Aus einer verlorenen Zeit (Teil 1)

Zum Werk Michel Houellebecqs.

Eine Werkschau im Angesicht des Autors zu verfassen, hat immer das Potenzial, wie eine versuchte Beerdigung inmitten seines Schaffens zu wirken. Aber genau ein Jahr nach der Veröffentlichung von »Soumission« erscheint nun der erste, 1.200 Seiten starke Band des Gesamtwerkes mit den Arbeiten von 1991 bis 2000. Ironischerweise wird man also dem Autor vielleicht gerade dadurch gerecht.

Michel Houellebecq ist einer der bekanntesten Autoren der Gegenwart und insbesondere des zeitgenössischen Frankreichs, die es ihm jedoch beide nicht wirklich danken. Selten kommt es vor, dass ein Staatspräsident sich explizit von dem schriftstellerischen Werk eines Bürgers der Republik distanziert. Aber Houellebecq gilt in so weiten Teilen als Rassist, Sexist oder gar Reaktionär und Faschist, dass man kaum noch Zitate aus dem Feuilleton anzubringen braucht, um diesen »Zeitgeist« zu belegen. Nachdem die Anfeindungen im Zuge des Erfolgs seines zweiten Romans »Elementarteilchen« 1998 ein unerträgliches Ausmaß erreichten, zog er für mehrere Jahre nach Irland. Dass ihn seine Flucht in die umgekehrte Richtung von Beckett und Joyce führte, ist vielleicht mehr als nur eine biographische Anekdote.

Hanna Engelmeiers und Pierre-Héli Monots gemeinsamer – und im Feuilleton recht einsamer – Versuch, der allgemeinen Betrachtung Houellebecqs im Merkur etwas entgegenzusetzen, liest sich u.a. folgendermaßen: »Die Auseinandersetzung wird beinahe vollständig inhaltistisch(!) geführt.«[1] Dies stimmt zwar grob in der Sache, aber weder in der Zeit noch in der Konsequenz, denn solche Kritikform verfolgt Houellebecqs Schaffen seit Beginn und nicht erst seit »Unterwerfung«. Neu ist in erster Linie, dass sich auf grausame Weise einiges bewahrheitet hat, das er in seinen Werken antizipierte bzw. kritisierte. Sich in eben solch einem Moment komplett von der Inhaltsebene abzuwenden, ist nur ein Manöver um den Wahrheitsgehalt eben nicht mehr wahrnehmen zu müssen, wobei die Trennung von Form und Inhalt selbst schon verdächtig ist. »Houellebecqs politisches Sensorium funktioniert, aber die Poesie ist kaputt«, heißt es weiter.[2] Inwiefern Feuilletonisten, die etwas für »inhaltistisch« halten, nun jemand anderem »sprachliche Verschlampung« vorwerfen sollten, sei hier mal dahingestellt. Anstatt sich abstrakt gegen den Inhalt zu werfen, gilt es, eine konkrete Bestimmung der Inhaltsbetrachtung – als didaktisch, politisch oder ähnliches – zu liefern und somit die Frage zu stellen, warum gemeinhin auf diese bestimmten inhaltlichen Punkte fokussiert wird und weite, sowie durchaus zentrale Teile des Inhalts, eben nicht wahrgenommen werden. Dies sind gerade jene, die mit der Form verquickt sind. Die Stärke Houellebecqs ist es in erster Linie, sich sowohl dem »Nouveau Roman«, als auch der engagierten Literatur zu versagen, indem er gleichzeitig dem Roman als einer Erzählung von etwas treu bleibt und gleichzeitig dessen Verantwortung für etwas ablehnt.

Dass der Vorwurf der »Ausstellung der eigenen poetischen Verarmung«, welche angeblich »bereits 2010 in Karte und Gebiet«[3] begonnen habe, schlichtweg absurd ist, kann man deutlich an dem gewählten Beispiel der Merkur-Autoren zeigen. Sie stoßen sich vor allem an der Formulierung »politisiert wie ein Handtuch« und fragen, »warum nicht: wie ein Toastbrot?«[4] Es ist deutliches Symptom der heutigen Zeit, in der nahezu alles über Assoziationsketten gedeutet wird, dass im entscheidenden und treffenden Moment darauf verzichtet wird. Die in der Formulierung zum Tragen kommende Überschneidung von erlebter Wahrnehmung, Bewusstseinsstrom und inneren Monolog konnte man in sehr viel krasserer Ausführung bei James Joyce erleben. Um das Beispiel kurz durchzuexerzieren: Der Protagonist schwankt in der betreffenden Szene zwischen der Erwartung auf ein politisches Fernsehduell und im selben Moment auf eines der zahlreich verzehrten Tiefkühlgerichte – in diesem Fall ein Indisches. Die Wahl des »Handtuchs« als Signifikanten schlägt sich nicht auf dessen Seite, sondern entlarvt ihn vielmehr als leeren bzw. gebrochenen. Deshalb können wir durch ihn hindurch die Gedankengänge und Blickrichtungen des Protagonisten nachkonstruieren – der kultivierte Protagonist weiß sowohl, dass ein Toastbrot keine adäquate Beilage für ein indisches Essen ist, als auch, dass man sich vor dem Essen, respektive Kochen, die Hände wäscht und sie im Idealfall abtrocknet. So trivial diese Deutung erscheinen mag,
so großartig ist die sich in dieser stimmigen Banalität ausdrückende Kunstfertigkeit des Autors. Auf der Suche nach irgendeinem stimmigen Äquivalent wählt der Erzähler in seiner temporären Begriffslosigkeit schlichtweg das Nächstliegende. Dass das Handtuch im Französischen – la serviette de toilette – darüber hinaus eine historische Bedeutung als »kleine Dienerin« trägt, die er somit implizit den »echten« Männern, welche sich für Politik und Krieg interessierten, gegenüberstellt, zeugt ferner von einer Komposition, die sich bis ins Etymologische vollzieht. Die assoziative Willkürlichkeit drückt die verstümmelte Individualität des Künstlers aus, welche sich nicht dem »Tod des Autors« auszuliefern gedenkt. Houellebecq wäre vielmehr als »starker« Autor zu betrachten, der sich sehr weit in seine Werke vorwagt, ohne sich indes an diese zu verlieren. Vor allem die permanente Umstrukturierung des nahezu immer gleichen stofflichen Gehalts beweist die Fähigkeit des Autors zur unverkühlten Distanz. Zusätzlich zur inneren Komposition gilt es bei Houellebecq, das Arrangement der Werke untereinander zu betrachten, die zwar kein geschlossenes, aber ein fragmentarisches Ganzes bilden, das immer auf den individuellen Autor verweist und in sich Reibungen erzeugt.

Der angebliche Prozess der poetischen Verarmung ist vielmehr ins Gegenteil zu wenden, da sich die Romane, wenn auch oszillierend, einer zunehmenden Reife annähern, die sich in dem Debüt »Ausweitung der Kampfzone« nur sehr bedingt andeutete. Der penetrante Pamphletcharakter des Erstlingswerkes, das den Leser fortwährend direkt adressiert, ist fast schon pubertär und steht technisch in einem scharfen Gegensatz zu den folgenden Werken, die es wesentlich geschickter vermögen, die Gattungen der Künstler-, Bildungs-, Thesen- oder Reflexionsromane derart zu übersteigern, dass sie der Persiflage überantwortet werden. Gleichzeitig kann man Adam Gopnik nicht gänzlich widersprechen, der im New Yorker schrieb: »He is not a particularly graceful stylist (..) nor are his choices and phrases of a kind that make other writers envious.«[5] Jedoch gilt dies vor allem für seine Poesie, welche eher dem Frühwerk zuzuordnen ist und in der die wenigen wirklich gelungenen Gedichte als Glückstreffer anzusehen sind. Man kann den Protagonisten der »Möglichkeit einer Insel« durchaus ernst nehmen, der nach eigener Aussage, »mit Ausnahme von Baudelaire praktisch nie Gedichte gelesen« habe, denn allzu deutlich zeigen sich die lyrischen Eigenproduktionen des Autors als schlechte Imitationen der Fleurs du Mal – wobei man auch anmerken muss, dass die Lyrik Baudelaires beispielsweise durch Stefan George in einer sehr viel besseren und kunstvolleren Übersetzung vorliegen als jene Houellebecqs. Indem Letztere die traditionellen Reimschemata verschleiert, suggeriert sie eine Aura von Modernität, die den Gedichten schlichtweg nicht eigen ist. Vielmehr verstärkt sich dadurch noch die aufdringliche Unmittelbarkeit, welche oftmals ins Pathetische bzw. fast Weinerliche abdriftet. Somit wird das Leid ästhetisch erhöht, ohne wirklich ausgedrückt zu werden. Der Dichter wird hier beherrscht von der Sprache und dem Leid gleichermaßen. Nahezu jedes einzelne Stück ist ein ästhetischer Suizid zum Zwecke einer Rebellion gegen die Gesellschaft, letztlich sentimentale Donquichotterie. Das unterscheidet ihn von Baudelaires geglückter lyrischer Gratwanderung, die er unreflektiert nachahmt und ihm zum Kitsch gerinnt.

Seine Lyrik scheint jedoch wie von selbst zur Prosa zu drängen, was sich nicht zuletzt dadurch zeigt, dass die in der Prosa platzierten Gedichte einen gänzlich anderen Charakter haben bzw. ihrem Charakter gerecht werden. In Form der Prosa gelingt ihm, was ihm in der Lyrik misslingt: Wirkung durch die sprachlichen Konventionen hindurch bzw. unter ihnen hindurch.
 
»Will Houellebecq nicht anders, oder kann er nicht?«, fragte Gregor Dotzauer im Tagesspiegel anlässlich des angeblichen »literarischen Graubrot(s)«;[6] will oder kann dabei jedoch nicht einsehen, dass der Unterschied zwischen beidem eventuell gar nicht existiert. Noch deutlicher offenbarte Martin Ebel im Schweizer Tages-Anzeiger die Referenz seiner Kritik und erwartet vom Schriftsteller, »mit schönen oder scharfen Sätzen die Wirklichkeit packen zu können.«[7] Es verlangt ihn somit nach einer objektiven Wahrheit, die kein Mal des Subjektiven trage, sowie nach einem auktorialen, allzeit (über)bewussten Erzähler, den man getrost in seiner Literaturbesprechung zitieren kann. Die houellebecqsche Erzählsituation – ob nun als persona/Reflektor oder als Ich-Erzähler – kann und will dies gar nicht leisten. Die Kritik, dass er »paraphrasiert und copypasted«, verläuft sich schnell, wenn man bedenkt, dass die Hauptprotagonisten, denen die Perspektive immer verhaftet bleibt, ihre verkündeten Informationen oft einfach aus irgendeinem »Artikel« bezogen haben. Ihre streckenweise und bewusst arrangierte Halbbildung kann man nun kaum besser umsetzen, als durch Wikipedia-Plagiate. »Beides zusammen gabs allerdings noch nie, schon gar nicht in Prosa; und es funktioniert auch nicht(:) Überpräzise und nichtssagende Sätze«[8], poltert Ebel weiter und jeder Satz drückt seinen Frust darüber aus, dass es eben doch funktioniert, er es aber nicht versteht, weil er nicht fassen kann, dass jemand zwischen Denken und Wahrnehmen schwankt. Gewonnen wäre schon etwas, wenn Kritiker das Scheitern der Sprache versuchsweise nachvollziehen, statt nur registrieren würden. Dem Autor ist hoch anzurechnen, dass er es vermag, durch seinen Stil vom Gehalt seiner Werke abzulenken. Die Ohnmacht gegenüber den formellen Konventionen des Romans ist Ausdruck jener Ohnmacht gegenüber den realen Verhältnissen, und sie zeigen sich auf zweierlei Weise, indem Houellebecq sowohl der Rebellion gegen die formellen Konventionen entsagt, die immer dazu tendiert, eine Freiheit zu behaupten, die keineswegs existiert und nur durch Leugnung von Notwendigkeiten scheinbar zustande kommt, als auch der Erfüllung der Konvention, welche eine versöhnte Wirklichkeit vorgaukelt. Wie kaum ein Zweiter zeigt er somit schon in der Form, was Adorno einmal sehr treffend formulierte: »La recherche du temps perdu est du temps perdu.« Zu Deutsch: Die Suche nach der verlorenen Zeit ist aus einer verlorenen Zeit.

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