Projektionen und Reflexionen

Ein Auszug aus Paulette Genslers balinesischem Tagebuch.

Mittwoch, 25. Januar
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Das Beeindruckendste ist der 700 Jahre alte Banyan-Baum, in dessen Stamm oder eher Krone auch noch ein kleines hölzernes Häuschen eingelassen ist. Die Banyan-Bäume, eine Ficus-Art, sind wahrhaft wunderliche Geschöpfe, die im wahrsten Sinne des Wortes aus der Luft wachsen. Als Samen setzen sie sich oder besser: werden sie mit dem Kot von Vögeln in die Krone eines Baumes gesetzt, der ihnen als Wirt in einer sehr spezifischen Weise dient. Es scheint, als wäre dieser nur der Träger, der den Keimling in luftiger Höhe in seiner Zartheit beschützt, indem er ihn über dem Boden trägt. Der Banyan lässt dann feine schnurartige Wurzeln wachsen, die immer weiter in Richtung Boden ragen. Haben sie diesen schließlich erreicht, werden sie rasch größer und sehr viel stärker. Nun bilden sie um den Wirtsbaum herum zahlreiche Brettwurzeln und Stämme, die den einen Stamm des Banyan bilden, worauf hin der Wirt in der dunklen Umarmung abstirbt, und sich der Banyan selbst trägt. In seinem Inneren bildet sich, nachdem der vormalige, nun tote Träger vermoderte, ein Hohlraum, der sich mit der Zeit immer mehr erweitert, da der Banyan an seinen Außenseiten immer weitere Luftwurzeln bildet, sie, wenn sie den Boden erreichen, nach einiger Zeit die inneren Stämme abtöten. Auf diese Weise wächst der Banyan durchaus auch in die Höhe, vor allem aber nimmt sein Umfang ungeheure Ausmaße an. Seine imposante Erscheinung, durch die sich sein Status auch reell in Richtung Autonomie verlagerte, verschleiert seine »parasitäre« Herkunft komplett. Der Baum erscheint wie eine Allegorie auf die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals beziehungsweise aller versteinerter, verknöcherter Verhältnisse, die der Baum hier als verhölzerte verkörpert. Das zugrundeliegende Verbrechen entschwindet dem Bewusstsein. Die harmlos wirkenden, feinen Fäden, welche allerorts auf der Insel herunterragen und meist von jungen Exemplaren, die noch nicht den Erdboden erreichten, stammen, verlieren latent ihre Unschuld, ohne jedoch ihren Zauber einzubüßen. […] Nachtrag vom 29. Januar; aus Munduk: Diese Bäume lassen mir keine Ruhe. Strenggenommen ist der Banyan gar kein Parasit, sondern ein Epiphyt. Aber auch das entspricht durchaus der »gerechten Ausbeutung«, also der Ausbeutung auf der Grundlage des Äquivalenzprinzips. Die Akkumulation des Raumes verläuft bei diesen Bäumen zwar nicht direkt in der Marxschen Spirale – eh eine Metapher -, sondern in einem echten Kreislauf. Dieser Kreislauf des Baumes besteht im Verhältnis seiner äußeren Reproduktion zu einer inneren Selbstvernichtung, wobei er sich selbst aushöhlt. Nichts geschieht in ihm, nicht einmal er selbst. An ihm hingegen können durchaus andere Pflanzen emporranken, die ihm aber selbst als Parasiten nicht das Geringste anhaben können – sie sind die pflanzlichen Lumpenproletarier. Sie können ihn für uns schmücken oder verschandeln, betreffen ihn aber nur äußerlich oder bleiben ihm wortwörtlich äußerlich. Der Baum hebt sich beziehungsweise seine eigene Grundlage beständig selbst auf. Sein eigener Umfang ist seine Grenze, die er laufend überschreitet. In ihm bleibt nur Schatten. Darüber hinaus oder besser gesagt: deshalb stellt der Baum ein lebendiges Reflexionsangebot für Vertreter zweier nach wie vor recht beliebter Strömungen des Antikapitalismus dar. Mit einer gewissen Übertreibung ließe sich die Lebensweise des Baumes als »imperialistisch« beschreiben – von oben herab »kolonialisiert« der Baum neue Flecken Erde und erweitert sein Reich. Gleichzeitig aber führt er praktisch die Vorstellung des Antiimperialismus ad absurdum. So sehr es in seinem Wesen liegt, sich beständig zu erweitern, in einem immer weiteren Kreis Wasser und Nährstoffe aus dem Boden zu ziehen, scheint es ihm nicht im Geringsten zu schaden, wenn dies einmal nicht möglich sein sollte oder gar gewollt oder ungewollt aktiv verhindert wird. Oftmals nehmen die Luftwurzeln, welche sich direkt über einer Straße niederlassen die Form eines halbrunden Vorhanges an, da die unter ihnen rangierenden Mopeds, Autos und LKWs sie immer wieder abreißen. Derart »gestutzt« warten sie einfach geduldig darauf, dass einmal kein Verkehr mehr sei und sie sich niederlassen können. Allein schon ihr Alter verbürgt eine Ausdauer, mit der zu messen dem Menschen und selbst Kulturen kaum zukommt. An den anderen Seiten breitet der Baum sich munter weiter aus. Doch selbst, wenn er auf allen Seiten in Schach gehalten würde, ginge er nicht einfach ein. Seine Wurzeln und Stämme werden bloß stärker, dicker und fester, die Krone wandert ein Stück weiter in die Höhe. Nicht er selbst wird sich in einer selbstverschuldeten Krise fällen, sondern bloß die Äxte der Menschen. Vor diesen jedoch ist er als Heiligtum geschützt, und bildet das verehrte Zentrum jeden Dorfes. Zu seinen Füßen wird Markt gehalten, und der Name des Baumes selbst stammt von der Kaste der Bania, also der Händler und Geldverleiher.

Im selben Moment zeigt der Banyan den Irrsinn derjenigen auf, die den Kampf in das Herz der Bestie zu tragen gedenken, da der Baum wie die »Bestie« namens Kapital jenes Herz schlichtweg nicht besitzen. Im Vergleich mit einem herkömmlichen Baum, dessen einen Stamm man fällen und den gesamten Baum somit töten kann, besteht das Innere des Banyan nur aus gähnender Leere. In dem Schatten dieser Leere finden einige Menschen Schutz vor Regen und Sonne, also vor den Lebenselixieren des Baumes (körperliche Arbeit und Gewalt), und selbst außer der Stämme, aber noch unter dem Schutze der Krone und ihren Blättern können sich einige Menschen vor jenen Elementen etwas in Sicherheit bringen. Die Masse aber bleibt draußen. Für sie gibt es keinen Platz und so stehen sie in der glühenden Sonne oder im prasselnden Regen, halten den Baum aber nicht weniger für heilig, denn zu verlockend scheint die Aussicht, auch sie könnten einmal in der Umhöhlung ihren Platz finden. Würde der Baum gefällt, es würden schichtweg bloß alle gleich nass oder gebräunt. Also hofft man lieber auf das Wachstum des Baumes, in dessen Zuge der Innenraum immer größer wird und die trügerische Aussicht erhält scheinbar mehr Aussicht auf Verwirklichung. In der Tat können diese Bäume einen ungeheuren Umfang annehmen. Die beachtlichsten Exemplare stehen in Indien, wo der Banyan als Nationalbaum verehrt wird. Einige Bäume bedecken mehrere tausend Quadratmeter. Ein Admiral Alexander des Großen berichtete von einem Baum, der siebentausend Personen Schutz bot. Man vermutet, dass es sich bei diesem um Kabirvad handelt, der mittlerweile einen Durchmesser von 640 Metern und dreitausend Stämme aufweist. Nearchus, der Admiral, lebte vor rund 2300 Jahren. Einige Bäume wirken in der Tat wie ein ganzer Wald. Jene zur Heiligkeit und gewissermaßen zum Fetisch erhobenen Ausmaße scheinen das Bewusstsein zu verhängen, dass die Dörfer schneller wachsen als die Bäume, dass die Heerscharen derer, die außen vor bleiben, schneller zunimmt, als der Umfang des Baumes; dass es demnach sehr viel angebrachter wäre, sich an die Errichtung eines Gewölbes zu machen, unter dem alle Schutz finden. Der Baum wiederum würde, seines praktischen Nutzens beraubt, endlich eine Zwecksmäßigkeit ohne Zweck entfalten können und potenziell als bloß (Natur-)Schönes zu seiner Heiligkeit finden. Die »Aufhebung« des Baumes wäre kein Akt, der bloß einen Fetisch durch einen neuen ersetzte, wie das Fällen der germanisch-heidnischen Donar-Eiche durch den axtschwingenden Missionar Bonifatius, der aus dem Holz der Eiche ein Gebetshaus errichte, und kurz darauf von Heiden erschlagen in Form von Reliquien sogar selbst zu einem wurde; es wäre kein Akt, der alle Schönheit mitauslöscht, sondern es bestünde im Überflüssigwerden des Baumes. Jede Allegorie hat ihre Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen, soll sie nicht als Ganze zunichte gehen. Aber ich kann mir den Gedanken nicht verkneifen, dass jener Baum, der angehimmelt wird, nicht weil, sondern obwohl seine Frucht ungenießbar ist, einen bestimmten Zugang zum Gebrauchswert offenbart, wohingegen im Tabu eine Kuh zu verspeisen sich noch die Möglichkeit artikuliert, dass man sie essen könnte.

Die Feigen sind eine Gattung, welche hunderte Arten umfasst. Mittlerweile wird angenommen, dass die Echte Feige eine der ersten oder sogar die erste von Menschen kultivierte Pflanze ist. Jene Feigenfrucht avancierte mit dem Wein zu den Symbolen des Dionysus und zum Symbol der Sinnlichkeit schlechthin, als das sie noch im biblischen Sündenfall auftaucht, dessen Gegenstand mit großer Wahrscheinlichkeit eher eine Feige als ein Apfel war. Die aufgrund dessen verhängten Strafen von körperlicher Arbeit und schmerzhafter Geburt halten als Strafe die Möglichkeit fest, dass sie überwunden werden könnten.

Eben dies ist doch der Hintergrund, vor dem Marx die britischen Gräuel in Indien als potenziell revolutionäre Tat erkannte. So »dürfen wir doch nicht vergessen, dass diese idyllischen Dorfgemeinschaften, so harmlos sie auch aussehen mögen, seit jeher die feste Grundlage des orientalischen Despotismus gebildet haben, daß sie den menschlichen Geist auf den denkbar engsten Gesichtskreis beschränkten, ihn zum gefügigen Werkzeug des Aberglaubens, zum unterwürfigen Sklaven traditioneller Regeln machten und ihn jeglicher Größe und geschichtlicher Energien beraubten, […]daß sie den Menschen unter das Joch äußerer Umstände zwangen, statt den Menschen zum Beherrscher der Umstände zu erheben, daß sie einen sich naturwüchsig entwickelnden Gesellschaftszu-stand in ein unveränderliches, naturgegebnes Schicksal transformierten und so zu jener tierisch rohen Naturanbetung gelangten, deren Entartung zum Ausdruck kam in der Tatsache, daß der Mensch, der Beherrscher der Natur, vor Hanuman, dem Affen, und Sabbala, der Kuh, andächtig in die Knie sank.« So ließe sich sagen, dass das Idyll der asiatischen Produktionsweise eben als in jenem Baum verkörperter Schutz vor Regen und Sonne auch ein »Schutz« vor dem überbordenden Sinnlichkeitsversprechen der Feige ist, das diese Verhältnisse sprengen könnte. Dem entspricht vor allem der balinesische »Distributionssozialismus«, der die gesellschaftlichen Verhältnisse im Ausgleich halten soll. Von daher wäre vermutlich eher zu sagen, dass sich der Spätkapitalismus in der Mentalität seiner ihm Unterworfenen eben diesem Ideal gefährlich annähert, sei es mit DIY, autarke Gemüseversorgung oder dem Eintritt für Tierrechte. In dem buddhistischen Pali-Kanon dient der Banyan-Baum aufgrund seiner Lebensweise als Metapher für die Triebhaftigkeit des Menschen; was wiederum kaum verwunderlich ist, bei einer Religion, die die Menschen mit den Verhältnissen, in denen sie leben, noch stärker in einen »mittleren Weg« »versöhnte«, als dies Luther jemals gelungen wäre. Dabei scheint es kaum zu stören, dass Buddha sein »Erwachen« unter dem Bodhi-Baum, einer Pappelfeige (ficus religiosa), empfing – ein Baum, der sich von der Banyan-Feige fast nur darin unterscheidet, dass seine Blätter selbst bei nahezu windstillem Wetter in ständiger Bewegung sind, wodurch er als noch wahrhafter belebter Fetisch erscheint. Im Gegensatz zur Echten Feigenfrucht, die der Mensch der Gattung der Feigen abgerungen hat, und die ihn in der Folge an sein eigenes Versprechen erinnern sollte, ist der Banyan eher Allegorie des Wertes, der keinen Gebrauchswert mehr setzt beziehungsweise noch nicht setzte.

Foto: Kiran Gopi