auf dem zu bestehen ist, was Justus Wertmüller treffend festgehalten hat: Dass nämlich „der Begriff [des Patriarchats] nur zum Teil misogyne Männerherrschaft über die Frauen meint“, sondern maßgeblich „mit einer Idee der selbstbewussten Persönlichkeit verbunden [ist], die ihre Geschicke als Erwachsener, nach dem bestandenen Kampf mit dem Vater und der Emanzipation von der Mutter, nach der Befreiung des eigenen Sexus von der genauso kindlichen wie brutalen All-Sexualität hin zur genitalen Sexualität meistert. Die Frauenemanzipation hat diese unglückliche, weil unter weitgehendem Ausschluss der Frauen vollzogene Männerveranstaltung nicht etwa positiv, sondern regressiv aufgehoben.“50 Auch Uli Krugs Beobachtung, dass nicht die Frauenemanzipation zur Infantilisierung der Gesellschaft führte, sondern eher andersherum, erkennt den Zusammenhang als historisch-realen, ohne diesem eine Notwendigkeit zu unterstellen.
Noch einmal sei an den Schwabschen Satzteil erinnert, laut dem das Kind begriffslos, bloß sinnlich „das Tauschprinzip erfährt, das die Eltern repräsentieren und auf dessen Grundlage sie mit dem Kind interagieren.“ (u.Hrvh.) Indem „die Eltern“ in dieser Darstellung schon unterschiedslos mit dem Kinde verkehren, wird die Differenz zwischen der Rolle der historischen Mutter im Vergleich zur „spätkapitalistischen“ verkannt, wie sie Horkheimer in seinem Aufsatz über „Autorität und Familie in der Gegenwart“ skizzierte. Bezüglich des „Wandel(s) in der Rolle der Mutter“ hält er dort fest: „Ihre gesamte Einstellung zum Kind wird rational; selbst die Liebe wird gehandhabt wie ein Bestandteil pädagogischer Hygiene. […] Sie nehmen die Mutterschaft wie einen Beruf an, und ihre Haltung den Kindern gegenüber ist sachlich und pragmatisch. […] Das Bild der Mutter verliert daher im Bewusstsein der Kinder seine mystische Aura.“ Hingewiesen sei, dass Horkheimer nie vergaß, darauf hinzuweisen, dass das frühere Mutterbild und die Stellung der Frau keineswegs erstrebenswert wären, doch schrieb er primär aus der kindlichen Perspektive: „Die Frauen haben für ihre begrenzte Zulassung zur wirtschaftlichen Welt des Mannes mit der Übernahme der Verhaltensschemata einer restlos verdinglichten Gesellschaft gezahlt. Die Konsequenzen reichen bis in die zartesten Beziehungen zwischen Mutter und Kind hinein. Die Mutter hört auf, ein beschwichtigender Mittler zwischen dem Kind und der harten Realität zu sein, sie wird selbst noch deren Sprachrohr.“ So war laut Horkheimer in der klassischen Konstellation die Mutter für das Kind „seine natürliche Verbündete, ob sie dies wünschte oder nicht.“ Über das in schwabscher Terminologie „spätkapitalistische“ Kind heißt es dann: Dieses „verhält sich wie ein berechnender kleiner Erwachsener ohne beständiges, unabhängiges Ich, aber mit einem ungeheuren Maß an Narzissmus.“ Dieser Satz verurteilt Kindheit – ebenso wie die bürgerliche Frau und Mutter selbst historisches Produkt - und erwachsenes Dasein zugleich ; während Melanie Klein es nicht nur ontologisiert, sondern in diesem Zuge auch rationalisiert. Die Mutter, die sich dem Kind selbst versagt oder versagen muss, ist die personale Grundlage dafür, dass es nicht mehr die Liebe sei, auf dessen Grundlage, die Mutter mit dem Kinde interagiert. Über die kollektivistische Ordnung heißt es bei Adorno: „im Bürger liquidiert sie zugleich die Utopie, die einmal von der Liebe der Mutter zehrte.“51 Damit gilt mehr denn je, was Adorno in seinem Aufsatz über „Die revidierte Psychoanalyse“, wenn auch dort an Karen Horney adressiert, konstatierte: „La recherche du temps perdu est du temps perdu.“52 Zu Deutsch: Die Suche nach der verlorenen Zeit ist aus einer verlorenen Zeit. Die verloren gegangene Kindheit ist mit Klein für immer verloren, mit Freud kann zumindest ein Verständnis des Verlorenen entwickelt werden.
Depression
Das kleinschen System versperrt sich gerade jeglichen Bezugs auf ein entwickeltes Ich, auf vernünftige Individualität, auf ein potentielles Glücksmoment, das heißt auch, dass die geschichtliche Referenz, sei es biographisch oder gesellschaftlich – oft die Einzige, die man zur Verfügung hat – fehlt. Stattdessen ist die Depression selbst Beruhigung und Erlösung. Festzuhalten wäre, wie in einem Text von Christa Rohde-Dachser über die „Konzepte des Unbewussten“53, der die Konzeptionen Freuds und Kleins gegenüberstellt, „dass in Freuds Vorstellung einer “primären Befriedigung”, die nie mehr einholbar ist, die Phantasie eines verlorenen Paradieses mitschwingt, dessen Tür für immer verschlossen bleibt, während für Melanie Klein am Anfang des menschlichen Lebens eher eine Höllenerfahrung steht, die aus der Vorherrschaft des Todestriebs resultiert und erst mit der Erreichung der depressiven Position in ruhigere Gewässer kommt. Dem entspricht eine konzeptuelle Verschiebung von der Lust hin zur Angst.“ (Hrvh.i.O.) Weiter heißt es: „Glück ist für Freud im Plan der “Schöpfung” nicht vorgesehen” (Freud 1930a, S. 434). Was bleibt, ist die Erinnerungsspur an eine ursprüngliche Befriedigung (Freud 1900, S. 371), die das menschliche Leben als Versprechen begleitet und erst mit dem Tode erlischt.“ Und genau dieses Versprechen freizulegen wäre die mit Freud gegen Freud oder über Freud hinaus gestellte Aufgabe an die Menschheit. Er selbst konnte sich dessen Verwirklichung nicht vorstellen, einer, der es versuchte, war Herbert Marcuse. Trotzdem beinhaltet der Begriff des Todestriebs bei Freud auch ein Glücksmoment, was er selber verriet, indem er ihn in dergleichen Bestimmung als Glückstrieb bezeichnete.54
Dass die Hoffnung auf Glück zusehends durch die wunschlose Depression ersetzt wurde, ist offensichtlich, bemerkte auch Pohrt zutreffend, dass „die Massen, (…) in der Depression nicht revolutionär werden, sondern depressiv,“55 was zwar als allgemeines Urteil erscheint, aber sich dezidiert auf die Finanzkrise 2008 und deren Folgen in Griechenland bezieht. Dass die Massen in Krisen revolutionär wurden, zeigt die Geschichte, die diesbezüglich sowohl Hoffnung als auch Warnung bereithält. Es besteht jedoch ein großer Unterschied, ob man etwas registriert oder es intellektuell auch noch abgesegnet. Der Übergang von Freud zu Klein ist derjenige vom Trieb und dessen Versagungen zur Phantasie und phantastischen Spaltung, sowie von der Lust hin zum Neid. Aus dem primärer Narzissmus bei Freud wird bei Klein der primäre Neid, wobei die „depressive Position“ (ab dem 7. Monate) als eine gewisse Reifung und Integration des kleinschen Subjekts verstanden werden muss. Schon der Begriff der „Position“, der bei Klein die freudsche „Phase“ ersetzte, ist vor allem eine Rationalisierung der „Wiederkehr des Verdrängten“. Deutet die „Phase“ noch auf eine Entwicklungsstufe, die überwunden werden soll, hin, setzt die kleinsche Position auf das Topographische. Diese rigide Örtlichkeit findet sich in der gesamten Kleinschen Theorie wieder, die dynamischen Begriffe von unbewusst, vorbewusst und bewusst zugunsten der topographischen Fragmentierung von Ich, Über-Ich und Es nahezu aufgibt. In der Theorie Kleins ist es die Depression, welche etwas ruhigere Gewässer verspricht, während Horney ganz offen von „Sicherheit und Befriedigung“ als Grundprinzipien spricht, und damit ihre Aktualisierung als eine an den Wohlfahrtsstaat verriet.
Eine Theorie, die die Realangst zugunsten einer geschlechtlichen Angstbewältigung aufgibt, das Luststreben und die Lebensnot aufgibt, die körperlichen und seelischen Schocks mit denen die Lust ausgetrieben, auf Umwege gebracht werden muss, einfach bei Seite lässt, kann keine „adäquatere“ Theorie sein. Melanie Klein degradiert alle psychischen Reaktionsformen zu Reaktionen auf phantasierte Angst, indem sie die tatsächliche Bedrohung der Außenwelt aktiv verleugnet. Was bleibt, ist ein diffuses Realitätsprinzip, das bereits am Anfang der psychosexuellen Entwicklung wirke, anstatt mühsam erlernt zu werden. Man kann ganz treffend „das Vorherrschen eines <<psychotischen Charakter>>“ konstatieren, „der fremdbestimmte Realität im Ich mit verdrängter innerer Realität analogisiert und schließlich durch sie ersetzt, dem Ohnmacht gegenüber den Verhältnissen als Übermacht geheimer Feinde erscheint, und der damit Aggression zur Notwehr rationalisiert; Realitätsverlust wird zu paradoxen Folge der Anpassung.“56 Dieser Beobachtung gehen aber die Begriffe von Realität und eine bestimmte historische psychische Entwicklung, die an die Übermacht der gesellschaftlichen Wirklichkeit gebunden ist, voraus. Bei Melanie Klein befindet sich aber das Kleinkind schon als Säugling in dieser frühesten paranoiden Angstsituation, besonders das kleine Mädchen, das ständig darum fürchten muss, „von der Mutter aufgefressen, zerschnitten, zerstört zu werden“.57
Auch der „Geschlechtscharakter“ wird bei Klein zur Ausweglosigkeit: aus sich heraus will das kleine Mädchen die Mutterschaft und nicht etwa, weil die Mutterschaft ein Ersatz für den nichtvorhandenen Penis wäre. Das große „Verdienst“ von Melanie Klein ist genau diese Ideologie des eigentlichen weiblichen Wunsches nach Mutterschaft als essentialistische Konstante. Erscheint das kleine Menschenwesen in dieser Konstellation depressiv oder schizophren, gefangen in einem vollkommen zementierten und statischen Geschlechterverhältnis, das auch die projektive Angstbewältigung regelt, dann mitnichten, weil das ein Ergebnis vom spekulativen und forschenden Denken wäre, sondern weil es direkt aus der Schizophrenie der Theorie entspringt. Was dem kleinschen Subjekt bleibt, ist das reine Grauen. Mit einigem Recht betont Rohde-Dachser, dass jede Theorie „als Subtext einen Mythos enthält, in dem die stärksten menschlichen Sehnsüchte und die tiefsten menschlichen Ängste ihren Niederschlag finden: In Freuds Theorie die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies, in Melanie Kleins Theorie die Angst vor der Macht der Hölle im eigenen Innern.“ Und auch der Titel eines Aufsatzes Lilli Gasts über die „Die Idee der Subjektgenese im phantasmatischen Raum bei Freud und Klein“ drückt diesen Gegensatz aus: „Himmel und Hölle, Paradies und Schreckenskammer“.58
Damit ist die Ontologie der Hölle in der Form wie Melanie Klein sie vorlegt selber Mythos – eine Rationalisierung der Aussichtslosigkeit. Die Tilgung jeder (Erinnerungs-)Spur des Glücks liest sich im Falle Schwabs unter anderem so: „Der sekundäre Narzissmus ist nicht, wie Freud behauptet, die glückliche Wiederkehr in den Zustand des primären, sondern barbarischer Selbstbetrug, in dem die Subjekte sich glauben machen, doch noch auf ihre Kosten kommen zu können.“ Keineswegs hat Freud dies auch nur ansatzweise behauptet, worauf man selbst hätte kommen können, wenn man bedacht hätte, dass Freud bei der Entwicklung des sekundären Narzissmus von organischen Schmerzen und Krankheiten ausging, die einen auf sich selbst zurückwerfen. Der sekundäre Narzissmus ist in den Schriften Freuds oftmals ein pathologischer Narzissmus. Nur heißt dies eben keinesfalls, dass der Narzissmus nicht zumindest Stellvertreter gewisser Glücksmomente sein kann, was sich nicht zuletzt am Schlaf zeigt: „Ähnlich wie die Krankheit bedeutet auch der Schlafzustand ein narzißtisches Zurückziehen der Libidopositionen auf die eigene Person, des genaueren, auf den einen Wunsch zu schlafen.“59 So wären Schlaf und Müdigkeit zu erkennen als eine psychische Verbindung von primärem und sekundärem Narzissmus, ohne dass diese dadurch gleichgesetzt wären, wie Schwab behauptet. Wenn der Schlaf aber als „barbarischer Selbstbetrug“ gilt, wird dies allzu rasch zu einer Ideologie der Stärke und Brutalität, wie sie sich in Nietzsches Phrase des Zarathustra ausdrückt: „Aber ich sage: was fällt, das soll man auch noch stossen! Das Alles von Heute – das fällt, das verfällt: wer wollte es halten! Aber ich – ich will es noch stossen!“
Mit all dem ist nicht per se gesagt, dass Melanie Klein im Ganzen erschöpft oder erledigt wäre, aber es gibt dringliche Einwände gegen eine Kleinsche „Erweiterung“, insbesondere gegen eine in der Linienverlängerung Schwabs.
Die Entfesselung der Libido
Man erinnere sich an Wolfgang Pohrts maßgeblich von Resignation getragenes Werk „Das allerletzte Gefecht“ – aus dem auch das obige Depressions-Zitat stammt –, in dem er deutlich seinen Abschied von der Hoffnung auf eine Verwirklichung der Utopie kundtat. In den darin enthaltenen Aufsätzen sind Sätze wie die folgenden charakteristisch für seine Kapitulation vor utopistischen Aussichten „Wir wissen nichts, wir verstehen nichts, wir haben keine Ahnung, wir müssen jederzeit mit allem rechnen, darum rechnen wir besser nicht.“, „Die Zukunft ist nicht vorhersehbar, und die Menschen sind unberechenbar…“ oder „Noch viel unbekannter als es die bestehende Gesellschaft schon ist, ist eine zukünftige. (…) Tatsache ist also, dass kein Mensch die Zukunft kennt, aber jeder sie gerne kennen würde.“ So wahr die Aussagen Pohrts sind, darf man nicht vergessen, dass sie durch Resignation und Kapitulation erkauft sind, die nachvollziehbar sind, aber nicht rationalisiert oder übernommen werden sollen. Nun ist Resignation kein Garant für Wahrheit. Im äußersten Falle schafft sie das vielleicht als bewusste, die in der offenen Abkehr noch festhält, was sie aufgibt – wie im Falle Pohrts, der sich öffentlich vor den Ansprüchen der Hoffnung beugte. Bei Schwab erfolgt das Kapitulieren bloß bewusstlos. Es ist eine Form der Resignation, die von sich selbst nichts weiß und nichts wissen will, welche innerhalb der Psychoanalyse durchaus mit Melanie Klein begann. Da das Ausliefern an die Hoffnungslosigkeit aber nur in die Depression führt, braucht es für Schwab, der gerade deshalb fröhlicher und scheinbar kritischer daherkommen kann, noch eine andere Quelle, die er oben noch als einen Vertreter jener „meist eher wenig aktueller Versuche“ gescholten hatte: „Die einzig wirklich interessante Referenz ist die auf Wilhelm Reich. Und dem tut Krug reichlich unrecht. […] „Reichs Forderung nach einer von den irrationalen gesellschaftlichen Zwängen befreiten Sexualität traf, so falsch und reaktionär sie in Reichs Ausführungen daherkam [!], das Problem der Psychoanalyse im Kern. Nämlich die Affirmation gesellschaftlicher Repression gegenüber dem Triebleben, dem nicht nur Freud, sondern vor allem seine Gefolgschaft, durchaus ein nicht unbeträchtliches Stück an Verachtung entgegenbrachte. Sie erkannten den Trieb an, um ihn zu bändigen, durch ein starkes Ich und durch Sublimierung. Dabei ist aber der Begriff der Sublimierung – den Krug, ganz orthodox nach Freud, als anzustrebende Form der Triebunterdrückung präferiert – keineswegs das progressive Pendant zur Verdrängung, sondern ein unbewusster Prozess im Dienste der Abwehr, nicht der Reflexion.“ Hätte man Uli Krugs Buch ernsthaft gelesen, erkennt man den Schwabsche Vorwurf leicht als einen absurden Einwand gegen Krug, der ganz eindeutig schrieb: Man könne selbst in Zeiten der allgemeinen Ich-Schwäche „doch das Programm der Psychoanalyse, dass Ich da werden soll, wo zuvor Es war, nicht ohne kritische Distanz teilen.“60 Und er fuhr sogar explizit fort: „Zu hoffen ist (…) nicht unbedingt auf ein starkes Ich, sondern auf einen Zustand, in dem das Ich bewusst sein kann, aber schwach sein darf – bewusst schwach und seiner Schwäche bewusst.“61 Dies ist einer, wenn nicht gar der zentralste Satz des Werkes! Im dezidierten Unterschied zu Schwab, weiß Krug, dass der Zustand, in dem man schwach und bewusst sein kann und darf, nicht von alleine kommt, sowie, dass das Ich dialektischer Natur ist: „Als Instanz, deren unbewusste Teile die Verdrängungen durchzuführen haben, welche Realitätstüchtigkeit garantieren, kann das Ich die allein von ihm zu erhoffende praktische Aufklärung von innerer Natur und gesellschaftlichem Naturzwang nur sehr unvollständig leisten,“ und zwar „solange es nicht gelingt, einerseits diese Verdrängungen bewusst zu machen, andererseits ihr notwendiges Ausmaß gesellschaftlich zu senken.“62 Im Kern treffen Krugs Aussagen genau das Dilemma des psychoanalytisch zu fassenden objektiven Elends (nicht nur in der antideutschen Kritik), dass die einzige Bundesgenossin eine Instanz ist, auf die man sich schwerlich verlassen kann, bis die Produktionsweise und das entsprechende Verhältnis durch „eine möglichst umfassende Revolution, die bis in alle Poren des Alltags dringen sollte“,63 geändert wurden, was wiederum dieser Instanz zukäme. Ein Teufelskreis scheint es zu sein, vom starken Ich zu verlangen, durch die von ihm zu leistende Aufhebung der Gesellschaft auf seine eigene Aufhebung und die seiner Notwendigkeit hinzuarbeiten.
Jene Dialektik des Ichs, der sich Schwab aktiv und den Ausführungen Krugs verdrehend verweigert, kommt in der Frage der Sublimierung zum Tragen. Nicht die Frage nach der Existenz, sondern nach der Vorgehensweise der Sublimierung ist eine der ungeklärtesten in der Psychoanalyse. Laplanche und Pontalis gingen soweit zu sagen: „Das Fehlen einer zusammenhängenden Theorie der Sublimierung bleibt eine der Lücken im psychoanalytischen Denken.“ Wobei sie betonten, dass die Sublimierung eine Forderung darstelle, „von der man schlecht sehen kann, wie man auf sie verzichten soll.“64 Für die These aber, dass Sublimierung bloß regressive Abwehr sei, hätte Schwab weder von Melanie Klein Zuspruch erhalten noch in der Brachialität von Wilhelm Reich. Reich hat die Sublimierung vorgenitaler Strebungen sehr begrüßt und diese spezifischen Sublimierungen aufgrund seines Fokus auf genitale Strebungen als überaus wichtige Kulturleistungen befürwortet. In der gleichen Art ließe sich in Fenichels „Neurosenlehre“ lesen, dass die Sublimierung keine Unterdrückung des Triebes, sondern eine Ablenkung des Triebziels ist, die freilich eine Abwehr darstellt. Aber Abwehr und Reflexion können im Fall der Sublimierung Hand in Hand gehen, denn Sublimierung verläuft ohne Gegenbesetzung: „Sublimierte Triebregungen gelangen, obwohl sie künstlich abgeleitet werden, an die Oberfläche, während gerade das mit den anderen Triebregungen nicht geschieht. Bei der Sublimierung verschwindet die ursprüngliche Triebregung, weil ihre Energie zugunsten der Besetzung eines Ersatzes verwandt wird. Bei den anderen Formen der Abwehr wird die Libido der ursprünglichen Triebregung durch eine hohe Gegenbesetzung in Schach gehalten. (…) Sublimierungen unterscheiden sich von den neurotischen Ersatzbefriedigungen durch ihre Desexualisierung; d.h. die Befriedigung des Ich ist nicht länger mehr nur offensichtlich triebhaft.“65 Auch für Fenichel sind es ganz klar die prägenitalen Bestrebungen, welche nicht für die Vorlust benötigt werden, und die sie begleitenden Aggressionen, die überhaupt sublimiert werden können; unter der Voraussetzung, dass sie (noch) nicht verdrängt wurden. Die Sublimierung ist nach Fenichel der Oberbegriff erfolgreicher Abwehr und fasst verschiedene Mechanismen: „Gemeinsam ist diesen Mechanismen, dass unter dem Einfluss des Ich Ziel oder Objekt einer Triebregung verändert werden, ohne eine adäquate Abfuhr zu blockieren.“ Übereinstimmendes schreibt Reich in seiner „Charakteranalyse“.66 Schon Freud hat in dem „Unbehagen in der Kultur“ angemerkt, „man (sei) versucht zu sagen, die Sublimierung sei überhaupt ein von der Kultur erzwungenes Triebschicksal. Aber man tut besser, sich das noch länger zu überlegen.“ Die von Schwab unterstellte freudige Parteinahme für die Unterdrückung der Triebe klingt in dem „erzwungen“ nicht wirklich an. Zumal Freud dezidiert betonte, wie rar die geglückte Sublimierung gesät sei: „Die Bewältigung durch Sublimierung, durch Ablenkung der sexuellen Triebkräfte vom sexuellen Ziel weg auf höhere kulturelle Ziele gelingt einer Minderzahl, und wohl auch dieser nur zeitweilig, am wenigsten leicht in der Lebenszeit feuriger Jugendkraft.“67 Gerade bei Freud war es der „reflektierte“, im Gegensatz zum „gewöhnlichen“ Menschen, der nicht zur Sublimierung fähig sei; also die Dichter, Künstler, etc., „und es fällt im allgemeinen viel schwerer, den Idealisten von dem unzweckmäßigen Verbleib seiner Libido zu überzeugen, als den simplen, in seinen Ansprüchen genügsam gebliebenen Menschen.“68 Auch bei Freud existiert die Sublimierung streckenweise als bewusste, und konfliktträchtige, als be- oder zumindest gewusster Verzicht. An diesen Gegensatz gemahnt das Sirenen-Kapitel der Odyssee. Thomas Maul hat in der Bahamas zu Recht darauf hingewiesen, es bliebe in der Dialektik der Aufklärung „uneindeutig, ob Odysseus, der an den Mast gefesselt ist, während seine Mannschaft mit verstopften Ohren rudert, eher entsagt oder sublimiert, wenn er derart präpariert dem Gesang der Sirenen sich hingeben, sich also von ihm fesseln lassen kann, ohne zugleich sich wegzugeben und zu entfesseln.“69 Tatsächlich dürfte es gerade beides sein. Darin zeigt sich die freudsche und von Adorno noch viel weiter getriebene Brüchigkeit der Sublimierung im Ästhetischen. Der Sirenen „Lockung wird zum bloßen Gegenstand der Kontemplation neutralisiert, zur Kunst-“ und zwar durch Odysseus.70 So ist es kein Zufall, dass Odysseus bevor er zu den Sirenen gelangt, bei Kirke war, die er sich durch „Selbstbeherrschung“ und Triebunterdrückung, also durch physische und psychische Entsagung, unterworfen hatte – heißt, seine Sexualität ist schon eine organisierte. Man könnte sagen, indem er sich als mit einem reifen Ich ausgestattet noch einmal physisch entsagt, sich aber mit den nach Hegel „theoretischen Sinnen“ der Ohren (und auch Augen) hingibt, sublimiert er den Gesang der Sirenen zur Kunst für alle Nachfolgenden, während er die Sirenen damit tötet. In der Ästhetischen Theorie heißt es: „Während die vorkünstlerische Schicht durch die Verwertung vergiftet wird, bis die Kunstwerke sie ausmerzen, überlebt sie sublimiert in ihnen. Weniger besitzen sie Idealität, als dass sie vermöge ihrer Vergeistigung ein blockiertes oder versagtes Sinnliches versprechen.“71 Das Verhältnis der Ruderer zu Odysseus entspräche grob dem von unfreier Handarbeit zum Kunstgenuss; von Zwang zu Selbstzwang.72
Fenichels Charakterisierung des sublimierten Triebes als „nicht mehr nur triebhaft“ verdeutlicht doch, dass es sich keineswegs um die Erhebung in eine reine Geistlichkeit handelt, sondern um eine Modifizierung der Triebhaftigkeit, in der der Trieb gerade nicht ausgetrieben wird. Auf die Gefahr einer Übersublimierung hat Freud selbst verwiesen: „Es kommt außerdem in Betracht, daß viele Personen gerade an dem Versuche erkrankt sind, ihre Triebe über das von ihrer Organisation gestattete Maß hinaus zu sublimieren, und daß sich bei den zur Sublimierung Befähigten dieser Prozeß von selbst zu vollziehen pflegt, sobald ihre Hemmungen durch die Analyse überwunden sind. Ich meine also, das Bestreben, die analytische Behandlung regelmäßig zur Triebsublimierung zu verwenden, ist zwar immer lobenswert, aber keineswegs in allen Fällen empfehlenswert.“ (Ratschläge für den Arzt; 1912) Das Ich und die Sublimierung sind insbesondere aufgrund ihrer von Schwab verleugneten Zartheit und Gebrechlichkeit, der ihnen innewohnenden Dialektik, ihrer zumindest partiellen Strebungen im Dienste der Vernunft keine Kategorien, die vorschnell über Bord geworfen werden sollten. Solange uns keine anderen Instanzen und Mechanismen bekannt sind, lässt sich konstatieren, dass die Verdammung von Sublimierung als Ganzes auch die Verdammung der Zivilisation bedeutet, und letztlich das Kinde mit dem Bade ausgeschüttet wird. In Bezug auf Aggressionen wird der vulgäre Angriff auf die Sublimierung tendenziell sogar intellektuell gemeingefährlich. Freud verwies einmal auf die Sublimierungsleistungen der (anal-)sadistischen Strebungen durch einen Chirurgen, dessen sadistische Impulse letztlich in einer „sozial-nützlichen“ Tätigkeit aufgehen. In der Abwehr dieser Hypothese durch Fromm kann man sehr schön die Rationalisierungsleistung erkennen, wenn er fragt und ausführt: „Aber trifft das wirklich zu? Schließlich schneidet ein Chirurg nicht nur, er repariert auch, und es ist wahrscheinlicher, dass gerade die besten Chirurgen nicht von ihrem sublimierten Sadismus, sondern von vielen anderen Faktoren motiviert sind, zum Beispiel, dass sie geschickte Hände haben, dass sie vom Wunsch beseelt sind, durch direktes Eingreifen zu heilen…“ Den Chirurgen dürften Fromms Ausführungen sehr viel besser gefallen als die These Freuds. Aber Fromm, der gewusst haben sollte, dass sich viele Regungen als Triebmischung offenbaren, hat seine Relativierung mit seinem „nicht nur“ selbst wieder relativiert, da er dieselbe Formulierung bei Marcuse massiv als Unbestimmtheit und Schwammigkeit kritisierte.73 Vielmehr wäre Freuds These zu entfalten – etwas dem sich Fromm74 und noch vielmehr Schwab verweigern. Just in dieser Verweigerung wird die Schrift Schwabs pubertär: „Reich, mit seiner bedingungslosen Forderung nach der Entfesselung des Triebs, stand diesen Ansichten entgegen und behielt ihnen [Freud und Nachfolgern inklusive Krug] gegenüber recht. Nicht darin, dass er aufgrund seiner sozialistischen Idee vom neuen Menschen nicht sehen wollte, dass diese Entfesselung Barbarei bedeute, noch darin, dass er aufgrund seiner verqueren Libidotheorie nicht eingestehen konnte, dass ein gewisses Maß an Verzicht für die geistige Entwicklung der Menschen unabdingbar ist.“ Schon allein der offenkundige Widerspruch von „bedingungsloser Entfesselung“ und dem entgegengesetzten „unabdingbaren Verzicht“ entkräftet die These Schwabs, wobei zusätzlich zu erwähnen ist, dass Reich für die Befreiung des Triebes sehr wohl zwei Bedingungen anführte: Genitalität und Heterosexualität.75 Aber Reich würde schließlich „(d)arin aber (Recht behalten), dass die Befreiung des Triebs im Stande der Freiheit und durch Reflexion Lust und Wahrheit erst kennt. Nicht Unterdrückung, sondern Bewusstwerdung des Wunsches ist Aufklärung im Sinne der Psychoanalyse.“ Der Trick ist, dass „die Befreiung des Triebes im Stande der Freiheit“ schon überflüssig ist, und in allem Gerede vom „progressiven“ schlichtweg unterschlägt, wie man zu diesem „Stande der Freiheit“ gelangt - weshalb das gleichlautende Kapitel in der Negativen Dialektik76 sich weithin mit dem Grauen, mit der Todesstrafe, mit nackter physischer Angst und quälbaren Körpern beschäftigt, da es eine Seite zuvor nicht ohne Grund hieß: „Wieviel Aggression bislang in der Freiheit liegt, wird sichtbar, wann immer Menschen sich inmitten der allgemeinen Unfreiheit wie Freie agieren.“77 Die von Schwab eigenes aufgeworfene Warnung vor der Barbarei verpufft, da sie nur als Phrase gehandhabt wird.
Vielmehr ist darauf zu verweisen, dass man sich im Stande der Freiheit zumindest potentiell längst jenseits von Wahrheit und Lust bewegen würde, da Lust und Verbot in einem dialektischen Verhältnis stehen, wie Wahrheit und Wirklichkeit. Bei Schwab scheint das nochmal auf, wenn er schreibt, „dass pathologische Selbstliebe nur ein ungenügsamer Ersatz für das ist, was Liebe sein könnte: nämlich Hingabe zum anderen im Stande der Freiheit.“ Wahrer wäre doch: Liebe war Hingabe im Stande der Unfreiheit. Undenkbar scheint es für Schwab, dass Liebe im Stande der Freiheit, wenigstens der Anlage nach das, um in Schwabs Duktus zu verbleiben, „Genommenwerden“ umfassen könnte, worauf nicht nur das Werk des Marquis de Sade, sondern auch die oftmals wiederkehrende Analogie von Liebe und Folter bei Baudelaire verweist. Die Vorstellung einer krampfhaft äquivalenten Hingabe ist zum einen bloßes Tauschprinzip, und zeigt zum anderen, wie man mit Melanie Klein die Phantasie verliert, die sie zur Hauptfunktion erklärte und damit letztlich entqualifizierte. Sublimierung ist schon bei Freud eine Gradwanderung und gerade in der Frage der Sublimierung wird Freud dialektisch. Die Bestimmung der Sublimierung schwankt beständig zwischen repressiv und progressiv oder Anpassung und Reflexion. Der bloße Verzicht auf Sublimierung ist Funktion einer scheinbar dynamischen, gesellschaftlichen Statik, wie Silvia Bovenschen es sehr pointiert ausgedrückt hatte: „Zu den von Wilhelm Reich inspirierten vermeidbaren Irrtümern der siebziger Jahre zählte die Annahme, dass ein Spießer, den man sexuell enthemmt, etwas anderes sein könnte als ein sexuell enthemmter Spießer.“78 Auch bei Adorno lässt sich ein emphatischer Begriff der Sublimierung konstatieren: „Keine Sublimierung glückt, die nicht in sich bewahrte, was sie sublimiert.“79 Dies beschreibt den im Denken durch Negation bewahrten Wunsch. Es stammt vom selben Adorno, der Freud andernorts vorwirft, dass er „die Sublimierung verherrlicht, die es wahrscheinlich gar nicht gibt.“80
Es ist absurd, Uli Krug vorzuwerfen, er würde sich blind auf die Seite der Treibunterdrückung schlagen, nur weil er sie Ernst nimmt. Schwab hingegen steht Sartre sehr viel näher, als ihm lieb sein dürfte, so langweilig er ihn auch findet, und Max Stirner, den Reich im Privaten (in seinen Tagebüchern) bewunderte.81 Reich wäre ebenfalls als ein tendenzieller Ideologe der Ich-Schwäche und der vaterlosen Gesellschaft zu betrachten, wenn er hierbei mit sehr viel offenerem Visier auftrat als Melanie Klein und Moritz Schwab. Reich begrüßte den Verfall der bürgerlichen Familie überaus euphorisch oder zumindest optimistisch, in der Hoffnung darin das neue, zivilisierte Aufkommen primitiver vermeintlich mutterrechtlicher, triebbefreiter Gesellschaften, wie jene der Trobriandern, dem Lieblingsobjekt der Ethnoanalyse und Ödipuskomplex-Kritiker, zu sehen. Ferner ließe sich gut veranschaulichen, wie auch in Reichs Fall die Ich-Schwäche in seiner Theorie strukturell verankert wurde. Selbst wenn man versucht zu bestreiten, dass der Orgonexzess eine fast notwendige Verlängerung seiner vorherigen Arbeiten darstellt, lässt sich wie schon bei Melanie Klein, bei Reich eine Abwendung von der Sprache feststellen: das nonverbale Verhalten und der Gefühlsausdruck, auch bei Erwachsenen, traten in den Vordergrund, was Reich von der „Charakteranalyse“ zur Körperanalyse, der Vegetotherapie, führte, die vor allem aus Körperpanzeranalyse und Körperarbeit bestand, und sich auf die „muskulären Panzerung“ richtete. Reich und Klein verraten eklatant das Medium des Widerstandes – die menschliche Sprache, die Adorno und Horkheimer, die man gern zu senilen Tierfreunden ummodelt, in der Dialektik der Aufklärung beschrieben: „Die Dauer des Tiers, vom befreienden Gedanken nicht unterbrochen, ist trübe und depressiv. Um dem bohrend leeren Dasein zu entgehen, ist ein Widerstand notwendig, dessen Rückgrat die Sprache ist. Noch das stärkste Tier ist unendlich debil.“82 Zu erwähnen wäre diesbezüglich, dass Sprache und Gebrauchswert bei Wolfgang Pohrt in einem ebenso engen und doch fremden Zusammenhang stehen, wie der von Ich und Gebrauchswert: „Die Verelendung und Verödung des Lebens drückt sich in der Unfähigkeit aus, die Gegenstände wirklich zu benutzen. (…) Sie ist als Unbrauchbarkeit in den Produkten selbst materialisiert und objektiviert.“83 Wenige Seiten später kommt er auf den „Verfall des Sprachvermögens“ zu sprechen.
Die psychoanalytische Orthodoxie ist eine sprachliche, wie Freud es in den „Vorlesungen“ formulierte: „In der psychoanalytischen Behandlung geht nichts anderes vor als ein Austausch von Worten zwischen dem Analysierten und dem Arzt.“ Uli Krug hat in diesem Kontext nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die Psychoanalyse die Medizin überschreitet: „Anders als die Medizin bleibt die Psychoanalyse konstitutiv auf das Verständnis des Patienten angewiesen; ihr Medikament ist Aufklärung, ihre Chirurgie ist das Gespräch.“ 84 Alfred Lorenzer beschrieb in seinem Aufsatz „Sprache, Lebenspraxis und szenisches Verstehen in der psychoanalytischen Therapie“ die Polarisierung der postfreudschen Psychoanalyse: „Die Schule der Melanie Klein (und auch Lacan) näherten sich der irrationalistischen Seite, die weitläufige Bewegung der psychoanalytischen Ich-Psychologie geriet auf die andere, rationalistische Seite.“ Für Lorenzer stellen beide Entwicklungen einen Abbruch der Dialektik dar. Inwieweit der Abhub von der Sprache bei Klein und Reich erfolgt, wurde schon angedeutet, aber auch bei Lacan wird Sprache entwertet, indem er das Unbewusste als eine Sprache darstellte, somit also alles Sprache ist, was der freudschen Auffassung völlig widerspricht. Die Sprache ist das Medium und die Grenze der Psychoanalyse in der Erfassung des Unbewussten: „Die Psychoanalyse sucht mit Sprachmitteln das Unsprachliche zu erkunden.“ (Lorenzer) Anna Freud, die man nicht mit ihrem Vater verwechseln sollte, schlug sich hingegen wirklich auf die Seite der Triebunterdrückung.
Negative Utopie und Nachträglichkeit
Nur praktisch ließe sich zeigen, ob oder inwieweit eine „Sublimierung ohne Desexualisierung“, wie sie Marcuse als Utopie entwarf, überhaupt möglich oder wünschenswert ist. Prinzipiell und dabei in einem nicht geringen Umfang gegen Marcuse selbst ist eindringlich auf dem Prinzip der Nachträglichkeit zu bestehen, das eine psychoanalytische Prognose des Zukünftigen versagt.85 Krug hält dem die Treue, denn er verweigerte sich den allzu konkretistischen und positivistischen Ausmalungen Marcuses Skizze einer repressionsfreien Gesellschaft. Es ist somit als Verdienst zu betrachten, dass Krug an dieser wichtigsten Stelle notwendig eine Lücke lässt, die zwar Enttäuschung herrufen mag, welche aber dem Autor selbst nicht angelastet werden kann. So notwendig eine Kritik Marcuses sein mag, geht sie mit erstaunlicher Regelmäßigkeit fehl. So beispielsweise Erich Fromm, für den eine maßgebliche „Schwäche“ Marcuses und dessen Freud-Rezeption war, dass Marcuse „mit der klinischen Anwendung der psychoanalytischen Erkenntnisse aber weder vertraut sei noch sich hierfür kompetent fühle. Eine solche „Philosophie“ der Psychoanalyse, die sich nicht auf klinische Erfahrung bezieht, ist ein Zugang, der das Verstehen der psychoanalytischen Theorie weitgehend behindert.“86 In der Tat ist eine wesentliche Gefahr des unklinischen Zugangs, dass man zu sehr vom Konkreten, beispielsweise von Fallgeschichten, abstrahiert. Nur sollte diese Gefahr nicht dazu verleiten, sich dem allzu pragmatistischen Zweig der von der „Philosophie“ der Psychoanalyse rasch in ihrer Berufsehre verletzten Kliniker hinzugeben, in dem die „Metapsychologie“ als Reflexionsebene, wenn überhaupt, nur noch Beiwerk ist. Fromm schoss weit über das Ziel hinaus, was sich in seiner ganzen weiteren Kritik ablesen lässt, wobei die einzelnen Punkte jeweils etwas in dem Werk Marcuses treffen, aber insgesamt seinen Wertkonservatismus und seine Perversionsfeindlichkeit veranschaulichen, und Marcuse nur insofern treffen konnte, weil dieser das Maß des utopischen Ausgestaltens überspannte. Dementsprechend konnte auch Frank Böckelmann seine Schrift „Die schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit“ mit den folgenden Worten dezidiert gegen Marcuse einleiten: „Inzwischen wurde die Sexualität >freigegeben< und Arbeit >entwertet< - doch mit anderen Konsequenzen, als Marcuse damals hoffte.“ Die glatte Sexualmoral und Konsumkritik scheinen sich die Marcuse-Kritiker Fromm und Böckelmann zu teilen, vollkommen passend urteilte Magnus Klaue: Böckelmanns „1971 und 1972 publizierten Bücher „Die schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit” und „Über Marx und Adorno” sind immer noch lesenswert, weil sie von ungewöhnlicher Klarsicht gegenüber dem Konformismus der Neuen Linken zeugen. Doch schon „Die schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit” enthält Invektiven gegen die „Konsumgesellschaft”, die „losgelassene Sexualität” der amerikanisierten Massenkultur, gegen „Petting”, „Dating” und „Fünf-Minuten-Koitus”, in denen der antiegalitäre Gestus anklingt.“87 Als Resultat der Reflexion sowohl der unzureichenden Kritik als auch der zu weit gehenden Utopie ist für Krug die Utopie Marcuses von einer „repressionsfreien Sublimierung“ auch eine „erinnernswerte“, nicht per se eine gemäß der Skizze Marcuses eins zu eins zu verwirklichende; wobei er darauf hinweist, „dass diese Utopie in der spätindustriellen Gesellschaft, in der Freizeit und Leistung, Disziplinierung und Vergnügen, Arbeit und Lust sich trübe ineinander verfilzen, natürlich selber ihren Zeitkern preisgegeben hat.“88 "Die erfolgte Reflexion zeigt sich schon darin, dass sich Uli Krug dem Begriff des „Triebwerts“89 verweigerte, mit dem Marcuse zumindest implizit die „fremde Nähe“ zu einer real-utopischen Identität in der angepriesenen Wandlung der „Arbeit“ zum „Spiel“ verschmolz. Damit war es Fromm ein Leichtes, Marcuse vorzuwerfen, dessen Hoffnung bestünde nur darin, dass er „in der vollendeten technologischen Gesellschaft (…) regredieren und wieder zum Kind werden [kann] oder vielleicht sogar zum Säugling.“90 Marcuse auf der einen und Fromm auf der anderen Seite behalten gegeneinander Recht aufgrund der unzulässigen Übertreibungen des jeweils Anderen. Wo der eine den Bogen im konkret Utopischen überspannte, antwortete der andere mit reaktionärem Positivismus. Denn was Fromm exemplarisch in seiner obigen Kritik nicht wahrhaben wollte, ist, dass es in einer befreiten Gesellschaft kein Vergehen mehr darstellen dürfte, zeitweilig bewusst und sei es zum Säugling zu regredieren; eben dies hieße, schwach sein dürfen, ohne zur Schwäche verurteilt zu sein. Marcuse hingegen wurde an seiner eigenen Utopie latent irre, da er im unkritischen Rekurs auf Schiller und somit im erstaunlich unreflektierten und vulgären Bezug auf Kant, die Produktionsverhältnisse und -weisen in der Tendenz zugunsten eines Kulturkampfes vernachlässigte, weshalb er konsequenterweise einer der Vorreiter der 68er-Bewegung wurde. Da angesichts der zunehmenden industriellen Automation die Streikfähigkeit des Proletariats kein befreiendes Potenzial mehr darstellt, hat er sich, ohne dass es als offene Reflexion auftauchen würde, einem „Primat“ der „Umkehrung des Zivilisationsprozesses“ und eines „Umsturzes der Kultur“ zugewandt, dem es obliege „eine Menschheit und Welt“ hervorzubringen, „die frei sein könnte.“91 Dergestalt ist die Forderung nach der Aneignung der Produktionsmittel, so falsch sie oftmals aufgestellt wurde, einfach verbannt. Da dieser Kampf ein ohnmächtiger ist, wurde die Utopie Marcuses selbst autoritär und repressiv (mit affirmativen Bezug auf die „erzieherische Diktatur“), wenn er beispielsweise eine Zensur der Kulturindustrie forderte,92 anstatt sie, wie es Adorno im Gespräch über die „Erziehung zur Mündigkeit“ präferierte, den Leuten durch Kritik „madig zu machen“. Recht behält Marcuse jedoch vermutlich trotzdem mit der These: „Die Ent-Sublimierung der Vernunft ist ein ebenso wesentlicher Vorgang für die Entstehung einer neuen Kultur, wie die Selbst-Sublimierung der Sinnlichkeit“93, wie auch mit dem Angebot seiner Schrift über die Sexualität als Maßstab der Reflexion jeder utopischen Bemühung: „Die Vorstellung von einer nicht-repressiven Triebordnung muss in erster Linie an dem >ordnungslosesten< aller Triebe – der Sexualität nämlich – geprüft werden.“94 Die Hoffnung, die sich bei Krug an „die nach wie vor im Kern uneingelöste, orthodoxe Utopie“ knüpft, muss die einer Lücke sein. Zu kritisieren ist erbarmungslos alles das, was diese Lücke falsch zu schließen droht.
Schwab meint, „es wirkt oft so, als wäre die eigene Identität wichtiger als die Kritik, die falsche Identifizierung mit den Vorbildern so stark, dass jeder kritische Einwand, alles Neue als Gefahr eines potentiellen Vatermords und unerträgliche narzisstische Kränkung empfunden und abgewehrt wird. Aber es bleibt: Spekulation.“ Dagegen wäre der banalste Einwand jener: Es fehlt schlichtweg das ernsthaft „kritische“ am „Einwand“, wie wir hoffen, dargelegt zu haben; und die „Gefahr eines potentiellen Vatermords“ droht nicht, wenn der Einwand seit Melanie Klein vor allem in der Leugnung des Vaters besteht. Was in der Kritik Schwabs bleibt, ist nur das „wunschlose Unglücklichsein“ (Pohrt). Kritik aber wird Skeptizismus oder gar uneingestandener Zynismus, wenn das Wozu oder Wofür der Kritik keine Rolle mehr spielt. Jene von Pohrt vermerkte „Wunschlosigkeit“ ist wesentlicher Bestandteil des Elends, mit dem sich die antideutsche Kritik beschäftigt; es ist das Elend als Gegenstand, vor dem Schwab kapituliert, indem er es rationalisiert.
Zusammenfassend ließe sich sagen: Schwab beraubt uns mit Melanie Klein und Wilhelm Reich des Wunsches und dessen Geschichte sowie der Instanz und Mechanismen zur potentiellen Verwirklichung dieses Wunsches. Uli Krug hingegen verweigert sich keineswegs ohne Grund diesen beiden scheinbaren Alternativen, ohne dass er freilich einen neuen konstruktiv-optimistischen Fahrplan vorlegen kann.
Wenn „Der Wert und das Es“ ein Grundlagenwerk sein soll, wie Schwab behauptet, dann trotz der Kürze eines der voraussetzungsvollsten, das wir je lasen. Uns bleibt letztlich nur, (mittlerweile nachträglich) herzlich zum Einjährigen zu gratulieren, und dem Autor zu wünschen, sein Werk möge Leser finden, die es als die Aufgabe verstehen, die es darstellt. Ein elementarer Teil dieser Aufgabe besteht darin, zu reflektieren, ob man den Zeitgeist denkt und mit ihm „urteilt“ oder über ihn denkt und urteilt.
Katharina Klingan und Paulette Gensler beschäftigen sich momentan vor allem mit der weiblichen Brust - ein Thema, bei dem man zu ihrem Leidwesen schwer um eine ausführliche Beschäftigung mit Melanie Klein herumkommt.