Aus einer verlorenen Zeit (Teil 2)

Zum Werk Michel Houellebecqs

Möchte man sich exemplarisch eine ideologiekritisch angehauchte Missdeutung Houellebecqs vor Augen führen, sei der Verriss des jüngsten Werkes durch Niklaas Machunsky in der Prodomo empfohlen.1 Diesem Versuch, Adornos Ausführungen über Huxley2 im schlimmsten Sinne auf ein anderes Werk »anzuwenden«, liegt die Diagnose zugrunde, es handle sich bei Unterwerfung um einen »Zukunftsroman« oder gar eine Dystopie. Ganz in der Tendenz des sonstigen Feuilletons wird dem Autor eine sich »bereits in früheren Romanen manifestierende Vorliebe für Zukunftsperspektiven«3 attestiert. Auch Thomas Steinfeld, der die Werke als »auf einen mittleren zeitlichen Abstand ausgelegte Utopien« beschreibt, erläutert den »konstruktive(n) Mangel dieses Romans: Er ist ein Zwitter zwischen Satire und Utopie.«4

Ein literarisches Werk in die Nähe der Utopie zu rücken, erscheint schon als Urteil über dieses. Dabei ist die Kategorie des Utopischen einigermaßen schwammig. Eigen ist solchen Werken in einer engeren Bestimmung die Beschreibung einer nichtexistenten Gesellschaft, die ferner durch eine phantasierte Zäsur herbeigeführt wird. Jener Bruch wird in der Darstellung ausgedrückt durch einen Sprung, der sich mittlerweile vom Raum der älteren Werke - »Nicht-Ort« oder einfach Nirgendwo - in die Zeit verlagert hat. Die Romane Houellebecqs zeichnen sich weit weniger durch solche Mittel aus, da schon der Plot immer in der Gegenwart beginnt und von dort in die Zukunft führt. Statt nun permanent von Utopien zu faseln, scheint niemand auf die naheliegende Idee zu kommen, die Werke als Apokalypsen im eschatologischen Sinne zu lesen. Schon die Protagonisten der Möglichkeit einer Insel5, des einzigen Romans, der noch am ehesten zentrale dystopische Momente aufweist, und ihre werkimmanente Organisation (Daniel 1,1-28; Daniel 24, 1-11; Daniel 25, 1-17) verweisen mit aller Deutlichkeit auf das alttestamentarische »Buch Daniel«, in welchem aus einer Ich-Perspektive Endzeitvisionen geschildert werden. Statt einer Vorliebe wäre vielmehr die Notwendigkeit der Zukunftsperspektiven immanent aus dem Werk Houellebecqs zu erläutern. Zentral ist ein durch Technik profanisierter Messianismus. Jene antizipierte »Gestalt, die aussah wie ein Mensch« (Buch Daniel 10,11) entspricht den jeweiligen Neo-Menschen, denn jene Teleologie, aus der Adorno die Tendenzen der Utopie verlängert sah, ist bei Houellebecq eine streng negative: »Um die konkrete Möglichkeit des Glücks realisieren zu können, müsste sich der Mensch vermutlich ändern – physisch ändern.«6 Die Stärke Houellebecqs besteht unter anderem darin, dass das Wissen um die Grenzen der Verwirklichung nie das Motiv der Sehnsucht verdrängt, den Zustand vor dem Sündenfall doch noch zu erreichen, in dem die Arbeit nicht mühsam, die Geburt nicht schmerz- oder schreckhaft und vor allem der Mensch nicht sterblich war. Die Auferstehung der Toten ist jedoch bewusst erkauft mit dem Rückgriff auf die im klassisch-aufklärerischen Glauben an den technischen Fortschritt verfasste Science-Fiction; welche besagt, »dass die Lösung aller Probleme – einschließlich der psychologischen, soziologischen und gemeinhin menschlichen Probleme – nur technischer Art sein könne.«7 Der Wunsch, der nicht im Gedanken oder gar in einer Handlung aufgehen kann, formt aus der verkündeten Apokalypse eine Groteske.

Zugegeben, der Autor ist philosophisch oder intellektuell schwer zu fassen. Indem ihm nun eine Prognose in den Mund gelegt wird, unterstellt man ihm zugleich ein unmittelbares Urteil, dabei trifft für Houellebecq zu, was man sonst kaum sagen darf, so ausgelutscht ist diese Formulierung mittlerweile: Er stellt richtige und wichtige Fragen. Beziehungsweise wirft er sie sogar oftmals nur ganz nebenbei auf. In den Romanen »arbeitet eine Zentrifuge für gebrauchte Ideen.«8 Die Antworten, welche im Werk gegeben oder angedeutet werden, sind Teil der Frage, und entfalten sie und die in ihnen offenbarten Widersprüche erst richtig. Die Lösungen sind Ersatzhandlungen, die nach praktischer Widerlegung verlangen. So sehr die Romane auch von Thesen durchzogen sind, handelt es sich keineswegs um eine essayistische Literatur; vielmehr ist hier die Schwelle zwischen Bildungs- und Schelmenroman nicht mehr vorhanden und die Werke erscheinen als »eine ins Barbarische gewendete Fortsetzung des romantischen Reflexionsromans.«9 Man könnte sagen: Er hat schlichtweg kein Verlangen danach, Recht zu behalten. Die »Linienverlängerungen« in fernere Zeiten sind ihm nicht Mittel, sondern selbst das Thema. Sein detektivischer Positivismus10 ist eine deutliche Reaktionsform auf die Erkenntnis, dass nach einem Wort von Brecht »etwas fehlt«. Wie in den klassischen Detektivromanen Conan Doyles oder Agatha Christies, wo das juristische Urteil nur eine formale Funktion zu haben scheint, so penibel haben die Protagonisten die Beweise zusammengetragen, präsentiert der Autor die Indizien für die Ungerechtigkeit und Falschheit der Welt. Auch hier ist der Leser derjenige, der schließlich zu urteilen hat. Aber Houellebecq fährt mit einem wesentlichen Einspruch auf: Nämlich die konkrete Abschaffung des Todes, welche den Sozialutopien meist ebenso fern lag, wie sie den bürgerlichen Fortschrittsoptimismus überschritt; oder wie Woody Allen sagte: »Ich will nicht durch meine Werke unsterblich werden; ich will unsterblich werden, indem ich nicht sterbe.« Dies unterscheidet ihn auch deutlich von der angestrebten säkularen Ersatzreligion eines Auguste Comte, die nur eine abstrakte »Unsterblichkeit im Gedächtnis der Menschheit«11 forcierte. Im Gegensatz dazu hält Houellebecq ein utopisches Bewusstsein aufrecht, das jedoch keineswegs Endzeitvorstellungen bedient, die auf einer abrupten Katastrophe beruhen, sondern gemäß Walter Benjamin gilt auch bei ihm: Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe. Was ihn deutlich von allen Krisentheoretikern abgrenzt, ist die Erkenntnis, dass nicht der Kapitalismus »leidet« oder »stirbt«, sondern höchstens die Menschheit, weshalb es konsequent erscheint, anstatt sich als Übermensch zu inszenieren, »in Bezug auf die Menschheit den Standpunkt der Bakterien einzunehmen12 um zu ergründen, »ob die Menschheit eine Erfahrung ist, die fortgesetzt zu werden lohnt.« Er trifft sich darin mit Wolfgang Pohrt, der in seinem letzten Werk resigniert feststellt, dass es sein könnte, »dass der Kapitalismus durch seine lang anhaltende Dauer zu einem Wesensmerkmal der Gattung Mensch geworden ist,«13 demnach also nur durch das Ende der Menschheit »überwunden« werden könnte.
Laut Houellebecq habe sich seit der Transzendentalphilosophie Kants eine Regression in der Philosophie vollzogen, die sich seither nicht mehr über die real existierenden Menschen zu erheben vermochte. Die Abkehr von der kantschen Idee der Menschheit steht sinnbildlich für die Trauer, dass diese nicht verwirklicht wurde. Die säkulare Eschatologie Houellebecqs entspricht in ihrer Negativität durchaus dem Reich der Zwecke Kants. Er stellt Kant auf die Füße, indem er die Abhebung von der Natur des Menschen, die Kant idealistisch antizipierte, literarisch in der Biologie umsetzt. Deutlich wie kaum ein zweiter formuliert Houellebecq, dass die Abschaffung des Todes wie auch die des Hungers notwendige und nicht einmal automatisch hinreichende Bedingungen eines glücklichen Lebens sind. So sind die aus Liebesmangel trotzdem unglücklichen Wesen aus der »Möglichkeit einer Insel« immerhin in der Lage, sich durch Photosynthese und Mineralien zu ernähren und beliebig oft klonen zu lassen.

Das Manko utopischer Literatur besteht nun vor allem darin, dass sie (fast) immer auch eine engagierte ist. Umso absurder erscheint es, wenn Machunsky am Beispiel Unterwerfung erläutert, was für ihn »eine der größten Schwächen des Buches« sei: »Houellebecqs Weigerung die Unterdrückung der Frauen, Juden und Andersdenkenden zu explizieren.«14 Solche Aufforderung zum Engagement zielt auf Schocks des Erläuterten und Unmittelbaren, statt jene des Unverständnis; auf Haltung und einen »Primat der Lehre«. Diesem engagierten Charakter des dystopischen Werkes Huxleys galt die Kritik Adornos, wie auch dem Bezug auf ein positives Korrektiv, wovon Houellebecq weit entfernt ist: »Das Ich ist eine unregelmäßig auftretende Neurose, und der Mensch war noch weit davon entfernt, geheilt zu sein.«15

In der Kritik Machunskys zeigt sich die Willkür des Engagements und die Austauschbarkeit der Thesen. Fordern die einen von Houellebecq, er möge den Islam nicht kritisieren, kommt nun ein Anderer daher und fordert eine explizitere Kritik. Selbstverständlich wären hier graduelle Unterschiede zu erwägen, die den einen sympathischer erscheinen lassen als die anderen. Doch im Zugang zum Werk und in der Weigerung, zu erkennen, dass die Wahrheit des Kunstwerkes oftmals im Abwesenden zu suchen ist, gleichen sich solche Haltungen ungemein. Wer Unterwerfung nun als eine dezidierte Kritik des Islams oder Islamismus liest, der er dann ein »mangelhaft« ausstellen zu können meint, verkennt, dass der Roman gerade eine solche Kritik gar nicht abliefert, sondern vielmehr eine jener gesellschaftlichen Kräfte, die solch notwendige Kritik nicht zu üben bereit sind. Kritik,
die einen stärkeren Opferfokus fordert, impliziert, ausschließlich die »Lager-Literatur« hätte das Unwesen des Nationalsozialismus
veranschaulichen können.

Der Fokus von Unterwerfung liegt keineswegs auf der Konversion des Protagonisten im Konjunktiv, sondern vielmehr auf einem einzigen, nämlich dem letzten Satz, der im französischen Original ganz einsam auf der dreihundertsten Seite steht: »Ich hätte nichts zu bereuen.« Jenes konjunktivische Zitat von Edith Piafs Hymne des Postfaschismus und der Kollaboration - »Je ne regrette rien« - meldet große Zweifel an der artikulierten Selbstbeschwichtigung an. Es handelt sich bei diesem Werk um eine nichtmoralisierende Kritik des kollaborierenden Konsens, den er aufkündigt, gerade indem er ihn entfaltet. Es ist daher kein Zufall, dass der Hauptprotagonist François heißt, was schlichtweg (kleiner) Franzose oder besser noch »Franzmann« bedeutet. Aber nicht dessen Konversion steht wirklich zur Debatte, sondern vielmehr das dadurch zu erlangende Glück. Der Versuch zu ergründen, ob muslimische Männer in ganz pragmatischer Hinsicht profitieren, heißt, die Triebkräfte auszuloten, welche dem Islam zugute kommen, indem der verführerische statt der herkömmlich gewalttätige Zwang, also eher das Umwerbende am Befehl, betrachtet wird. Selbstverständlich finden in der Erzählung Gewaltakte statt, sie interessieren den Protagonisten nur nicht und sind deshalb außerhalb der Perspektive. Derart beschreibt der Roman die teilweise durchaus schleichende Reislamisierung in arabischen Ländern und der Türkei, welche eben nicht immer gesamtgesellschaftlich als drastische Zäsuren wahrgenommen werden. Was fiktiv im Frankreich der Zukunft vorgeht, vollzieht sich in der gegenwärtigen islamischen Welt. Die literarische Dystopie der Zeit ist nur das gegenwärtige Grauen, das zum Großteil noch in anderen Teilen der Welt vonstattengeht.

Zu Teil 1

Zu Teil 3

[1] Niklaas Machunsky: Metaphysik des Sexus. Zu Houellebecqs Unterwerfung. Prodomo 19. S. 37-41
[2] Vgl: Adorno: Aldous Huxley und die Utopie. In: Adorno: Gesammelte Schriften. Band 10.1, S. 97-122
[3] Prodomo. S. 38. Hrvh. PG.
[4] Thomas Steinfeld: Das Abendland ist nicht zu retten. Süddeutsche, 7. Januar 2015
[5] Hier wird die erfüllte zeitliche Utopie durch die Suche nach einer Insel rückgeführt, indem die Liebe auf der räumlichen Insel gesucht und das Genre der Utopie derart in sich selbst reflektiert wird.
[6] Plattform. S. 154
[7] Elementarteilchen. S. 347
[8] Thomas Steinfeld: Man muss auf allen Fronten angreifen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.10.1999
[9] Ebd.
[10] Die immense Leidenschaft für Agatha Christie wird in nahezu jedem Werk überaus deutlich kundgetan.
[11] Nach Eric Voegelin: Die neue Wissenschaft der Politik. Eine Einführung. S. 141
[12] Volksfeinde. S. 177
[13] Pohrt: Das allerletzte Gefecht. S. 97
[14] Prodomo. S. 40
[15] Elementarteilchen. S. 261; In selbigem Werk wären übrigens die Ausführungen der Protagonisten über die »Schöne neue Welt« zu beachten, die sich in weiten Teilen mit der Kritik Adornos decken.